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Poseidons verdrecktes Paradies: Die Tragik eines rechtsfreien Raums

Lesezeit: 7 min
27.09.2020 08:05
Diese Woche befasst sich Ronald Barazon mit der Verschmutzung der Weltmeere. Ein eindrucksvoller Essay: Tiefgehende Analyse und flammende Streitschrift zugleich.
Poseidons verdrecktes Paradies: Die Tragik eines rechtsfreien Raums
Eine Plastiktüte nahe eines Riffes. (Foto: dpa)

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Die Schreckensmeldungen überschlagen sich, eine Horror-Dokumentation folgt der anderen, mit jeder neuen Statistik nimmt das Drama zu: Die See ist eine Kloake, die Weltmeere ersticken im Müll, Vögel und Fische und Vögel sterben am Gift, das über die Nahrungskette wiederum bei den Menschen landet. Und was ist die Reaktion darauf? Man veranstaltet Kongresse mit dramatischen Appellen, vereinbart internationale Abkommen, beschließt auf nationaler und EU-Ebene irgendwelche Vorschriften und Gesetze, die sich im Endeffekt jedoch allesamt als zahnlos, weil nicht durchsetzbar, erweisen. Warum herrscht diese Hilflosigkeit? Weil das Meer fern von der Küste ein rechtsfreier Raum ist, die Küstenländer ihre vorgelagerten Zonen verteidigen, aber nicht pflegen, und die Binnenländer keinen Bezug zum Meer haben. Berührend ist dabei, dass immer mehr Menschen an die Strände kommen, um den angeschwemmten Müll aufzusammeln und zu entfernen. Ein großartiges Engagement - mit den bloßen Händen ist das Problem jedoch nicht zu lösen. Vielmehr sind jetzt die großen internationalen Einrichtungen gefordert, die UNO, die G7, die G20, die Weltbank, die EU oder wie die vermeintlichen Lenker der Welt alle heißen mögen: Sie müssen jetzt diejenigen 70 Prozent der Erdoberfläche retten, die für das gesamte Leben auf diesem Planeten so unendlich wichtig sind.

Für das „Hohe Meer“ ist niemand zuständig: Ein nahezu rechtsfreier Raum

Die erste Frage, die sich stellt, lautet: Wer ist für die Meere eigentlich zuständig? Schon bei diesem zentralen Thema herrscht Verwirrung. Unterschieden wird stets zwischen dem Küstenbereich, der rechtlich als Verlängerung des Festlandes gilt, und dem weiten oder „Hohen Meer“. Die Breite der nationalen Gewässer von der Küste weg ist aber nicht eindeutig. Lange galt die Drei-Meilen-Zone – also eine Strecke von 5,556 Kilometer – als Maß, dann kam Kritik an dieser Regelung auf. In Verhandlungen, die sich über Jahrzehnte hinzogen, konnte man sich jedoch nicht auf ein neues Maß einigen. Derzeit gilt das „Seerechtsübereinkommen“ der UNO aus dem Jahr 1982, das in weichen Formulierungen besagt, dass ein Küstenland bis zu zwölf Seemeilen, also 22 Kilometer, beanspruchen kann. An diese zwölf Meilen schließen sich rechtlich nicht sehr klar definierte weitere Zonen an, sodass irgendwie, aber eigentlich auch nicht, bis zu 200 Seemeilen dem Küstenland zugeordnet werden können. Erst dahinter beginnt, unabhängig von dem Wust aus Kompromissformeln, eindeutig die „Hohe See“.

Die Küstenländer sollten das Meer vor ihrer Haustüre sauber halten. Sollten ...

Man könnte meinen, dass die Küstenländer zumindest in der Drei- oder der Zwölf-Meilen-Zone für Sauberkeit sorgen müssten. Das tun sie aber nicht. In dieser Zone gelten die nationalen Gesetze, und wenn diese den Staat nicht zur Reinhaltung des Wassers zwingen, dann sammelt sich eben im Wasser selbst, auf dem Meeresgrund und am Strand beziehungsweise dem Ufer Müll an, insbesondere solcher aus Plastik. Das gilt nicht nur für die viel kritisierten afrikanischen und asiatischen Staaten – auch Deutschland schafft es nicht, die Nord- und Ostsee rein zu halten.

Wie immer geht es um die Frage nach den Schuldigen. Warum sollen Küstenländer den gigantischen Säuberungs-Aufwand finanzieren, wenn doch der Unrat von Umweltsündern kommt, die auf Hoher See agieren? Diese Argumentation ist jedoch nur zum Teil berechtigt, weil ein großer Teil der Meeresverschmutzung aus den Abfällen besteht, die die Flüsse in die Ozeane schwemmen. Und nicht nur der größte Müllbringer der Welt, der Jangtsekiang in China, auch der Rhein und die Donau transportieren beachtliche Mengen an Abfall. Und vor allem: Was bringt es, sich stur zu stellen, wenn dadurch das Meer zugrunde geht?

Unter der Flagge eines nicht sehr strengen Staates lässt es sich gut segeln

Doch zuerst zur Hohen See, dem rechtsfreien Raum. Und dieser ist nicht klein, im Gegenteil: Etwa 70 Prozent der Erdoberfläche entfallen auf die Meere. Der Pazifische Ozean, die Region mit den größten Müllablagerungen, nimmt fast die Hälfte der gesamten Wasseroberfläche der Erde ein (und fast exakt ein Drittel der gesamten Erdoberfläche), der Atlantische Ozean und der Indische Ozean folgen mit Anteilen von 23 und 20 Prozent.

Schiffe, die in diesen riesigen Regionen unterwegs sind, unterliegen der Rechtsordnung ihrer Heimatländer und sollten die Umwelt schonen; das heißt Abfälle, die auf der Fahrt entstehen, sammeln und bei der Rückkehr im Hafen ordnungsgemäß entsorgen. Da jedoch schon die Heimatländer sich nicht sehr eifrig um ihre Küstenzonen bemühen, ist auch auf Hoher See kein besonderer Umwelteifer zu erwarten. Doch damit nicht genug: Jedes Schiff kann unter der Flagge eines beliebigen Landes unterwegs sein und unterliegt dann den jeweiligen nationalen Bedingungen (die häufig sehr großzügig sind). Einige Staaten haben gesetzliche Regelungen, die alle Freiheiten ermöglichen. Man darf sich also nicht wundern, dass die größten Handelsflotten unter den Fahnen von Panama, Liberia, Hongkong, Singapur und den winzigen Marshall Inseln segeln. Selbst Binnenstaaten vergeben nationale Embleme, beispielsweise die Mongolei – weiter entfernt vom Meer liegt kaum ein anderes Land.

Wer auf „Hoher See“ Müll entsorgt, muss sich nicht vor der Polizei fürchten: Es gibt nämlich keine!

Auf Hoher See geht es nicht nur um Abfälle, wie sie üblicherweise auf einem Schiff anfallen. Nicht selten erfolgt auch die Entsorgung von Müll, den – vor allem entwickelte – Staaten „exportieren“ und viel Geld dafür bezahlen, dass andere sich um den Abfall kümmern und sie selbst sich jeder Verantwortung entziehen können. Nun sollte man meinen, dass auf der Basis des bereits weiter oben erwähnten Seerechtsübereinkommens der UNO eine Rechtsordnung gegeben sei, die hier Abhilfe schaffen könne. Weit gefehlt. Es gibt tatsächlich den „Internationalen Seegerichtshof“ mit Sitz in Hamburg. Diese Einrichtung ist aber nur zuständig für Streitigkeiten in Seerechtsfragen zwischen Staaten oder auch zwischen Privatparteien. Die kriminelle Müllentsorgung in einem Ozean wird vor diesem Gericht nicht verhandelt.

Es gibt noch eine weitere Einrichtung der UNO, von der man erwarten könnte, dass sie sich um den Zustand der Meere zu kümmern hätte: Die „Internationale Meeresbodenbehörde“, die auf Jamaika in Kingston ihren Sitz hat. Sie ist allerdings nicht für den Umweltschutz, sondern nur für die „Verwaltung der Bodenschätze in der Tiefsee“ zuständig. Das Ziel der 1994 gegründeten Behörde war die Vergabe von Rechten zur Erkundung und Ausbeutung von Bodenschätzen im Meer, doch führt die Institution ein Schattendasein.

Schließlich unterhält die UNO auch noch eine „Abteilung für ozeanische Belange and Seerecht”, die zu den verschiedensten Themen Erklärungen abgibt, auch immer wieder anmerkt, dass die Meere reingehalten werden sollten, aber weiter nichts bewirkt.

Das „gemeinsame Erbe der Menschheit“: Doch die gemeinsame Verantwortung wird abgelehnt

Wenn auch die UNO bei der Verwaltung der Ozeane nur eine marginale Rolle spielt, so ist doch in vielen ihrer Deklarationen ein wesentliches Element enthalten: Das Meer wird als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ bezeichnet. Dieser Ansatz würde die Grundlage für eine internationale Rechtsordnung schaffen, die von allen Staaten gemeinsam zu tragen wäre. Man hätte also eine Institution, die verhindern könnte, dass auf „Hoher See“ alle nach Belieben agieren können. Darüber hinaus wären auch Konventionen mit einheitlichen Regeln für die Küstenzonen hilfreich: Nicht zuletzt wäre ein Anspruch der Binnenstaaten auf einen rechtlich eindeutig geklärten Zugang zum Meer erforderlich.

Bei der Lektüre dieser Zeilen wird wohl allen klar: Das sind Illusionen. Es gibt auf dieser unserer Erde 195 Staaten, die schon bei kleineren Fragen keine Einigung finden können. Auch versuchen die Küstenstaaten ständig, ihr Einflussgebiet weit hinaus ins Meer auszudehnen und lehnen jede Einschränkung ab. Solange es aber kein tatsächlich durchsetzbares „Umwelt-Recht für die See“ mit entsprechenden Behörden gibt, die dieses Recht durchsetzen, wird sich am Zustand der See nichts ändern und wird die riesige Menge an Müll weiter wachsen.

Zehn lange Flüsse, die durch viele Länder fließen, verursachen den größten Schmutz. Vor allem in Asien

Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung nennt in einer Studie aus dem Jahr 2017 die Flüsse mit der größten Müllschüttung in die Ozeane:

  • Jangtse, Gelber Fluss, Perlfluss und Hai He: China
  • Ganges, Indus: Indien
  • Mekong: sechs südostasiatische Staaten
  • Nil: zwölf afrikanische Staaten
  • Niger: fünf afrikanische Staaten
  • Amur (in China Heilong Jiang): Russland und China

Die größte Belastung der Meere entsteht demnach durch zehn Flüsse, die durch zahlreiche Länder fließen. Jeder einzelne dieser Staaten müsste verpflichtet werden, dafür zu sorgen, dass die Ströme sauber in ihren Delta-Zonen ankommen.

Es gibt allerdings keinen Druck auf diese Länder. Das Land, das die größten Schäden anrichtet, ist China, das zudem als Großinvestor auch in Afrika eine entscheidende Rolle spielt. Doch in diesem Zusammenhang, wie in allen anderen Bereichen, erweist sich der Westen als ohnmächtig:

  • Er betreibt eifrig Handel mit dem Reich der Mitte.
  • Er unterhält auf seinem Staatsgebiet gigantische Industrien, die Chinas Position als neue Weltwirtschaftsmacht stützen.
  • Er sieht tatenlos zu, wie China eine Firma nach der anderen im Westen aufkauft, aber die Übernahme von chinesischen Unternehmen durch westliche Investoren streng kontrolliert und beschränkt.
  • Er sieht genauso tatenlos wie, wie China Afrika zur Kolonie macht.

Kurzum: Der Westen wehrt sich nicht gegen Chinas rücksichtslose Politik. Auch Präsident Trumps Attacken gegen die Volksrepublik ändern wenig. Und so nimmt der Westen dann auch hilflos zur Kenntnis, dass die Volksrepublik – neben anderen Umweltsünden – die Ruinierung der Meere betreibt.

Die europäische Umweltpolitik beruht auf einer Theorie, die nur bedingt stimmt

In Europa verfolgt man eine geradezu skurrile Umweltpolitik. Man weiß, dass der Großteil des Mülls in den Ozeanen aus Plastik besteht, und so wird eine immer schärfere Kampagne gegen Plastik geführt. Mit mehr oder weniger Erfolg versucht man durch Gesetze und Verordnungen auf nationaler und EU-Ebene Plastiktüten, Plastikflaschen, Wattestäbchen, Campingbesteck und Strohhalme zu verbannen. Damit, so meint man, werde man zumindest einen europäischen Beitrag zur Schonung der Meere leisten. Übersehen wird dabei, dass, selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintritt, dass diese Produkte tatsächlich verschwinden, andere Produkte an ihre Stelle treten werden und unweigerlich auch im Müll landen müssen.

Der Krieg gegen Plastik beruht auf der Illusion, dass man eine so genannte „Kreislaufwirtschaft“ verwirklichen könnte. Dieses Modell ist in bestimmten Bereichen ohne jeden Zweifel erfolgreich, doch was bei beispielsweise Papier funktioniert (Altpapier wird recycelt und wiederverwertet), ist nicht überall möglich. Auch darf man sich nicht der Illusion hingeben, dass die wertvolle Kompostierung, die aus Bio-Abfall Dünger und Humus macht, zum Universalprinzip des Lebens werden kann. Das wollen die Anhänger der Kreislaufwirtschaft nicht wahrhaben. Eine Tatsache ist nun mal nicht überwindbar: Bei jeder Tätigkeit der Menschen kommt es zu Abfällen, von denen einige nicht wiederverwertbar sind. Somit ist die Müllentsorgung eine unverzichtbare Notwendigkeit, auch wenn selbstverständlich jede nur mögliche Müllverwertung genützt werden sollte.

Statt eine grüne Planwirtschaft zu versuchten, sollte man Müllanlagen bauen

Aktuell startet auf europäischer Ebene die Umsetzung des von der Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, ausgerufenen „Green Deal“. Dieser zielt leider vor allem darauf ab, dass die EU-Bürokratie in Brüssel mit wirtschaftslenkenden Maßnahmen die Unternehmen europaweit zur „Nachhaltigkeit“ erziehen soll. Zwar weiß bisher niemand genau, was mit nachhaltig im Rahmen des „Green Deal“ gemeint ist oder gar was tatsächlich nachhaltig ist (entsprechende Anfragen bei der Kommission werden mit vagen Parolen beantwortet), aber man entwickelt durchaus wirksame Praktiken, um die Betriebe unter Druck zu setzen. Das Studium der jämmerlichen Ergebnisse der „planification“ im Nachkriegs-Frankreich oder der Planwirtschaft in Russland und in der DDR während der Sowjet-Zeit sei dringend empfohlen.

Die Dinge sind oft einfacher, als man glaubt: Europa hat grundsätzlich eine durchaus brauchbare Müllwirtschaft. Die Errichtung von zusätzlichen leistungsfähigen Anlagen, die den Müll von den Flüssen nach Möglichkeit abhalten und den trotzdem in den Gewässern landenden Abfall absaugen, wäre hilfreich und würde zudem für Investitionen sorgen, die die derzeit unter den Folgen der Corona-Krise leidende Wirtschaft beleben könnten.

Und als flankierende Maßnahme würde sich eine Botschaft an China empfehlen: Bevor der Yangtse nicht sauber ist, fließt kein Euro mehr nach Peking oder Shanghai. Womit dieser Bericht mit einer weiteren Illusion schließt …

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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