Weltwirtschaft

Arroganz im Angesicht der Rezession: Statt über Trump zu lästern, sollte Europa seine letzte Chance ergreifen

Lesezeit: 5 min
01.11.2020 13:00
Im zweiten Teil seiner großen Analyse zeigt DWN-Konjunkturexperte Michael Bernegger auf, welche Fehler Europas Politiker in der Krise begehen.
Arroganz im Angesicht der Rezession: Statt über Trump zu lästern, sollte Europa seine letzte Chance ergreifen
Kannte Corona noch nicht: Johann Wolfgang von Goethe. (Foto: dpa)

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Das statistische Bild lässt keinen Zweifel daran, dass Europa respektive die meisten europäischen Länder einen breit basierten Pandemieschub erleben. Auffällig ist die international enorm hohe Korrelation der Fallzahlen, das heißt der Anzahl der positiven registrierten Tests. Dabei handelt es sich nicht einfach um verstärkte oder mehr ausgedehnte Tests, sondern effektiv um massiv angestiegene Positivitätsraten. Vor allem die Entwicklung der letzten beiden Wochen hat dazu geführt, dass zahlreiche Länder jetzt in eine kritische Situation mit ihren medizinischen Kapazitäten geraten werden.

Eine völlig neue Herausforderung

Die Situation präsentiert sich gleichwohl anders als in der ersten Pandemiewelle.

  • Diesmal ist der Schub breit basiert und nicht so konzentriert auf Hochrisiko-Cluster wie damals. Durch das Schließen der Grenzen Mitte März konnten in der ersten Welle in vielen Ländern die Neuinfektionen rasch eingedämmt werden, die Rolle der „community transmission“, im Behördendeutsch der „internen Mensch-zu-Mensch-Übertragung“, war noch begrenzt. Zusammen mit einem nachfolgenden zeitlich begrenzten Lockdown, oft zunächst noch regional konzentriert auf die Hotspots wie die Lombardei oder Paris, genügte dies, die Epidemie rasch abklingen zu lassen.
  • In dieser zweiten Welle mag zwar der Ursprung teilweise durch Import aus klassischen Ferienländern wie Spanien, Frankreich oder Kroatien sein, aber der hauptsächliche Mechanismus der Explosion der Fallzahlen ist die „community transmission“: Die Ausbreitung innerhalb der Familien, an den Arbeitsplätzen, in öffentlichen Orten wie Bars, Restaurants, Verkehrsmitteln, Sportstätten, möglicherweise in den Schulen. Die Antwort auf diese zweite Welle dürfte deshalb weniger einfach sein.
  • Die Ausgangslage ist umgekehrt eine ganz andere als Ende Februar: Damals befand sich Europa am Ende eines Konjunkturaufschwungs (der höchst ungleich ausgefallen war). Die Rezession hatte gerade erst eingesetzt und war noch nicht ausgeprägt. Jetzt stecken wir in einer tiefen Rezession, die auch in den vergleichsweise erfolgreichen Ländern ganze Branchen und viele Unternehmen bereits in ganz erhebliche, teilweise existentielle Schwierigkeiten gebracht hat. In großen Ländern wie Italien, Spanien, auch Frankreich und in nicht wenigen kleineren Ländern ist die Wirtschaft bereits seit der Großen Finanzkrise in einer Dauerkrise oder -stagnation. Dort ist die Situation noch viel dramatischer. Das Eigenkapital ist reduziert, die Liquidität angeschlagen, der Zugang zum Kredit seit langem geschlossen oder stark erschwert. Ein erneuter totaler ‚Lockdown‘ oder gar ‚Shutdown‘ wäre wohl mit massiven und kaum mehr zu beherrschenden Konsequenzen verbunden.
  • Die Zeit drängt. Wichtig ist die dynamische und exponentielle Bewegung: Jede weitere Woche lässt die Fallzahlen, das heißt die Zahl der Neuansteckungen, in vielen Ländern ungefähr weiter verdoppeln. Das ist zum Beispiel gegenwärtig so in Deutschland und in Frankreich. Die Zahl der aktiven Fälle (aktuell infizierte Personen) macht diese Dynamik mit, wenn auch nicht im vollen Ausmaß. In Deutschland sind gegenwärtig fast über 100.000 Personen als aktuell infiziert erfasst. Im bevölkerungsmäßig kleineren Frankreich (rund 67 gegenüber 83 Millionen Einwohner in Deutschland) sind es dagegen bereits rund eine Million Personen, die gegenwärtig als infiziert registriert sind. Zudem kommt in Frankreich aufgrund der viel höheren Positivitätsrate eine wesentliche höhere Dunkelziffer hinzu. Zu warten wird mit anderen Worten in eine Katastrophe hineinführen. Denn im Verlauf weniger Wochen wird die Situation komplett außer Kontrolle geraten.

  • Was umgekehrt als Hoffnungsschimmer gelten kann, ist die Tatsache, dass seit Ausbruch der weltweiten Pandemie ein enormer Erfahrungs- und Lernprozess stattgefunden hat. Wir wissen heute viel mehr als in den ersten Wochen im März und April, auch wenn noch viele Fragen offen bleiben. Doch das Fazit dieser Erfahrungen und wissenschaftlichen Ergebnisse hat bisher keineswegs Eingang in die aktuell verfolgten Politiken gefunden.
  • Die verschiedenen Länder reagieren unterschiedlich auf die Situation. In wenigen Ländern hat die Regierung bereits einen umfassenden Lockdown angeordnet, teilweise nur für einzelne Regionen, in anderen unterschiedliche Formen eines ‚Lockdown light‘. Generell soll es die Maskenpflicht richten. Aktivitäten wie Konzerte, Großanlässe, Bar- und Restaurantbesuche werden verboten oder scharf eingeschränkt. Mit diesen Maßnahmen soll verhindert werden, dass die Produktion umfassend eingeschränkt werden muss.

Europa: Der Aufschwung ist in weiter Ferne

Das aktuelle Bild der Pandemie in Europa deutet auf riesige Herausforderungen hin, und zwar nicht nur gesundheitspolitisch, sondern auch konjunkturell, wirtschafts- und europapolitisch mit allen Folgewirkungen. Der erhoffte V-förmige Aufschwung dürfte kurz nach seinem Beginn bereits zu Ende sein und einer W- oder sogar L-förmigen Entwicklung weichen. Die explodierenden Fallzahlen und der Trend zu ‚Lockdowns‘ nagen am Konsumenten- und Unternehmensvertrauen, ja zertrümmern es. Das Weihnachtsgeschäft dürfte miserabel ausfallen. Die Unternehmen werden angesichts der Unsicherheit die Investitionspläne für 2021 nochmals scharf nach unten anpassen. Die Exporte von Tourismus- und Transport-Dienstleistungen sowie die damit verbundenen Konsumausgaben werden wieder in den Keller gehen. An den Finanzmärkten wird auch in Europa eine Traumwelt antizipiert, und das Erwachen dürfte heftig ausfallen. Der Dax-Index hat im Tages- und im Wochenchart gut sichtbar eine klassische Kopf-Schulter-Formation ausgebildet und ist am Montag unter die Nackenlinie abgetaucht. Das ist, begleitet von mehrfachen negativen Divergenzen bei Markt-Indikatoren, eine klassische Trendumkehr-Formation. Das Ganze geführt durch den Kurssturz beim Index-Schwergewicht SAP, wo das Management realistische und die exaltierten Markterwartungen eiskalt abduschende Aussagen zur Marge und Nachfrage machte. Wichtig ist, dass die Digitalisierung zunächst erhöhte Investitionen bedeutet, und dass die Erträge konjunktur- und wechselkursbedingt sich schwächer entwickeln, selbst bei einem Marktführer im Technologie-Bereich.

Lästern über Trump: Europa sollte in den Spiegel schauen

Eins steht fest: Die ganze Welt hat im Sommer die Entwicklung in den USA beäugt und über Präsident Trump gelacht oder gelästert. Das Lachen dürfte wohl zu Ende sein, die Europäischen Politiker und Politikerinnen sollten besser in den Spiegel schauen. Europa als Ganzes und viele einzelne Länder haben - bei viel besseren Voraussetzungen nach der erfolgreich bewältigten ersten Welle - teilweise die genau gleichen oder ähnliche Fehler wiederholt wie die Vereinigten Staaten und wichtige amerikanische Bundesstaaten: Keine zentrale Führung und Vorgaben, dadurch keine Koordination der Politiken mit den und unter den Mitgliedsländern (Bundesstaaten); führungsloses Vorgehen und keine Koordination auch innerhalb der einzelnen Länder, hingegen Delegation an völlig überforderte Provinzen, Bundesländer, Kantone; teils verfrühte, vor allem aber konzeptlose Öffnungen; in nicht wenigen Ländern verfehlte Teststrategie (allen voran die Schweiz, welche nur wenige Tests und nur für Personen mit Symptomen durchführt); fundamental falsche, verfehlte Pandemie-, Gesundheits- und Wirtschafts-, Finanz- und Geldpolitiken.

Aufschwung in den USA: Auch in weiter Ferne

Nicht dass die Aussichten in den Vereinigten Staaten besser geworden wären, ganz im Gegenteil: Auch in den USA nehmen die Fallzahlen stark zu, wobei die jüngsten Daten jeweils die Zustände vor einer Woche und zuvor reflektieren und damit die aktuelle Dynamik nicht voll wiedergeben. Zudem sind in den für den Wahlausgang wichtigen Bundesstaaten wie Texas (zweitgrößte Bevölkerungs- und Wahlmännerzahl), Florida (drittgrößte) und Georgia (achtgrößte) die Tests aus politischen seit Mitte Juli gegen den nationalen Trend massiv zurückgefahren worden. Bei hoher Positivitätsrate von durchschnittlich seit Mitte Juli deutlich über zehn Prozent in Florida und knapp über 10 Prozent in Texas und Georgia sind natürlich auch die Anzahl der registrierten Neuansteckungen entsprechend deutlich zurückgegangen. Dadurch können Präsident Trump sowie republikanische Gouverneure und republikanische Senatoren in zentralen Bundesstaaten „Erfolge“ bei der Pandemie-Bekämpfung in Schlüsselstaaten für den Wahlausgang vorweisen, bei gleichzeitiger Öffnung der Wirtschaft. Die Realität ist, dass in vielen Bundesstaaten die Zahl der Neu-Infizierten ebenfalls Rekorde verzeichnet und dass dort die Spitäler bereits am Rande des Anschlags ihrer Kapazitäten sind.

Europas letzte Chance

Aber die Dynamik in Europa ist in der kurzen Frist noch verheerender, viel explosiver. Es gäbe genügend Erkenntnisse, die Stoßrichtung zu ändern. Ob der politische Wille vorhanden ist, sich ein Scheitern im ersten Ansatz einzugestehen und nach neuen Lösungen zu suchen, ist eine andere Frage. Viele Chancen für weitere Anläufe haben die Entscheidungsträger in Europa nicht mehr. In der größten Krise der Nachkriegszeit, die eine strukturelle Krise des gesamten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Modells der Europäischen Union überlagert, muss das bereits arg gebeutelte Europa mit einer Pandemie-Explosion umgehen und ihre Folgen überwinden: Ob der Kontinent diese Herausforderung meistern wird, steht in den Sternen.


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