Politik

Bundestagswahl 2021: Die Parteien ignorieren die Risiken der Digitalisierung

Lesezeit: 10 min
28.08.2021 12:03  Aktualisiert: 28.08.2021 12:03
Vehement fordert die Politik die Beschleunigung der Digitalisierung - und lässt dabei die Risiken völlig außer Acht. Lesen Sie im Folgenden den dritten Teil der großen DWN-Serie zur Bundestagswahl - eine umfassend recherchierte und tief durchdachte Analyse von Werner Thiede.
Bundestagswahl 2021: Die Parteien ignorieren die Risiken der Digitalisierung
Die Digitalisierung ermöglicht auch mehr Überwachung. (Foto: dpa)

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Eine Analyse der Wahlprogramme aller nennenswerten Parteien lässt eine klare Pro­gnose mit Blick auf die Digitalisierung zu: Die nächste Bundesregierung wird unab­hän­gig von ihrer Zu­sammensetzung und von der Person des Kanzlers eine Digitalisierungs­offen­sive starten. Auffällig ist, dass in den Programmen von den Chancen der digitalen Transformation viel die Rede ist, kaum aber von den Risiken. Die kommende Technisierung werde alles ver­ändern – so ertönt es aus Politiker­mund, als wäre das eine rundum erfreuliche Ver­heißung. Weithin übergangen wird dabei der Tatbestand, dass es in unserer Ge­sellschaft ein verbreitetes Misstrauen gegenüber der immer umfassenderen Digitalisie­rung gibt, das nicht zuletzt in Dutzenden von digitalisierungskritischen Büchern seinen Ausdruck findet.

Es geht also nicht nur um ein Bauchgefühl, sondern um intellektuelle Kritik. Der Zu­kunfts­forscher Mat­thias Horx fragte schon 2018: „Geht es Ihnen auch manchmal so, dass das Wort ‚Digita­lisie­rung‘ ein Gefühl flauer Übelkeit hinterlässt? Dass Sie das D-Wort einfach nicht mehr hören können, wie es im Maschinengewehrtakt auf jeder Businesskonferenz, jeder ge­hypten Messe, in jedem Standard-Powerpoint-Business-Vortrag und inzwischen sogar auf Parteitagen be­nutzt wird? Immer kommt es mit dem großen MUSS daher: Die Digitalisierung MUSS rasend voranschreiten, wir MÜSSEN den Breitbandausbau vorantreiben, Künstliche Intelli­genz MUSS demnächst … Wenn dauernd etwas gemusst werden muss, ist längst etwas faul.“ Warum lässt der Bundestagswahlkampf die kritischen Aspekte der Digitalisierung fast voll­kommen unerwähnt? Schließlich wird mit der Festlegung der Wahlprogramme bereits ein Stück weit Politik gemacht.

Die Alternativlosigkeit in Sachen Digitalisierung bei allen größeren Parteien ist angesichts der vielen vernünftigen Bedenken hinsichtlich dieser kulturumstürzenden Programmatik durchaus beunruhigend und kein ermutigendes Anzeichen einer pluralistischen Demokratie. Damit hier nicht womöglich der Verdacht aufkommt, es gehe im Folgenden um kulturpessimistisch oder gar verschwörungstheoretisch motivierte Überlegungen, sollen nun „methodisch“ ausschließ­lich solche Ge­fahren der Digitalisierung benannt und mit den Wahlprogrammen aller wich­ti­gen Parteien konfrontiert werden, die einer der namhaftester Befürworter der digitalen Transformation weltweit selbst zur Spra­che gebracht hat: Professor Klaus Schwab, seines Zeichens Gründer und Präsident des Welt­wirt­schaftsforums (WEF). In seinem Buch „Die Zukunft der Vierten Industriellen Revo­lution. Wie wir den digitalen Wandel gemeinsam gestalten“ (2019) zeigt sich ein erstaunlich realisti­sches und ehrliches Risikobewusstsein, das in diesem Ernst und in dieser Breite im heurigen Bundestagswahlkampf ein merkwürdiges Desiderat geblieben ist.

Im Zuge der bevorstehenden Digitalisierungsoffensive geht es weniger um die bisher bekann­ten, quasi überschaubaren Möglichkeiten des Digitalen als vielmehr um künftig deutlich grö­ßere Chan­cen und damit auch erheblich größere Risiken für Mensch und Welt. Schwab weiß um denkbare positive und negative Effekte: „Technologien werden bei der Lösung vieler unserer heutigen Probleme unwei­gerlich eine Rolle spielen, doch sie tragen auch zu diesen Problemen bei und schaffen neue.“ Was es „bedeutet, ein Mensch zu sein“, werde sich „grundle­gend verändern – und vieles andere mehr“; doch ob das eine positive Veränderung sein wird, dafür gibt auch Schwab keine Garantie. Vielmehr ist ihm klar, dass neue Tech­nolo­gien „vorhan­dene Systeme womög­lich verschlechtern“ werden. Das wird hier in zwölf Punk­ten zu exemplifizieren und mit den deutschen Wahlprogrammen zu vergleichen sein.

1) Künstliche Intelligenz – ein Risiko für Mensch und Welt

Klaus Schwab weiß: Nicht alle Technologien sind fehlerlos programmierbar. Insbesondere sieht er die Gefahr der „Entwicklung einer allgemeinen Künstlichen Intelligenz (KI), deren Zielorientierung mit der man­nigfaltigen Un­ordnung menschlichen Lebens kollidiert.“ Könnte nicht tatsächlich eine technokratische Überregelung am Ende zu mehr oder weniger totalitären Verhältnissen rund um den Globus führen? Die energische Förderung von KI durch die Poli­tik mag marktwirtschaftlich im Blick auf internationale Konkurrenz sinnvoll sein – von daher will die AfD „die Kompeten­zen im Bereich KI in der Bundesre­publik besser bündeln und nationale Kooperationen stärker fördern.“ Doch nötig wären dann strenge Regelungen, wie sie beispielsweise der Unternehmer-Gigant Elon Musk fordert, der KI mit ihrem Drang zur Ver­selbständigung für deutlich gefährlicher als Atomwaffen hält; wiederholt hat er betont, für ihn stelle KI die derzeit größte Gefahr für unsere Zivilisation dar. Weit davon entfernt wollen die größeren Parteien in Deutschland allesamt den Ausbau der KI fördern. So möchten CDU/CSU „Deutschland und Europa an die Weltspitze der Forschung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz“ bringen und die Chancen dieser „Schlüssel­technologie“ namentlich „für den All­tag der Menschen nutzen“, wobei eine vage „Feigen­blatt“-Formulierung besagt, man wolle zugleich Risiken minimieren. Auch die GRÜNEN wollen KI besonders fördern, ja „bereits heute den Grundstein legen für die europäische Souveränität in weiteren Trends der KI“. Die FDP möchte sogar die Entstehung von Clustern bei KI begünstigen und dafür digitale Frei­heitszonen ausweisen: „Dort sollen weniger Regularien gelten.“ Die SPD setzt sich ihrerseits „für eine gezielte und koordi­nierte Unterstützung der deutschen und europäi­schen Digitalwirt­schaft auf allen Technologie-Ebenen“ ein und damit auch für eine „verant­wortungsvolle“ KI, die immerhin vorurteils- und diskriminierungsfrei programmiert sein sowie regelmäßig ge­prüft und zertifiziert werden soll. Wer freilich diese Verantwortung tragen und kompetent Algo­rithmen überprüfen und zertifizieren soll, bleibt offen. Klarer fordert nur die ÖDP: „For­schung und Ent­wicklung hochentwickelter künstlicher Intelligenz (KI) sind unter öffentliche Aufsicht zu stellen, um Chancen und Risiken der KI in den demokratischen Entschei­dungs­prozess einzu­beziehen.“ Insgesamt kann man nur mit dem Philosophen Eduard Kaeser fragen: Woher diese „Anfälligkeit für Vortäuschungen von Intelligenz“? Verbindet sich nicht die „quasi-religiöse Erwartung“ der Digitali­sie­rungs­-Euphorie tatsächlich mit dem Fehlen eines kritischen Refle­xionsniveaus, ja eben menschlicher Intelligenz?

2) Das Disruptions-Potenzial beim Internet der Dinge

Beim kommenden „Internet der Dinge“ sieht Schwab ein „Disruptionspotenzial“ – wobei unter dem Begriff Disruption die relativ plötzliche und vollständige, mitunter bedrohlich und zerstörend erscheinende Ablösung oder Verdrängung einer Technologie durch eine andere zu verstehen ist. Das Internet der Dinge werde unser Leben und unsere Welt völlig verändern, heißt es immer wieder – aber wer will das eigentlich? Wo bleibt der Weitblick des israeliti­schen Historikers Yuval Noah Harari ist, der warnt: Menschen sind am Ende „lediglich In­strumente, um das Internet der Dinge zu schaffen, das sich letztlich vom Planeten Erde aus auf die gesamte Galaxie und sogar das gesamte Universum ausbreiten könnte. Dieses kosmi­sche Datenverarbeitungssystem wäre dann wie Gott.“ Allein die ÖDP sieht beim Internet der Dinge kritische Aspekte der Überwachung sowie deren Auswirkungen auf Demokratie und Freiheit – und nicht zuletzt der Daten­sicherheit.

3) Wie sicher ist das Netz vor Cyber-Angriffen?

Natürlich ist Schwab auch das Problem der Netzsicherheit nicht fremd. So warnte er vor einer „Cyber-Pandemie“, und kurz darauf wurde in Schweden die Supermarktkette Coop Opfer eines Cyber-Angriffs: All ihre 800 Supermärkte mussten notge­drungen ge­schlos­sen bleiben. In den USA gab es fast gleichzeitig eine große Hacker-Attacke gegen die IT-Sicher­heitsfirma Kaseya und damit gegen mehr als 1.000 Unter­nehmen. Zuvor wurde der weltgrößte Fleisch­konzern JBS angegriffen: Das Unternehmen musste als Folge für mehrere Tage Werke in den USA schließen und zahlte elf Millionen Dollar in Kryptowährungen als eine Art „Lösegeld“. Ein paar Tage darauf offenbarten die Enthüllungen über die Spionage-Software

Pegasus, dass es einen schwung­vollen Handel mit Sicherheitslücken und Schad­software gibt. Eine potenzielle Cyber-Pande­mie aber würde laut Schwab schlimmer sein als die aktuelle globale Krise. Natürlich wollen ungefähr alle Parteien höchste IT-Sicherheitsstandards. Aber das sind billi­ge, wohlklingende Forderungen, denen die Realität krass widerspricht, wie allein die aktuel­len Beispiele dieses Sommers illustriert haben. Die Unsicherheit des Netzes ist und bleibt bis auf Weiteres ein gravierendes Manko der Digitalisierung – privat wie öffentlich. Sie trotzdem um jeden Preis voranzutreiben, heißt die Unsicherheit vorantreiben – nicht zuletzt auf dem Gebiet kritischer Infrastruktur, die bekanntlich häufigen Cyberangriffen ausgesetzt ist und deswegen eigentlich vom Netz sollte, wie das schon Thomas Fischermann und Götz Hamann in dem Buch „Zeit­bombe Internet“ gefordert haben. Warum nimmt keine Partei eine solche Forderung in ihr Programm auf?

4) Wenn der Datenschutz erodiert

Schwab warnt in seinem Buch, gerade die kommenden Quantencomputer könnten bald er­hebli­che Risiken für Datenschutz und Sicherheit schaffen. Dass der Datenschutz eine wichtige Angelegenheit sei, bestreitet im Grundsatz selbstverständlich keine Partei. Doch bei CDU/CSU heißt es einschränkend, Datenschutz sei kein „Super-Grundrecht“: Eine übertrie­bene Auslegung von Datenschutzanforderungen dürfe nicht dazu führen, Innovationen zu hemmen und Verfahren bürokratisch zu verlangsamen. Die SPD will „ein Datengesetz schaf­fen, das das Gemeinwohl in den Mittelpunkt rückt. Dafür werden wir eine vertrauens­würdige Daten-Teilen-Infrastruktur fördern, öffentliche Datentreuhänder einrichten und gleichzeitig dafür sorgen, dass die großen Konzerne ihre Daten für gemeinwohlorientierte Ziele teilen müssen. Rückschlüsse auf einzelne Personen dürfen dabei nicht möglich sein.“ Die LINKE will das Prinzip der Datensparsamkeit gesetzlich wirksam verankern. Sie verlangt wegen neuer Möglichkeiten zur digitalen Leistungsüberwachung ein „Beschäftigtendaten­schutz­ge­setz“ und wenigstens für den Schulbetrieb, dass die Datenspeicherung datenschutz­konform und dezentral zu erfolgen habe. Der FDP zufolge soll Deutschland international eine Füh­rungs­rolle beim Recht auf Privatsphäre, Anonymität im Internet und Verschlüsselung sowie beim Schutz personenbezogener Daten und vor Massen­überwachung einnehmen. Die AfD fordert gar ein neues, schlankes Daten­schutz­gesetz: „Einwilligungen zur Datenverarbei­tung müssen jederzeit und wirksam widerrufbar sein.“ Datenschutzbehörden will die Partei stär­ken und „auch gegenüber staatlichen Stellen sanktionsfähig machen, da der Staat diesel­ben Datenschutzregeln wie der Bürger einzuhalten hat.“ Die „Piraten“ fordern: „Schluss mit Vor­ratsdatenspeicherung“. Ob und wie die künftige Bundesregierung angesichts ihres energi­schen Digitalisierungswillens einen wirklich strengen Datenschutz umsetzen oder ihn im Sinne einer Abwehr von „Übertreibungen“ aufweichen wird, muss die Zukunft erweisen. Laut EU-Datenschutzgrund­ver­ord­nung dürfen nur für spezifische Zwecke nötige persönliche Daten verarbeitet werden; dem widerspricht aber die für die transnationale Digital-Identität im Zei­chen von „ID2020“ geplante und von der EU-Kommission unterstützte Speicherung zu all­gemeinen Verwaltungs­zwecken diametral. Wohin also wird der Weg gehen? Die Prognose fällt nicht allzu optimistisch aus, wenn man in die Wahlprogramme jener Parteien blickt, die für die nächste Regierungsbildung realistisch infrage kommen.

5) Ökologisches Desaster am Horizont

Zu den Risiken der digitalen Revolution, denen Schwab ins Auge zu schauen wagt, gehören die ökologischen Auswirkungen der Digitalisierung: „Das Problem externer Effekte und unge­wollter Folgen ist angesichts der Wirkmacht der Techno­logien der Vierten Indus­triellen Revo­lution und der Ungewissheit hinsichtlich ihrer langfris­tigen Auswirkungen auf komplexe Sozial- und Ökosysteme beson­ders akut.“ Er postuliert: „Wir müssen vermei­den, was ten­den­ziell in den vorausgegangenen industriel­len Revolutionen gemacht wurde: nämlich der Natur die Kosten für die neue Tech­nologien aufzubürden. Das wird nicht ein­fach.“ Die meisten Wahlprogramme tun 2021 allerdings noch immer ungefähr so, als wäre es durchaus nicht schwer, diese Dinge in den Griff zu bekommen. Bezeichnend meinen die GRÜNEN sogar: „Mit digitalen und datengetriebenen Innovationen können wir den Energie- und Ressourcen­verbrauch besser reduzieren und bei Zukunftstechnologien führend werden. Hierzu fördern und priorisieren wir digitale Anwendungen und Lösungen, die einen Beitrag zur Ressourcen­schonung leisten oder nachhaltiger sind als analoge.“ Diese Sichtweise bezweifeln viele Experten und warnen, dass die Digitalisierung bedenkliche Folgen haben werde. So warnt der Bund für Umwelt- und Natur­schutz Deutschland (BUND), die kommen­de Ver­netzung von Pro­dukten könne zu er­hebli­chen Mehrver­bräuchen von Energie und Res­sourcen führen; euro­pa­weit sei an Mehrver­bräuche von bis zu 70 Terawattstunden pro Jahr zu denken. Bekanntlich verbrauchen Großrechner unter anderem dank des digitalen Krypto-Gelds wie etwa Bitcoin immer mehr Strom – inzwischen so viel wie allein die Niederlande insge­samt! Den Umwelt­schutz bejahen natürlich alle Parteien, aber die gravierenden ökologischen Herausforderungen durch die digitale Transformation werden gern totgeschwiegen oder kleingeredet. Lediglich die LINKE fordert politische Maß­nahmen, die den Ressourcenver­brauch und Emissionen deckeln und absenken: „Die ökolo­gischen Kosten neuer Anwen­dungen müssen gegen den ge­sellschaftlichen Nutzen abge­wogen werden. Die Digitalisierung erfordert einen hohen Ener­gie- und Ressourcenver­brauch für Rechenzentren und Endgeräte. Das betrifft sowohl den be­nötigten Strom als auch die erfor­derlichen Rohstoffe. Zudem sind die Arbeitsbedingungen in vielen Ländern im Rohstoff­abbau, bei der Herstellung der Geräte und auch im IT-Service oft schlecht. Viele neue Technologien sind zwar energie-effizient, doch werden die Einspa­rungen durch größere Endgeräte, höhere Auflösung, stärkere Nutzung und kürzere Lebens­dauer der Geräte wieder aufgefressen.“ Doch auch hier werden Ökologie und gesellschaftli­cher Nutzen gegeneinander abgewogen – als könne man beides gegeneinan­der ausspielen! Mit Recht hat voriges Jahr Papst Franziskus gewarnt, es sei nicht die Zeit, weiter wegzu­schauen, während der Planet aus Profitgier und im Namen des Fortschritts ge­schändet werde. Die Wahlkampf­programme ticken indessen primär nach dem Diktat des Fortschrittsglaubens – und verkennen die „digitale Fortschrittsfalle“, von der meine so betitelte Broschüre (2. Aufl. 2019) handelt.

6) Gesundheitliche Gefahren

Klaus Schwab sieht nicht zuletzt die menschliche Gesundheit durch die fortschreitende Digi­talisierung keineswegs nur bereichert, sondern auch bedroht. Tatsächlich schwärmen Wahl­pro­gramme gern von den medizinischen Fortschritten dank Digitalisierung, breiten sich aber mitnichten über die Risiken aus. Selbstoptimierung namentlich für Gesunde ist der letzte Schrei der digitalen Revolution; doch welche körperlich und seelisch selbstzerstörerischen oder krankmachenden Elemente birgt der technologische Fanatismus? Welche inneren und äußeren Abhängigkeiten werden durch den Fortschritt produziert? Hier ist nur Raum für zwei exemplarische Themen. Erstens: Mikro-Chips in den eigenen Körper implantieren lassen – würde das überhaupt jeder Mensch vertragen? Der Biotechnologe Markus Schmidt warnt in einem Interview: „Am Ende hat man einen Elektronikfriedhof im Körper.“ Gewiss wird bei diesen Digitaltrend nicht jeder mitmachen wollen, aber Schmidt gibt zu bedenken: „Ab einem gewissen Punkt ist es kaum machbar, nicht mitzumachen… Ohne Gehirnchip wird man zum Menschen zweiter Klasse, obwohl man gesund ist. Andererseits könnte es auch einen Selek­tions­vorteil für diejenigen geben, die keinen Gehirnchip haben. Vielleicht, weil sie dann nicht anfällig sind für Cyberangriffe.“ – Zweitens: Strahlenschutz ist ein sich aufdrängendes Prob­lem der forcierten Digitalisierung, weil und insofern es immer mehr ums mobile Internet geht. Viele Men­schen und Bürgerinitiativen wehren sich aus gesundheitlichen Gründen gegen die zunehmende Mobilfunk-Bestrahlung – und können für ihre kritische Haltung nicht nur einzel­ne Forschermeinungen anführen, sondern auch wissenschaftliche Groß- und Überblicksstu­dien. Das Dilemma ist jedenfalls um den Erdball vorhanden und verstärkt sich derzeit sogar durch zusätzliche Mobil­funkstrahlung aus tausenden von Satelliten. Wie kann es sein, dass lediglich ein einziges der Wahlprogramme für den Deutschen Bundestag, nämlich das der ÖDP auf das Problem eines wirklich angemessenen Strahlenschutzes eingeht? Diese wohl unter der 5-Prozent-Hürde blei­bende Partei fordert einen Stopp des Ausbaus vorhande­ner und zu­künftiger 5G-/6G-Mobil­funkinfrastruktur, bis Risiken für Mensch und Umwelt durch unab­hängige wissen­schaftliche Studien ausge­schlossen sind – und die Förderung, ja breite Einfüh­rung technischer Alterna­tiven der mobilen Informations- und Kommunikations­infrastruktur wie etwa licht­basierte Technik (Li-Fi/VLC). Nicht einmal die GRÜNEN konnten sich zur Be­rücksich­tigung dieses bedrängenden, der Digitalisierung freilich zuwiderlaufenden Themas entschließen! Neben den großen Parteien fordert sogar die Tierschutzpartei ebenso wie die Piraten­partei einen flächen­deckenden Ausbau der neuen Mobilfunkgenerationen.

Digitalisierungskritik steht nicht zur Wahl

Statt hier noch weitere Themen rund um die Digitalisierung politisch zu beleuchten, sei ab­schließend darauf hingewiesen, wie Klaus Schwab sich ungefähr die Lösung und Be­kämp­fung der kritischen Aspekte des digitalen Wandels denkt. Er behauptet beruhigend: „Wir haben es vollständig selbst in der Hand, wohin sich die Vierte In­dustrielle Revolution ent­wickelt – und sie steht noch ganz am Anfang.“ Dass sie noch ganz am Anfang steht, ist rich­tig, aber dass „wir“nun etwa als Wählerinnen und Wählerdie Entwicklung voll­ständig selbst in der Hand hätten, ist eine bittere Täuschung. Vielmehr wird es die nächste Bun­des­regierung bestimmen können – freilich in internationaler Abstimmung. Wenn Schwab einen „glo­balen Diskurs“ darüber fordert, wie Technologien die uns umge­ben­den Systeme verän­dern und „das Leben jedes einzelnen auf diesem Planeten be­einflussen“ können oder dürfen, fragt sich, ob er dabei insgeheim vor allem an die Plattform seines Weltwirtschafts­forums denkt – und wie er denn seine schönen oder besser: beschönigenden For­mulierungen in Ein­klang bringen will mit dem Einge­ständ­nis, dass „wir von neuen Systemen mit ge­waltigem Einflussvermögen um­geben werden“. Klingt nicht angesichts der Faktenlage und manch be­sorgniserregender Aussichten seine Äußerung fast zynisch, alle Bürger seien „aufge­fordert, die Vierte Industrielle Revolution ge­meinsam zu gestalten“ – zumal er doch wörtlich ein­räumt, diese High-Tech-Revolution“ drohe „die Wahlmöglich­keiten der Men­schen“ zu unter­graben? Tatsächlich zeigt die Analyse der Wahl­programme 2021 in Deutsch­land: Echte Wahlmöglichkeiten sind in Sachen Digitalisierung offen­sichtlich schon kaum mehr gegeben.

Dr. theol. habil. Werner Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Universität Er­lan­gen-Nürnberg, Pfarrer i.R. und Publizist (www.werner-thiede.de). Zuletzt erschien von ihm „Unsterblichkeit der Seele? Interdisziplinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage“ (2. Auflage, Berlin 2022); im Druck befindet sich das Büchlein „Himmlisch wohnen. Auferstanden zu neuem Leben“ (Leipzig 2023).


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