Politik

Die Taliban weiten Kontrolle in Afghanistan aus, nähern sich Kabul

Mehr als die Hälfte der Provinzhauptstädte in Afghanistan haben die Taliban bereits erobert, darunter Großstädte wie Herat und Kandahar. Nun rücken sie an die Hauptstadt Kabul heran.
13.08.2021 16:25
Aktualisiert: 13.08.2021 16:25
Lesezeit: 3 min
Die Taliban weiten Kontrolle in Afghanistan aus, nähern sich Kabul
Anhänger der militant-islamistischen Taliban patrouillieren am Freitag in der Stadt Gasni im Osten Afghanistans. (Foto: dpa) Foto: Gulabuddin Amiri

Die militant-islamistischen Taliban haben in Afghanistan ihre Gebietsgewinne in rasantem Tempo fortgesetzt und binnen einer Woche mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte eingenommen. Am Freitag waren 18 der 34 Provinzhauptstädte unter Kontrolle der Islamisten. Nach der zweitgrößten Stadt Kandahar in der Nacht und der wichtigen Stadt Laschkargah am Morgen eroberten die Taliban mit Pul-i Alam in der Provinz Logar eine Provinzhauptstadt nur rund 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul.

Die Taliban hätten dort die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen und den Provinzgouverneur sowie den Geheimdienstchef gefangen genommen, sagten ein Provinzrat und ein Parlamentarier. Aus Sicherheitskreisen heißt es seit längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Die Taliban kontrollieren fünf der sieben Bezirke, die zwei näher zur Provinz Kabul liegenden - Choschai und Mohammed Agha - sind umkämpft. Von Pul-i Alam sind es nur rund eineinhalb Stunden mit dem Auto nach Kabul.

Der afghanische Präsident Aschraf Ghani schwieg lange zur Lage. Am Freitagnachmittag (Ortszeit) teilte sein Vizepräsident Amrullah Saleh mit, in einer Sicherheitssitzung im Präsidentenpalast sei entschieden worden, weiter der «Armee der Ignoranz und des Terrors», damit meinte er die Taliban, entgegenzustehen. Man werde den Sicherheitskräften alle dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird geschätzt, dass es rund 300 000 Sicherheitskräfte und 60 000 Taliban-Kampfer gibt.

Mehrere Staaten bereiten sich mittlerweile auf die Evakuierung ihrer Botschaftsmitarbeiter und anderer Staatsbürger vor. Die US-Streitkräfte verlegen sofort rund 3000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul. Damit solle eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hieß es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums.

Nach Informationen der New York Times haben US-Unterhändler Vertreter der Taliban gebeten, die US-Botschaft in Kabul nicht anzugreifen, falls sie die Regierungsgeschäfte übernehmen und jemals ausländische Hilfe bekommen wollen.

Zudem verlegen die USA demnach bis zu 4000 weitere Soldaten nach Kuwait und 1000 nach Katar - für den Fall, dass Verstärkung gebraucht wird. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag (Ortszeit).

Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten aus Afghanistan zu sichern. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weißen Haus erklärt, die Afghanen müssten nun «selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen».

Nach Einschätzung der UN wird die Lage der Menschen in Afghanistan immer verzweifelter. «Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe», sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf. Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, erklärte ein Sprecher des UN-Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.

Mehr zum Thema: Pro Asyl fordert Sofort-Aufnahmeprogramm für bedrohte Afghanen

Die Taliban nähern sich weiter einer militärischen Machtübernahme im Land. Am Freitag folgte die Einnahme der Städte Firus Koh in der Provinz Ghor, Tirinkot in der Provinz Urusgan und Kalat in der Provinz Sabul. Drei Großstädte, darunter die Hauptstadt Kabul und Masar-i-Scharif im Norden, sind noch unter Kontrolle der Regierung. Es gibt Berichte über Angriffe auf weitere kleinere Provinzhauptstädte des Landes.

In Kandahar hatte es mehr als drei Wochen lang schwere Zusammenstöße zwischen der Regierung und den Taliban gegeben, bevor die Sicherheitskräfte in der Nacht zum Freitag die zweitgrößte Stadt des Landes räumten, wie der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin sagte, der die Provinz im Parlament vertritt.

Die Regierungstruppen hätten schließlich die wichtigsten Behörden verlassen und im 205. Armeekorps der Provinz Zuflucht gesucht. Kandahar mit seinen mehr als 650 000 Einwohnern ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und das wirtschaftliche Zentrum des Südens. Sie war auch Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er Jahren. Die Stadt diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.

Auch Laschkargah in der Provinz Helmand war seit Wochen schwer umkämpft. Viele Afghanen gingen aufgrund der heftigen Angriffe davon aus, dass sie die erste wichtige Stadt sein werde, die an die Islamisten fällt. Als die Regierung Ende Juli nur mehr zwei der zehn Polizeibezirke in der Stadt mit geschätzt 200.000 Einwohnern hielt, wurden aus Kabul noch einmal Spezialkräfte entsandt. Diese schafften es mit Unterstützung durch viele Luftangriffe der afghanischen und der US-Streitkräfte zunächst, die Lage zu stabilisieren, wobei aber auch etwa ein Krankenhaus und eine Universität getroffen wurden.

Nach anhaltenden schweren Angriffen und dem Einsatz auch von Autobomben gegen das noch von der Regierung gehaltene Polizeihauptquartier allerdings wendete sich die Situation in der Nacht zu Freitag zugunsten der Taliban. Der Provinzrat Abdul Madschid Achundsada sagte am Freitagmorgen (Ortszeit), die Taliban hätten die gesamte Stadt eingenommen. Der Kommandeur des 205. Armeekorps, Sami Sadat, sei mit dem Gouverneur ausgeflogen worden. Restliche verbliebene Sicherheitskräfte hätten die Stadt auf dem Landweg verlassen.

Am Donnerstag alleine konnten die Islamisten drei Städte einnehmen - darunter die drittgrößte Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Gasni, die nur 150 Kilometer von Kabul entfernt liegt.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Politik
Politik Nordkoreas Kronprinzessin: Kim Ju-Ae rückt ins Zentrum der Macht
18.07.2025

Kim Jong-Un präsentiert die Zukunft Nordkoreas – und sie trägt Handtasche. Seine Tochter Kim Ju-Ae tritt als neue Machtfigur auf. Was...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Birkenstock: Von der Orthopädie-Sandale zur globalen Luxusmarke
18.07.2025

Birkenstock hat sich vom Hersteller orthopädischer Sandalen zum weltweit gefragten Lifestyle-Unternehmen gewandelt. Basis dieses Wandels...

DWN
Politik
Politik 18. Sanktionspaket verabschiedet: EU verschärft Sanktionsdruck mit neuen Preisobergrenzen für russisches Öl
18.07.2025

Die EU verschärft ihren wirtschaftlichen Druck auf Russland: Mit einem neuen Sanktionspaket und einer Preisobergrenze für Öl trifft...

DWN
Politik
Politik China investiert Milliarden – Trump isoliert die USA
18.07.2025

China bricht alle Investitionsrekorde – und gewinnt Freunde in aller Welt. Trump setzt derweil auf Isolation durch Zölle. Wer dominiert...

DWN
Finanzen
Finanzen Energie wird unbezahlbar: Hohe Strom- und Gaskosten überfordern deutsche Haushalte
18.07.2025

Trotz sinkender Großhandelspreise für Energie bleiben die Kosten für Menschen in Deutschland hoch: Strom, Gas und Benzin reißen tiefe...

DWN
Finanzen
Finanzen Finanzen: Deutsche haben Angst um finanzielle Zukunft - Leben in Deutschland immer teurer
18.07.2025

Die Sorgen um die eigenen Finanzen sind einer Umfrage zufolge im europäischen Vergleich in Deutschland besonders hoch: Acht von zehn...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Kursgewinne oder Verluste: Anleger hoffen auf drei entscheidende Auslöser für Börsenrally
18.07.2025

Zölle, Zinsen, Gewinne: Neue Daten zeigen, welche drei Faktoren jetzt über Kursgewinne oder Verluste entscheiden. Und warum viele...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Wenn Kunden nicht zahlen: So sichern Sie Ihre Liquidität
18.07.2025

Alarmierende Zahlen: Offene Forderungen in Deutschland sprengen die 50-Milliarden-Euro-Marke. Entdecken Sie die Strategien, mit denen Sie...