Die Widersprüche im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie nehmen nicht ab. In Weißrussland finden seit geraumer Zeit Proteste gegen Machthaber Alexander Lukaschenko statt. Menschen laufen dicht zusammengedrängt durch die Straßen von Minsk, um den Rücktritt von Lukaschenko, dem Wahlfälschung vorgeworfen wird, zu erzwingen.
Die Menschen tragen keine Corona-Masken und halten nicht die Abstandsregeln ein (wobei anzumerken ist, dass die Regierung in Minsk sich immer dagegen verwahrt hat, Corona-Maßnahmen einzuführen).
Trotzdem ist die Haltung der EU-Regierungen und Politiker widersprüchlich. Wenn wir in Zeiten einer tödlichen Jahrhundert-Pandemie leben, wie dies immer wieder behauptet wird, müsste die EU doch darauf pochen, dass die Demonstranten in Weißrussland, die für Freiheit und Demokratie auf die Straßen gehen, sich schützen. Oder macht das Corona-Virus vor den Grenzen Weißrusslands Halt?
Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron will einen friedlichen Machtwechsel in Weißrussland voranbringen. „Wir erkennen die Wahl des Präsidenten Lukaschenko nicht an“, sagte Macron mit Blick auf den Machthaber in Minsk. Er ermutigt die friedlichen Demonstranten, ohne die - angeblich - lebensbedrohlichen Gefahren der Pandemie zu erwähnen. „Was in Belarus passiert, ist eine Krise der Macht, eine autoritäre Macht, die die Logik der Demokratie nicht akzeptieren kann und die sich mit Gewalt an die Macht klammert“, so Macron. Sicherlich stimmen die Aussagen von Macron. Doch wir haben eben nicht nur eine „Krise der Macht“, sondern auch eine Corona-Krise. Oder etwa doch nicht?
Die Bundesregierung hatte zuvor die anhaltende Gewalt des Regimes gegen die Demonstranten erneut scharf verurteilt. Das fünfte Wochenende hintereinander seit den Präsidentschaftswahlen seien Hunderttausende friedlich auf die Straßen gegangen, um für einen demokratischen Wandel einzutreten, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag.
Der anhaltende Protest sei Ausdruck der Unzufriedenheit, aber auch der Wut und Verzweiflung vieler Bürgerinnen und Bürger angesichts der Wahlfälschung, der Brutalität der Sicherheitskräfte gegen Frauen, Männer und sogar Schulkinder sowie der Unnachgiebigkeit von Lukaschenko. Jeder Tag bringe neue Beweise dafür, dass Lukaschenkos Herrschaft mit Angst und Repressionen aufrechterhalten werden solle, sagte Seibert und lobte erneut den Mut der Demonstrantinnen.
Die Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte gegen Demonstranten vorgehen, ist eine erwiesene Tatsache. Doch was ist denn nun mit der „Brutalität“, mit der das Corona-Virus voranschreitet? Warum erwähnen Paris, Berlin, Brüssel und Moskau nicht, dass die Massenproteste dazu führen könnten, dass sich das tödliche Corona-Virus rasant ausbreitet?
War das denn nicht das Hauptargument dafür, die Anti-Corona-Demos in Deutschland einzudämmen? Wurden die Deutschen, die an diesen Kundgebungen teilnahmen, nicht als „Covidioten“ diffamiert? Sind denn die Demonstranten in Weißrussland keine „Covidioten“?
Die SPD-Chefin, die die Urheberin des Begriffs „Covidioten“ ist, äußert sich ganz anders über die Demonstranten in Weißrussland, die ebenfalls keine Corona-Regeln befolgen.
Sie sagt über die Kundgebungen in Minsk: „Die Wahlen in #Belarus sind erneut eine Farce. Viele mutige Menschen nehmen das nicht mehr hin. Sie fordern Freiheit und Demokratie. Lukaschenko antwortet mit brutaler Gewalt auf den Straßen. #Solidarität mit der demokratischen Opposition in #Weißrussland.“
Zuvor äußerte sie sich über die Demonstranten in Berlin: „Tausende #Covidioten feiern sich in #Berlin als „die zweite Welle“, ohne Abstand, ohne Maske. Sie gefährden damit nicht nur unsere Gesundheit, sie gefährden unsere Erfolge gegen die Pandemie und für die Belebung von Wirtschaft, Bildung und Gesellschaft. Unverantwortlich!“