Mindestens 76 europäische Investmentfonds haben im März Rücknahmen ausgesetzt. Grund war der starke Andrang von Anlegern, die wegen der Volatilität auf den Finanzmärkten infolge von Corona Anteile abstoßen wollten. Diese 76 Fonds hatten laut einem Bericht der Ratingagentur Fitch ein verwaltetes Vermögen von insgesamt rund 40 Milliarden Dollar.
Eine so hohe Zahl von Investmentfonds, die auf Auszahlungsstopps (engl. Gatings) zurückgreifen müssen, ist äußerst ungewöhnlich. Und das wahre Ausmaß ist wahrscheinlich noch deutlich größer, da die Offenlegung durch die Fonds nur in begrenztem Umfang erfolgt. So hat die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde mitgeteilt, dass im März Fonds mit einem verwalteten Vermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro abgeschottet wurden oder andere außerordentliche Liquiditätsmaßnahmen ergriffen haben.
Die überwiegende Mehrheit der Auszahlungsstopps wurde laut Fitch durch "Probleme bei der Preisfestsetzung für die zugrunde liegenden Wertpapiere" in den verschiedenen Anlageklassen verursacht. In einem Fall wurde habe sogar ein börsengehandelter Fonds den Handel "aufgrund von Preisproblemen" ausgesetzt. Mehrere Fonds seien inzwischen wieder geöffnet worden, doch andere müssten liquidiert werden.
Fitch sagt, dass die Zahl der Fonds mit Ausszahlungsstopps im vergleichbar Beispiele war mit den Zahlen während der Finanzkrise 2008 und nach der Brexit-Abstimmung im Jahr 2016. Allerdings wurden nach der Brexit-Abstimmung nur sechs Fonds für gewerbliche Immobilien geschlossen.
Allein im März waren es nun bisher 15 britische Fonds für gewerbliche Immobilien, die keine Auszahlungen an Anleger mehr vornehmen. Zusammengenommen machen diese 15 Fonds etwa zwei Drittel des gesamten verwalteten Vermögens in der offenen Immobilienfonds in Großbritannien aus, wie der Finanzblog Wolf Street berichtet.
Fast zwei Drittel der betroffenen Fonds (53) wurden in Dänemark verwaltet, 15 im Vereinigten Königreich, fünf in Schweden und jeweils einer in in Finnland, Norwegen und Frankreich. Das Übergewicht der skandinavischen Länder könnte laut Fitch auf die höheren Offenlegungsstandards in der Region zurückzuführen sein. Das heißt, auch bei den Fonds in anderen Teilen Europas gibt es möglicherweise wachsende Probleme, die nur noch nicht bekannt gegeben wurden.
Der Ort, wo ein Fonds verwaltet wird, ist oft nicht identisch mit dem Ort, wo der Fonds ansässig ist. Unter den von Fitch identifizierten Fonds mit Auszahlungsstopps ist fast die Hälfte in Luxemburg ansässig (36 von 76), was die dominierende Stellung des Landes als Standort für Investmentfonds zeigt. Es folgen die Standorte Großbritannien (17), Dänemark (16), Schweden (5), Finnland (1) und Norwegen (1).
Von den Problemen sind Fonds mit ganz verschiedenen Vermögenswerten betroffen. So sind 15 Fonds mit einem verwalteten Vermögen von insgesamt 26 Milliarden Dollar in gewerbliche Immobilien investiert, alle 15 haben ihren Sitz im Vereinigten Königreich. Weitere 30 Fonds mit 11,4 Milliarden Dollar an verwaltetem Vermögen investieren in festverzinsliche Wertpapiere. Die 23 betroffenen Aktienfonds verwalten insgesamt 1,5 Milliarden Dollar und die 5 Mischfonds zusammen rund 2 Milliarden Dollar
Europas Investmentfonds fehlt Liquidität
Als offizieller Grund für die Abschottung dieser Fonds wird angeführt, dass es angesichts des Marktchaos derzeit nicht möglich sei, das Immobilienvermögen der Fonds genau zu bewerten. Doch in Wirklichkeit leiden viele der Fonds wahrscheinlich auch unter Liquiditätsproblemen, nachdem sie erhebliche Abflüsse von Investorengeldern zu verzeichnen hatten.
Fitch räumt dies indirekt selbst ein, wenn die Agentur schreibt: "Wir sind der Meinung, dass selbst wenn die täglich handelnden Fonds, die vor kurzem Auszahlungen gestoppt haben, Bewertungsprobleme hätten vermeiden können, hätten sie trotzdem Auszahlungen stoppen müssen, um einen Anstieg der Abflüsse zu verhindern."
Ein plötzlicher Anstieg der Abflüsse kann für einen offenen Investmentfonds, insbesondere einen mit illiquiden Vermögenswerten, fatal sein. Denn wenn Anleger ihr Geld abziehen, so muss der Fonds seine verbleibenden Barmittel aufbrauchen und schließlich Vermögenswerte aus dem Portfolio verkaufen, um Geld für die Auszahlungen zu beschaffen. Bei gewerblichen Immobilien kann es Monate oder sogar länger dauern.
Einem Fonds kann auf diese Weise schnell das Geld ausgehen und er hat keine andere Wahl, als seine Türen zu schließen, sodass die Anleger möglicherweise schwere Verluste hinnehmen müssen. So erging es den Anlegern des 2,5 Milliarden Pfund schweren Fonds von M&G Investments, der im Dezember 2019 geschlossen wurde, nachdem er "ungewöhnlich hohe und anhaltende Abflüsse" gemeldet hatte.
Dass Fitch und andere Branchenteilnehmer es in der aktuellen Situation vermeiden von "Mittelabflüssen" oder von "Liquiditätsproblemen" zu sprechen hat wohl auch den Grund, dass man eine Panik vermeiden will. Denn in Europa haben derzeit praktisch alle Investmentfonds illiquide Assets, während sie ihren Anlegern tägliche Liquidität mit einer Abwicklung innerhalb von zwei oder drei Tagen versprochen haben.
Laut Fitch stellen die jüngsten Probleme der offenen Investmentfonds in Europa "keine unmittelbare Bedrohung für das Finanzsystem im weiteren Sinne" dar. Denn das Volumen der betroffenen Fonds ist im Vergleich zum gesamten verwalteten Vermögen der europäischen Investmentfonds (rund 16 Billionen Euro Stand Ende letzten Jahres) äußerst gering.
Allerdings räumt Fitch ein, dass "die Vernetzung des Finanzsystems bedeutet, dass sich die Fondsgatings ausbreiten können, was zu einem Ansteckungsrisiko führt". Auch der finanzpolitische Ausschusses der Bank von England warnte kürzlich, dass mangelnde Liquidität offener Investmentfonds "einen Anreiz für Anleger schaffen kann, Rückzahlungen vorzunehmen, wenn sie erwarten, dass andere dies tun". Wenn sich diese Dynamik ausbreite, könne sie "zu einem systemischen Problem werden"