Das ambivalente China-Bild westlicher Publikationen beruht merklich auf mangelnder Kenntnis der kulturellen und geschichtlichen Besonderheiten des Landes. Erklärungen bleiben bruchstückhaft und Ängste werden geschürt, was einer eurozentrischen Sichtweise geschuldet ist. Diese dreiteilige Analyse will anregen, China aus einer unbefangenen Perspektive zu betrachten.
Im diesem dritten und letzten Teil werden der Übergang vom „Turbo-Kapitalismus“ zu einem Sozialstaat und die Strategie der „dualen Kreisläufe“ thematisiert. Abschließend wird der Vorwurf hinterfragt, China würde eine globale Dominanz anstreben. Den ersten Teil, der sich mit den Unterschieden zwischen westlichem und chinesischem Menschenbild und darauf basierend der jeweiligen Gesellschaftssysteme befasst, haben wir am Freitag veröffentlicht. Den zweiten Teil mit der Beschreibung der Entwicklungsetappen, die Chinas wirtschaftlichen Aufstieg zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten des Westens kennzeichnen, haben wir gestern publiziert.
Der Übergang vom „Turbo-Kapitalismus“ zum Sozialstaat
In seinem Werk „Das chinesische Jahrhundert“ verweist Wolfram Elsner auf eine vor etwa zehn Jahren begonnene Korrektur, mit der die negativen Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen Aufbauphase eliminiert und zugleich das neue Potenzial genutzt werden sollen. Innerhalb einer halben Dekade wurde ein flächendeckendes Rentensystem aus dem Boden gestampft, das es zuvor nicht ansatzweise gab. Ferner wurden die rechtliche Position der Arbeitnehmer gestärkt und die Rechtssicherheit für Privatpersonen und Unternehmen erhöht, wobei westliche Erfahrungen als Vorlage dienten. Ebenso wurden die Sozial-, Bildungs- und Gesundheitssysteme beträchtlich ausgebaut. Meist ging eine Testphase in verschiedenen Landesteilen voraus, nach der die Erfahrungen gebündelt und in Gesetze und allgemeine Richtlinien überführt wurden.
Sowohl die ungebrochene wirtschaftliche Dynamik als auch die hohe Zufriedenheit der Bürger beruhen zu einem wesentlichen Teil auf dieser Neuorientierung. Vor dem Hintergrund des gestärkten Vertrauens wurde das 2014 beschlossene Sozialkreditsystem überwiegend positiv aufgenommen. Die kritische Positionierung im Westen verstellt den Blick auf den Tatbestand, dass es sich aktuell in der Erprobungsphase befindet und zunehmend Zweifel an einer späteren Realisierung geäußert werden. Zudem sind die Hauptadressaten nicht einfache Bürger, sondern Unternehmen, administrative Einheiten und Parteiorganisationen. Mancherorts wird angenommen, dass das System eher zum Zweck einer moralischen Renaissance lanciert worden ist. Diese Vermutung wird dadurch untermauert, dass seit einiger Zeit von offizieller Seite vermehrt eine Rückbesinnung auf „konfuzianische Tugenden“ angemahnt wird.
Das erfolgreiche Zusammenspiel von Wirtschaft und Staat in China weist Parallelen zum „Rheinischen Kapitalismus“ der 50er Jahre auf, als in der Bundesrepublik Deutschland das Primat der Politik noch Bestand hatte. Mit diesem Bezug wird zugleich die im ersten Teil gestellte Frage, ob eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik diktatorischer Vollmachten bedürfe, negativ beschieden. Um jedoch Zukunftsvisionen entwickeln und glaubhaft ansteuern zu können, bedarf es eines angemessenen politischen Handlungsspielraums, der im Westen angesichts neoliberaler Sachzwänge nicht mehr existiert. Die unreflektierte Übertragung des Freiheitspostulats auf den Wirtschaftssektor hat sich nicht nur als ausgesprochen schädlich erwiesen, sondern erscheint angesichts der veränderten Interessenkonstellationen und Machtverhältnisse als kaum korrigierbar.
Die Strategie der dualen Kreisläufe
Die im Herbst letzten Jahres beschlossene Strategie der „dualen Kreisläufe“ ist eine konsequente Fortsetzung der chinesischen Politik, wobei zwei Aspekte in den Fokus gerückt werden: die Nutzung des vorhandenen wirtschaftlichen Potenzials zur Steigerung der Lebensqualität und die Abwehr externer Bedrohungen. Den Schwerpunkt des inländischen Kreislaufs bilden die Anhebung der privaten Einkommen und die Entwicklung zurückgebliebener Landesregionen. Die Kluft zwischen Arm und Reich soll bis Ende der Dekade auf europäisches Niveau reduziert werden.
Mit dem Konzept des internationalen Kreislaufs wird das Ziel verfolgt, die Importabhängigkeit von unverzichtbaren Vorprodukten wie Halbleitern zu senken und die Exportlastigkeit der Wirtschaft zu vermindern, die sich in gewaltigen Handelsüberschüssen niederschlägt. Dahinter steht die Angst vor einem weiteren Drehen an der Sanktionsspirale durch die USA. Die Aktivitäten dürften sich gleichwohl auf eine Sicherung der Handelswege erstrecken, was den Argwohn einer zunehmenden Einflussnahme auf die Staaten entlang der Handelsrouten wie auch eines wachsenden militärischen Engagements schürt. Das von China reklamierte Postulat der Nicht-Einmischung wird damit auf die Probe gestellt.
Dennoch sind keine chinesischen Ambitionen erkennbar, anderen Ländern das eigene System aufoktroyieren zu wollen. Damit unterscheidet sich das Land sowohl von der sowjetischen Praxis des „Revolutionsexports“ als auch von der vom Westen betriebenen Politik des „Regime-Change“ und der „humanen Interventionen“.
Chinesische Globalpolitik
Insbesondere maßt sich die chinesische Führung nicht an, über die Menschenrechtslage in anderen Staaten zu urteilen. Diese Haltung wird mit der Anerkennung eines Wertepluralismus erklärt, wonach jedes Land einzigartige historisch-kulturelle Besonderheiten aufweist. Indem deren Respektierung verlangt wird, verschafft sich China zugleich eine argumentative Grundlage, ausländische Kritik als Einmischung in innere Angelegenheiten zurückzuweisen. Über die Bereitschaft, anderen Kulturen und Wertvorstellungen unvoreingenommen zu begegnen, eröffnet sich Chinesen gleichermaßen ein tieferer Einblick, den sie aktiv nutzen, um von den Erfahrungen anderer Länder zu lernen.
Dementgegen ist das bevölkerungsreichste Land der Erde den westlichen Bürgern weitgehend fremd geblieben. Eine eurozentrische Brille, verbunden mit einem hohen Maß an Überheblichkeit, macht es vielfach unmöglich, das Verhalten und die Motive einfacher chinesischer Bürger wie auch ihrer Regierung korrekt zu deuten. Befürchtungen, dass im Zuge eines „Great Reset“ chinesische Verhältnisse in den Westen importiert werden könnten, mögen berechtigt sein, sie werden jedoch keineswegs durch Äußerungen der dortigen Führung genährt. Die vielbeschworene mediale Einflussnahme Chinas beschränkt sich weitgehend auf Selbstdarstellung und eine Zurückweisung erhobener Vorwürfe. Anders als westliche und russische Medien mit vornehmlich ausländischem Publikum fungieren chinesische Informationsdienste nicht als Bühne für oppositionelle Kräfte jener Länder.
Strebt China eine globale Dominanz an oder beschränkt sich das Land darauf, Win-Win-Konstellationen zu nutzen? Die USA proklamieren ihren Führungsanspruch explizit, mal begründet als oberster Hüter der Menschenrechte, mal als „God‘s Own Country“. Das britische Königreich bezweckte mit der Erweiterung des Kolonialbesitzes erklärtermaßen die Festigung seiner internationalen Herrschaftsposition. Gleichfalls wurden bei den Feldzügen des Mittelalters und der Antike imperiale Intentionen offen ausgesprochen. Dagegen bekundet die chinesische Führung wiederholt, nur Teil einer multipolaren Welt sein zu wollen. Handelt es sich hierbei um Augenwischerei, hinter sich der ein globaler Machtanspruch verbirgt, dann würde es sich um ein geschichtliches Novum handeln.
Zum Autor: Bernd Murawski studierte an der FU Berlin Politische Wissenschaft und Mathematik mit den Schwerpunkten Wirtschafts- und internationale Politik sowie Statistik. Nach dem Studienabschluss siedelte er nach Finnland über, wo er als IT-Projektmanager arbeitete. Seit 2014 hat er über einhundert Artikel zu aktuell-politischen und Wirtschaftsthemen verfasst, die auf mehreren Internet-Portalen veröffentlicht wurden.