Trotz – oder gerade wegen – der Corona-Pandemie war 2020 das stärkste Jahr für Börsengänge seit einem Jahrzehnt. Weltweit beantragten 1.322 Unternehmen die Umwandlung in eine Aktiengesellschaft und damit 15 Prozent mehr als im Vorjahr, wie eine am Dienstag veröffentlichte Studie der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft EY ergab. Das weltweite Emissionsvolumen stieg um 26 Prozent auf 263 Milliarden Dollar und erreichte damit den höchsten Wert seit dem Jahr 2010.
Die Aktienmärkte profitierten von den weit geöffneten Geldschleusen der Zentralbanken, der Digitalisierungsboom trieb die Nachfrage nach Technologieunternehmen und auch der Gesundheitssektor stand im Fokus der Investoren.
Besonders stark stieg das Emissionsvolumen der Studie zufolge in den USA - um 69 Prozent auf 86 Milliarden Dollar. In China einschließlich Hongkong legt es um 51 Prozent auf 116 Milliarden Dollar zu. In Europa war das Wachstum dagegen vergleichsweise bescheiden: Das Emissionsvolumen kletterte um neun Prozent auf 27 Milliarden Dollar.
In Deutschland schwächelte der Markt für Börsengänge, gerade einmal zwölf deutsche Unternehmen schafften es in der ein oder anderen Form auf den Kurszettel. Neun Unternehmen gingen in Frankfurt an die Börse und erlösten dabei insgesamt 1,1 Milliarden Euro. Die Tübinger Impfstoff-Firma Curevac wählte die US-Technologiebörse Nasdaq, der Display-Produzent VIA optronics die New York Stock Exchange. Das Tübinger Biotechunternehmen Immatics schaffte durch die Fusion mit einem börsennotierten Firmenmantel (SPAC) den Sprung an die Nasdaq.
Die drei größten Börsengänge 2020 stemmten chinesische Konzerne. Angeführt wird die Liste vom Chip-Hersteller Semiconductor Manufacturing International, der 7,6 Milliarden Dollar einbrachte, gefolgt von der Erstemission des Online-Händlers JD.com mit 4,5 Milliarden Dollar. An dritter Stelle steht mit einem Emissionsvolumen von 4,4 Milliarden Dollar der Hochgeschwindigkeitsbahnbetreiber Beijing-Shanghai High Speed Railway.
Erinnerungen an 1999 werden wach
Der deutliche Anstieg der Börsengänge weckt Erinnerungen an das Jahr 1999, als es kurz vor dem Platzen der sogenannten „Dotcom“-Blase im Frühjahr Jahr 2000 weltweit zu einer Welle von Börsengängen kam.
Damals herrschte an den Finanzmärkten Aufbruchstimmung. Insbesondere die damals neuartigen Technologiekonzerne trieben – wie auch heute wieder – die Kurse in immer neue Höhen. Angesteckt von dem Gefühl, dass die Märkte sowieso immer weiter nach oben schieben würden, strebten hunderte Unternehmen an die Börse und machten ihre Gründer oder Eigner damit reich.
Als sich nach und nach herausstellte, dass viele dieser hochgelobten Firmen kein tragfähiges Geschäftsmodell betrieben, kamen erst vermehrt Zweifel bei Spekulanten und Investoren auf, welche sich schließlich in einem gewaltsamen Markteinbruch im März des Jahres 2000 entluden.
Verkaufen Insider ihre Unternehmen, weil sie wissen was kommt?
Einen bedeutenden Unterschied gibt es allerdings zwischen dem Finale der Dotcom-Blase 1999 und der aktuellen Phase: Im Gegensatz zur Zeit der Jahrtausendwende sind heute massive Diskrepanzen zwischen den Rekordständen an den Börsen einerseits und der in einer schweren Rezession gefangenen Weltwirtschaft andererseits nicht zu übersehen. Und die Aussichten sind trotz der Durchbrüche bei den Impfstoffen nicht positiv – im Gegenteil: Die sich seit der Finanzkrise von 2008 drehende Schuldenspirale bei Staaten, Unternehmen und Privathaushalten ist im Zuge Billionen-schwerer Rettungsprogramme der Zentralbanken inzwischen vollkommen außer Kontrolle geraten.
Das Wallstreet Journal schreibt dazu: „Die Entwicklung der Börsengänge unterschied sich noch nie so sehr vom Zustand der amerikanischen Wirtschaft. Die Coronavirus-Pandemie hat Unternehmen den Boden unter den Füßen weggezogen und die Arbeitslosigkeit im Frühjahr auf einen Allzeit-Höchststand katapultiert. Aber sie hat auch einen Umschwung in der Volkswirtschaft ausgelöst. Weil mehr Leute Technologie nutzen, um zu arbeiten, ihre Kinder zu beschulen oder mit ihren Freunden und Familien zu kommunizieren, ist der Wert von Tech-Unternehmen gestiegen. Und weil die Nullzinsen die Renditen bei traditionell sicheren Investments wie Anleihen begrenzen, jagen Investoren nach Rendite wo immer sie können.“
Der zuletzt angesprochene Aspekt deutet auf eine massive Überbewertung und eine Blasenbildung an den Aktienmärkten hin – einfach deshalb, weil es einer der wenigen Märkte ist, in dem noch Geld verdient werden kann, sammelt sich dort Kapital in immensem Umfang. Mit den realwirtschaftlichen Gegebenheiten haben die Bewertungen in vielen Fällen nichts mehr zu tun.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die berechtigte Frage, ob viele der Gründer und Firmeneigner ihre Unternehmen derzeit in so hoher Zahl versilbern, weil sie wissen, dass es in den kommenden Jahren wirtschaftlich bergab gehen wird.
Ein Vergleich mit dem Jahr 1999 deute darauf hin, dass zwar kein unmittelbarer Absturz drohe, sondern an den Aktienmärkten in den kommenden Wochen noch weitere Rekord aufgestellt werden könnten, zitiert Bloomberg einen Analysten von Miller Tabak + Co. Doch auf Sicht der kommenden Monate könnte es Probleme geben: „Die Erfahrung zeigt uns, dass Überschwänglichkeiten im Markt für Börsengänge ein wichtiger vorauseilender Indikator für eine Trendumkehr am Aktienmarkt ist, kein Indiz für einen unmittelbar bevorstehenden Einbruch. In anderen Worten sagen uns die Vorgänge, dass wir in den kommenden sechs bis neun Monaten eine bedeutende Korrektur sehen werden, aber nicht zwangsläufig in den kommenden Tagen oder Wochen.“
Grafik: Die drei Anlageklassen, welche 2020 die höchsten prozentualen Kapital-Zuflüsse verzeichnen konnten: