Wirtschaft

Das Ende des Wachstums, Teil eins: Wie sich der Westen auf dem Weg in die Staatswirtschaft befindet

Der Westen steht vor einer Periode schwachen oder völlig ausbleibenden Wachstums, wie die einflussreiche Ökonomin Dambisa Moyo analysiert.
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05.09.2020 16:32
Aktualisiert: 05.09.2020 16:32
Lesezeit: 4 min
Das Ende des Wachstums, Teil eins: Wie sich der Westen auf dem Weg in die Staatswirtschaft befindet
Karl Marx: Von der Umsetzung seiner Theorien sind die Gesellschaften des Westens noch weit entfernt. Aber sie treten derzeit in eine Phase von mehr Staat und weniger Marktwirtschaft ein. (Foto: dpa) Foto: Sebastian Kahnert

Angesichts des globalen Ringens mit der COVID-19-Pandemie und ihren wirtschaftlichen Folgen ist es Zeit, über die potenziellen Hürden für das weltweite Wachstum in der postpandemischen Ära nachzudenken. Die Regierungen haben infolge der Krise eine viel größere Rolle übernommen, und es wird Aufgabe des Staates sein, die Volkswirtschaft in Richtung Erholung zu lenken, da der Beitrag des privaten Sektors zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) schrumpfen wird.

Zugleich werden wichtige Branchen, in denen es zu einer verstärkten Konzentration gekommen ist – insbesondere im Technologiesektor –, zunehmend unter Regulierungsdruck geraten, der potenziell zu Aufspaltungen führen könnte. Der allgemeine Trend in Richtung De-Globalisierung wird sich beschleunigen und Handel, Kapitalflüsse, Einwanderung sowie die Verbreitung von Ideen untergraben. Die multilateralen Institutionen, die die Weltwirtschaft 75 Jahre lang reguliert haben, werden dabei weiter beiseitegeschoben werden.Vor diesem Hintergrund werden sich in den vor uns liegenden Monaten und Jahren fünf wichtige Wachstumsbarrieren auftun.

1. Staatsverschuldung

Erstens werden die staatlichen Haushalte noch weiter aufgebläht, als sie es jetzt schon sind, und die Verschuldung sowie die Defizite der Staaten werden weiter steigen. Anfang 2020 betrug die weltweite Gesamtverschuldung (Staaten, Unternehmen, Haushalte) bereits 322 Prozent vom weltweiten BIP – ein neuer Meilenstein.

Der Internationale Währungsfonds warnt, dass die weltweite Verschuldung vieler Staaten 100 Prozent ihres BIP übersteigen und für die nächsten beiden Jahre oberhalb dieser Schwelle verharren wird. Wichtige Volkswirtschaften wie Großbritannien und die USA haben diesen Wert aufgrund ihrer umfangreichen und kostspieligen Reaktion auf die COVID-19-Krise bereits überschritten.Für die USA kommt dieser Meilenstein ein Jahrzehnt nach der Warnung des Congressional Budget Office (Haushaltsamt des Kongresses), dass steigende Haushaltsdefizite und der Anstieg der Staatsverschuldung in den USA Sozialleistungen wie die Sozialversicherung, Medicare und Medicaid schon 2030 unbezahlbar machen würden. Anders ausgedrückt: Amerikas sich anbahnende Haushaltskrise wurzelt in Jahrzehnten verschwenderischer Ausgabenpolitik und nicht bloß in den Konjunktur- und Unterstützungsmaßnahmen der vergangenen Monate.

Und die USA sind kein Einzelfall. 2012 warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor den Ausmaßen des europäischen Wohlfahrtssystems und verwies darauf, dass auf den Kontinent rund sieben Prozent der Weltbevölkerung und 25 Prozent des globalen BIP, aber 50 Prozent der weltweiten Sozialleistungen entfielen. Europas Sozialprogramme und Staatsausgaben sind seitdem weiter gewachsen. 2018 entfielen auf die USA und die EU zusammen zwölf Prozent der Weltbevölkerung und die Hälfte vom globalen BIP, aber 90 Prozent der weltweiten Sozialleistungen, die teilweise durch immer weniger tragbare staatliche Schuldenstände finanziert werden.

Diese defizitfinanzierten Ausgaben werden das Wirtschaftswachstum zunehmend bremsen, insbesondere, da nun dieselben Regierungen enorme zusätzliche Schuldenberge anhäufen, um dem pandemiebedingten steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu begegnen. Die aus der Krise resultierenden Schulden werden die Weltwirtschaft noch auf Jahre hinaus belasten.

2. Immer mehr staatliche Eingriffe

Die zweite potenzielle Barriere ist die zunehmende Rolle des Staates innerhalb der Volkswirtschaft. Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 verfolgen die Regierungen immer stärker eine Wirtschaftspolitik, die weit über herkömmliche fiskalische Impulse hinausgeht. In ähnlicher Weise verfolgen die Notenbanken nach wie vor eine außergewöhnlich lockere Geldpolitik; sie haben die Leitzinsen auf oder sogar unter null gesenkt und Programme zu Ankauf von Wertpapieren und andere beispiellos aggressive Maßnahmen eingeleitet, um Liquidität aufrechtzuerhalten.

In Reaktion auf den Crash von 2008 und die COVID-19-Krise haben die Regierungen hastige Schritte zur Rettung von Branchen wie Fluglinien, Kreuzfahrtanbietern und Banken eingeleitet. Sie haben sich nicht bloß zu Kreditgebern letzter Instanz entwickelt – wobei sie sogar so weit gehen, Unternehmensanleihen aufzukaufen –, sondern durch Kurzarbeit und Zwangsbeurlaubungen auch de jure zu Arbeitgebern letzter Instanz. Laut der Ratingagentur Fitch erreichte die direkte fiskalische Unterstützung in den USA Anfang Juli 11,5 Prozent vom BIP.

Darüber hinaus legen weitere strukturelle Faktoren nahe, dass der wirtschaftliche Fußabdruck des Staates weiter wachsen wird. Zusätzlich zum sich abschwächenden Wirtschaftswachstum sehen sich Länder überall auf der Welt infolge der Krise mit massiver Arbeitslosigkeit konfrontiert. Wenn die Erholung kommt, wird sie vermutlich stark durch die Technologie angetrieben werden. Dies erhöht die Aussicht auf eine arbeitsplatzvernichtende Automatisierung und die Schaffung einer neuen Unterschicht von Arbeitslosen, eines Prekariats.

Insofern werden viele der derzeitigen Arbeitsplatzverluste nicht bloß vorübergehender Art sein. Vielmehr werden sie den Strukturwandel hin zu einer stärker automatisierten, digitalisierten, kleineren Erwerbsbevölkerung und mehr Langzeitarbeitslosigkeit beschleunigen.

Verschlimmert wird die Situation noch dadurch, dass durch die heutigen Verwerfungen in der Weltwirtschaft weniger Investitionskapital im privaten Sektor zur Verfügung steht. Mit allmählicher Ausweitung der traditionellen Rolle des Staates über die Bereitstellung öffentlicher Güter, die Regulierung der Wirtschaft und zeitweise Eingriffe im Falle von Marktversagen hinaus werden sich die Regierungen bei der Allokation zentraler Produktionsfaktoren einschließlich von Kapital und Arbeitskräften zu zunehmend mächtigeren Schiedsrichtern entwickeln.

Während die vorherrschenden wirtschaftlichen Sorgen während der Pandemie auf die Notwendigkeit zusätzlicher staatlicher Unterstützung verweisen, bei der sich die Regierungen zu Kreditgebern und Arbeitgebern letzter Instanz entwickeln, werden hohe Arbeitslosigkeit und niedriges Wachstum einen Kurswechsel zusätzlich erschweren. Die enorme Ausweitung des Staates wird zum Dauerzustand werden.

3. Rückgang der Privatwirtschaft

Drittens geht mit der rapiden Ausweitung des Staates ein schrumpfender privater Sektor einher. Schon vor der Pandemie gab es Befürchtungen, dass der Beitrag des privaten Sektors zum BIP weltweit im Abnehmen begriffen sei. So schrumpfte etwa in Großbritannien die Wirtschaftsleistung des privaten Sektors bis September 2019 in vier aufeinander folgenden Quartalen. Dies stellt die schlechteste Entwicklung der britischen Unternehmen in mehr als 25 Jahren dar. Und selbst als die saisonal bereinigte annualisierte BIP-Wachstumsrate Großbritanniens im September 2019 um 1,8 Prozent anstieg, fiel die Wirtschaftsleistung des privaten Sektors um 0,8 Prozent.

Allgemeiner gibt es heute weniger börsennotierte Unternehmen als noch vor 20 Jahren. Die Zahl der Notierungen im Wilshire 5000, der häufig als Benchmark für den US-Aktienmarkt genutzt wird, ist seit 1998 um mehr als die Hälfte von 7.562 auf nur noch 3.451 gesunken (Stand: Juni 2020).

Es gibt eine Menge Gründe für diesen Trend. Viele Unternehmen wollen den zunehmenden Prüf- und Transparenz-Anforderungen der Märkte und Regulierungsbehörden ausweichen, und viele andere haben sich von vornherein gegen eine Börsennotierung entschieden. Doch spiegelt der Trend zugleich die Konsolidierung in vielen wichtigen Branchen wider (aufgekaufte Unternehmen sind nicht länger an den Börsen notiert).

Lesen Sie morgen:

  • Wie der Staat Oligopole und Monopole schafft - obwohl er das Gegenteil will
  • Wie der Nationalstaat die internationalen Organisationen ersetzt
  • Wie das Internet in zwei Teile zerfällt

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Dambisa Moyo hat in Oxford promoviert und mehrere Bestseller verfasst, unter anderem: „Am Rande des Chaos: Warum es in der Demokratie kein Wachstum gibt – und was man dagegen tun kann.“ Im Jahr 2009 nahm das Time Magazine die Ökonomin in seine jährlich erscheinende Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt auf.

Copyright: Project Syndicate, 2020.

www.project-syndicate.org

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