Die dpa schildert die Zustände in Europas überforderten Krankenhäusern:
Die Horrorszenen aus Krankenhäusern in Spanien erschüttern dieser Tage das ganze Land. Patienten, die auf dem kalten Boden liegen und die eigene Jacke als Kopfkissen benutzen. Stöhnende Kranke, oft älteren Jahrgangs, die zusammengepfercht in den Gängen stundenlang leiden, bis sie an der Reihe sind. Erschöpftes Personal, das in den Minipausen in Tränen ausbricht. In Deutschlands Krankenhäusern dagegen ist die Lage derzeit vergleichsweise gut, die Intensivbetten reichen bislang aus. Auch deshalb hat die Bundesrepublik Patienten aus dem zum Teil stark betroffenen europäischen Ausland aufgenommen.
In Spaniens Krankenhäusern richtet die Corona-Pandemie Chaos an. Immer mehr Betroffene und Beobachter betonen: Schuld an den verheerenden Zuständen ist nicht nur das Virus. «Nach jahrelangen Einsparungen ist das spanische Gesundheitssystem am Abgrund», schreibt die Zeitung El Periódico. Der angesehene Politologe Vicenç Navarro klagt: «Neoliberale Politik tötet, sie gehört abgeschafft.» Die Kritik ist in Spanien - zur Zeit das Land mit den meisten festgestellten Infektionsfällen in Europa - besonders laut.
«Die Einsparungen der vergangenen zehn Jahre waren ungeheuerlich», sagt auch Mercedes Romero, Verwaltungsangestellte und Betriebsrätin im Hospital Severo Ochoa in Leganés bei Madrid. Die 49-Jährige hat mit verzweifelten Aufrufen die Öffentlichkeit besonders eindringlich wachgerüttelt. Man erfuhr aus ihrem Munde, dass es in dem angesehenen Haus nicht nur an Masken, Handschuhen und Schutzkleidung mangelte. «Bitte, schickt uns auch Trinkwasser! Unsere Ärzte haben Durst», rief sie in einem Video auf Twitter mit gebrochener Stimme.
Am 31. März erlebte die 190 000-Einwohner-Gemeinde Leganés mit 41 Todesfällen binnen 24 Stunden den bislang schwärzesten Tag. Sonst sterben dort im Schnitt nur zwei, drei Menschen pro Tag. Im Severo Ochoa seien Mitarbeiter an manchen Tagen regelrecht über Leichen gestolpert, man habe nicht gewusst, wohin mit den Toten, berichtete die renommierte Zeitung El País.
Die jüngsten Zahlen machen in Spanien und anderen europäischen Corona-Hotspots zwar etwas Hoffnung. Die Gefahr, dass das gesamte Gesundheitssystem kollabiert, bleibt aber. Mit jedem Tag schwinden die Kräfte des Personals. Ärzte und Pfleger arbeiten schon mal zwei Wochen am Stück, Tausende wurden infiziert. Der Gewerkschaftsdachverband CCOO warnte am Montag, die Lage in den Kliniken sei «am Limit».
Das spanische Gesundheitswesen, das eigentlich einen guten Ruf genießt, ist im Zuge der Eurokrise schwachgespart worden. Das Land hat seitdem knapp elf Prozent seiner Krankenhausbetten verloren. Nach jüngsten Daten des Europäischen Statistikamtes Eurostat hatte man 2008 noch 320 Betten pro 100 000 Einwohner, 2017 waren es nur noch 297. Vor 20 Jahren waren es sogar noch 365. In der EU-Rangliste ist Spanien weit hinten. Ganz vorn: Deutschland mit 800 Betten.
2017 gab Spanien 2371 Euro pro Kopf für die Gesundheitsversorgung aus - 15 Prozent weniger als der EU-Durchschnitt und fast 2000 Euro weniger als Deutschland. Das Virus wirft schonungslos Licht auf den Missstand. Der sozialistische Ministerpräsident Pedro Sánchez versprach mehr Mittel.
Auch in Italien wird heftig über die Sparwut diskutiert. Die Ausgaben für den Gesundheitssektor sanken nach der Finanzkrise und betrugen 2017 nur noch 2483 Euro pro Kopf. «Es wurden verheerende Kürzungen vorgenommen», sagt Guido Marinoni, Präsident des Ärztebundes der besonders betroffenen Stadt Bergamo. Das Krankenhaus Johannes Paul XXIII. zum Beispiel - Symbol für das Sterben Hunderter Menschen in der Region - habe 400 Betten, vor ein paar Jahren seien es noch 1000 gewesen. Auch an Zahl und Ausbildung von Hausärzten sei gespart worden.
Italien hat zudem überdurchschnittlich viele alte Menschen. Die Lebenserwartung ist neben der in Spanien die höchste in Europa. Auch das wirkt sich nun womöglich auf den fatalen Verlauf der Pandemie aus, da das Virus vor allem für Ältere gefährlich ist.
Der britische Gesundheitsdienst NHS gilt seit langem als massiv unterfinanziert. Nach der Krise 2008 schnallte London den Gürtel erheblich enger und reduzierte die jährlichen Budgeterhöhungen um mehr als die Hälfte. Meist im Winter zur Grippezeit häufen sich die Fälle von Patienten, die auf Krankenhausfluren behandelt werden müssen. In den Notaufnahmen musste mehr als ein Viertel der Patienten im vorigen Winter länger als vier Stunden auf eine Behandlung warten.
Einem Bericht der Stiftung Health Foundation zufolge fehlen dem NHS inzwischen mehr als 100 000 Mitarbeiter, darunter 44 000 Pflegerinnen und Pfleger. Der Brexit hat das Problem zusätzlich verschärft. Zahlen des Nursing and Midwifery Council zufolge ging der Zustrom an Pflegekräften aus der EU zwischen 2017 und 2018 um 87 Prozent zurück. Mehrere Tausend NHS-Mitarbeiter vom Kontinent haben Großbritannien seit dem Brexit-Referendum 2016 den Rücken gekehrt.
Bröckelnde Fassaden, Waschbecken ohne Armaturen, abgenutzte Arbeitskleidung: Auch in Ungarn haben viele Krankenhäuser bessere Tage gesehen. 2010, mit dem Machtantritt Viktor Orbans, habe die «hemmungslose und zynische Unterfinanzierung» begonnen, schreibt die oppositionelle Zeitung «Nepszava». Machten die Ausgaben für das Gesundheitswesen 2003 noch 8,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, so lagen diese 2017 bei nur noch 6,8 Prozent. Mit 698 Krankenhausbetten pro 100 000 Einwohner liegt Ungarn zwar in Europa ziemlich weit vorn, aber schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne haben zur Ausdünnung des Personals geführt, das sehr oft ein besseres Leben im Ausland sucht.
Weltweit fehlen nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 5,9 Millionen professionelle Krankenschwestern und Pfleger. Das geht aus einem Bericht der UN-Organisation hervor, der am Dienstag in Genf veröffentlicht wurde. Derzeit arbeiten demnach 27,9 Millionen Menschen in Pflegeberufen, 19,3 Millionen davon sind auch in diesen Berufen ausgebildet worden. Der Mangel an Pflegekräften ist zwischen 2016 und 2018 leicht gesunken. 90 Prozent der Pflegekräfte sind laut dem Bericht weiblich. Die WHO kritisiert zudem, dass einige Länder im Pflegebereich "blind auf Migration vertrauen". Die Organisation fordert daher, dass sich alle Länder um die eigene Ausbildung von genügend Pflegepersonal kümmern und dafür auch mehr Geld in die Hand nehmen sollten.
"Engpässe beim Pflegepersonal kosten Leben", sagte Howard Catton, Geschäftsführer des Weltbundes für Krankenschwestern und Krankenpfleger, zum WHO-Bericht. "Die Sterberaten sind überall da höher, wo es zu wenig Krankenschwestern und Pfleger gibt." Die Länder sollten daher auch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen für diese Berufsgruppe ernster nehmen. "Die Krankenschwestern und Pfleger auf der ganzen Welt brauchen eine Verbesserung bei der Bezahlung", erklärte Catton.