Während die Umweltverbände und die Erneuerbare-Energien-Bewegung der überfälligen Debatte um ein bevorstehendes Stromversorgungs-Defizit bislang ausweichen, bestätigen die Energiewende-Protagonisten Dr. Peter Becker und Prof. Dr. Lorenz J. Jarass einen Verlust an gesicherter Leistung durch den Atom‑ und Kohleausstieg in Höhe von 50 Gigawatt (GW).
In der von Solar-Pionier Hermann Scheer mitbegründeten „Zeitschrift für Neues Energierecht“ setzen sich Becker und Jarass in einer Rezension mit dem Buch „StromMangelWirtschaft“ der Akademie Bergstraße auseinander und bestätigen wesentliche Aussagen der in dem Werkt getätigten Aussagen. Pointiert stellen sie fest: „Bei der Stromversorgung spielt die Regierung Russisches Roulette.“
Ebenso wie die Akademie Bergstraße fordern sie einen „widerspruchsfreien Netzentwicklungsplan“, der die „erheblichen Defizite an gesicherter Leistung“ beseitigt, was durch den Bau von Gaskraftwerken erfolgen müsse.
„Es macht doch keinen Sinn“
Becker und Jarass bestätigen, dass die Akademie Bergstraße völlig zu Recht Alarm schlägt, indem sie die folgende Einschätzung aus dem Buch zitieren und diese uneingeschränkt teilen:
„Aus aktueller Sicht ist größte Skepsis angebracht, ob bei Einhaltung der aktuellen Stilllegungspläne für die Atom‑ und Kohlekraftwerke rechtzeitig Ersatzkapazitäten vorhanden sein werden.“
Ferner teilen sie auch den folgenden dramatischen Befund ganz ausdrücklich:
„Es kann beispielsweise nicht gut gehen, immer noch mehr kurzfristige Stilllegungstermine für Kraftwerke zu beschließen, und sich dabei darauf zu verlassen, dass irgendwelche Ersatzkraftwerke (z.B. Gaskraftwerke) dann schon rechtzeitig am Netz sein werden.“
In ihren Worten machen sie entsprechend deutlich, dass es unverantwortlich wäre, bei der Energiewende weiterhin nach dem Prinzip Hoffnung zu verfahren:
„Es macht doch keinen Sinn, einen Netzentwicklungsplan vorzulegen auf der Basis von erheblichen Defiziten an gesicherter Leistung in der Hoffnung, dass auftretende Defizite an gesicherter Leistung in den meisten Fällen durch Importe abgedeckt werden können.“ Für einen widerspruchsfreien Netzentwicklungsplan müsse der Kraftwerkspark „bei erwarteten Defiziten an gesicherter Leistung“ angepasst werden. In aller Deutlichkeit fordern sie die Netzbetreiber und implizit die Politik auf, dass darauf aufbauend „nochmalige Netzberechnungen vorgenommen werden“ sollten.
Insgesamt müssten konkrete Vorschläge gemacht werden, „wie sichergestellt werden kann, dass in den nächsten Jahren ausreichend Reservekraftwerke gebaut werden.“ Es müsse „in Höhe der Jahreshöchstlast ausreichend gesicherte Leistung zur Verfügung gestellt werden", so Becker und Jarass.
Weiter führen sie aus, dass zu den stark fluktuierenden erneuerbaren Energien (Wind‑ und Solarenergie) „kompatible, also schnell regelbare Reservekraftwerke“ benötigt werden. Das seien nach derzeit verfügbarer Technologie im Wesentlichen Gaskraftwerke.
Batteriespeicher helfen nicht
Die abzudeckende Jahreshöchstlast liegt derzeit bei 80 bis 85 Gigawatt (GW). Nach Berechnungen der Deutschen Energie-Agentur könnte der Leistungsbedarf aufgrund von Elektromobilität und Elektrowärme bis 2030 auf gut 120 Gigawatt ansteigen.
Becker und Jarass haben die Hoffnung, einen Teil der benötigten Reserveleistung im Umfang von mehr als 80 GW [bis zu 120 GW und mehr] nicht allein über Reservekraftwerke abdecken zu müssen.
Als Begründung führen sie an, man könne die Stromnachfrage durch Demand Side Management um „bis zu 5 GW verringern“.
Ferner legen sie in ihrer Rezension mehrfach ihre Hoffnung auf Batteriespeicher, obwohl sie selbst feststellen, dass diese das Problem tagelanger Dunkelflauten nicht ansatzweise lösen können: „Stromangebot für maximal einige Stunden bis zu 17,9 GW durch Batteriespeicher“. Schließlich lösen auch die erwähnten „10,2 GW durch Pumpspeicher“ nicht das Problem, da auch die Pumpspeicher nach wenigen Stunden leer sind.
Massiver Zubau von Reservekraftwerken nötig
Nach den von Becker und Jarass genannten Zahlen steht demnach in der tagelangen Dunkelflaute eine verringerte Stromnachfrage von bis zu 5 GW einer Höchstlast von mehr als 80 GW gegenüber, wobei sie den erheblichen Mehrbedarf durch die propagierten Elektroautos und Elektrowärmepumpen schon gar nicht erwähnen.
So kommen in der Substanz auch Becker und Jarass zu dem Ergebnis, dass „zur Aufrechterhaltung der hohen deutschen Versorgungssicherheit“ ein „massiver Zubau von Reservekraftwerken von bis zu 40 GW“ benötigt wird.
Somit bestätigen sie die entsprechenden Aussagen der Akademie Bergstraße, die sich dabei unter anderem auf die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina beruft:
„Trotz des starken Ausbaus der fluktuierenden erneuerbaren Energien Windkraft und Photovoltaik werden auch in Zukunft konventionelle thermische Kraftwerke (Gas‑ sowie Gas-und-Dampf-Kraftwerke) mit insgesamt vergleichbarer Kapazität wie heute benötigt, um die Versorgungssicherheit auch in Zeiten sogenannter ‚kalter Dunkelflauten‘ zu gewährleisten.“
Umweltverbände erst für, dann gegen Gaskraftwerke
Die Rezension ist insofern sehr hilfreich, als in den Umweltverbänden und in der Erneuerbare-Energien-Bewegung noch immer die Auffassung verbreitet ist, der Ausbau der stark fluktierenden Wind‑ und Solarenergie könne gemeinsam mit Kurzzeit-Stromspeichern (Batterien) und Wasserstoff, jedoch ohne Gaskraftwerke, zu einem versorgungssicheren Energiesystem führen, und nebenher könne man problemlos auch noch Millionen Elektroautos und Elektrowärmepumpen mit Windstrom versorgen.
Zwar haben der Deutsche Naturschutzring (DNR), der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) sowie Greenpeace im Jahr 2019 die Empfehlungen der Kohlekommission zum dringend erforderlichen Bau von neuen Gaskraftwerken mitgetragen.
Das hindert DNR, BUND und Greenpeace sowie den World Wide Fund For Nature (WWF), die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und andere aber nicht daran, auf europäischer Ebene massiv gegen den Neubau von Gaskraftwerken zu lobbyieren.
Die DUH fordert, die so genannte EU-Taxonomie-Verordnung „sauber zu halten und sich für einen Ausschluss von Erdgas einzusetzen“.
Die Entscheidung, ob Gaskraftwerke in dieser EU-Taxonomie als „nachhaltig“ qualifziert oder ob sie – wie bisher von der EU-Kommission geplant – verboten werden, wurde zuletzt auf das Spätjahr 2021 verschoben.
Trotz der fundamentalen Bedeutung dieser Entscheidung für die Energie-Sicherheit Deutschlands, zeigt sich die Öffentlichkeit an den Vorgängen bislang nur wenig interessiert.
Akute Gefahr durch Kraftwerks-Stilllegungen
So klar Becker und Jarass die Notwendigkeit von Reservekraftwerken sehen, so kritisch äußern sie sich zur Schlussfolgerung der Akademie Bergstraße, dass man wegen der zeitlichen Verläufe geplante Krafwerksstilllegungen nun dringend überdenken müsse.
„Diese Schlussfolgerung teilen wir nicht“, schreiben die Rezensenten, ohne allerdings auf die ausführlich dargestellten und mit aktuellen Quellen belegten kritischen Zeitverläufe in den kommenden Monaten und Jahren auch nur ansatzweise einzugehen.
Angesichts von Planungs‑, Genehmigungs‑ und Bauzeiten für Gaskraftwerke zwischen 4 und 7 Jahren, ergibt sich auf dem kritischen Pfad bis zum Jahreswechsel 2022/23 mit Atom‑ und Kohlekraftwerksstilllegungen in großem Umfang die Situation, dass es bis dahin allenfalls unwesentlich mehr Gaskraftwerkskapazität geben kann.
Mit anderen Worten: Der Zug für den von Becker und Jarass – grundsätzlich ganz im Sinne der Logik der Kohlekommission – vorgeschlagenen Weg, rechtzeitig Gaskraftwerke zu bauen, ist längst abgefahren. Auch der Verweis auf 2 bis 3 GW neue Importstromtrassen hilft da nicht wirklich weiter.
Vor diesem Hintergrund warnt ausgerechnet der Bundesverband Solarwirtschaft vor einer gigantischen Stromlücke von bis zu 30 Gigawatt im Jahr 2023, weswegen Laufzeitverlängerungen von Kohlekraftwerken „unausweichlich“ seien.
Abgrenzung versus demokratischer Diskurs
Mit dieser Stellungnahme in der „Zeitschrift für Neues Energierecht“ geht die Diskussion um die bevorstehende Stromlücke und die drohende Strom-Mangelwirtschaft in eine neue Runde.
Es ist nun dringend geboten, zu einem rationalen gesellschaftlichen Diskurs über die Energiepolitik zurückzufinden.
Wenn Becker und Jarass in ihrer Rezension monieren, die Akademie Bergstraße zitiere Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, „der noch nie als Freund der Energiewende aufgefallen ist“, so ist das kein Votum für einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, um die unbestreitbar vorhandenen Probleme der Energiewende gemeinschaftlich zu lösen.
Es erregt manche Gemüter, auf welchen „Plattformen“ und mit welchen Personen die Debatte um die bevorstehende „StromMangelWirtschaft“ geführt wird.
An dieser Stelle eine grundsätzliche Anmerkung: Der aktuelle Trend der politischen Auseinandersetzung nimmt generell eine problematische Richtung. Unliebsame Kritiker werden vielfach totgeschwiegen, diffamiert und zum Teil sogar in ihrer Existenz bedroht. Mit unlauterem „Framing“ wird immer häufiger verhindert, dass (möglicherweise berechtigte) Kritik Raum in der öffentlichen Auseinandersetzung bekommt.
Es sei daran erinnert, dass es auch anders geht:
Die Befürworter und Gegner einer Energiewende standen jahrzehntelang auf vielfältige Weise in einem konstruktiven Dialog miteinander. Man sprach und schrieb nicht nur übereinander, man traf sich auch und redete im Rahmen von Tagungen und Kongressen auf Podien und in den Pausen an Stehtischen miteinander. Die Auseinandersetzungen waren hart in der Sache, aber es waren demokratische Debatten, in denen darum gerungen wurde, welches die besseren Argumente waren.
Gerade jetzt ist es dringend angezeigt, wieder miteinander ins Gespräch zu kommen und ernsthaft darum zu ringen, wie es energiepolitisch weitergehen soll, um Schaden von dieser Gesellschaft abzuwenden.
Weitere Hintergründe:
Henrik Paulitz: StromMangelWirtschaft – Warum eine Korrektur der Energiewende nötig ist. Taschenbuch. Akademie Bergstraße. 2020. ISBN 978-3-981-8525-3-0