Die liberale dänische Tageszeitung «Politiken» (Kopenhagen) kommentiert am Montag die Situation in Afghanistan mit Blick auf den Abzug der USA aus Saigon im Jahr 1975:
«Afghanistan ist die größte Niederlage der USA seither und ein äußerst demütigendes Ende des längsten Krieges der Supermacht aller Zeiten. Und so wie die Niederlage in Vietnam zu einem Umdenken in der US-Außenpolitik führte, muss die Niederlage in Afghanistan sowohl die USA als auch ihre Verbündeten dazu bringen zu überdenken, was mit einer militärischen Intervention erreicht werden kann. Die afghanischen Frauen sind nun auf dem Weg zurück zur Burka, und alle, die dem Westen geholfen und an unsere Vision einer liberaleren und offenen Gesellschaft geglaubt haben, sind in Lebensgefahr. Es ist fast unerträglich, das zu sehen.»
Zur Lage in Afghanistan schreibt die italienische Zeitung «La Repubblica» aus Rom am Montag:
«Vier Jahre nach der Auflösung des Islamischen Staates durch Abu Bakr al-Bagdadi, ist die Rückeroberung eines großen Teils Afghanistans durch die Taliban, die nun in Kabul eingezogen sind, ein Sieg für den weltweiten Dschihad, weil sie dem extremeren sunnitischen Fundamentalismus das Gebiet einer Nation zurückgibt, in dem sie ihr eigenes Modell eines Emirats errichten können, das auf der dunkleren Version der Scharia, dem islamischen Gesetz, basiert. (...)
Man muss sich fragen, was der Ursprung der Taliban-Rückeroberung ist, sprich, was in Afghanistan schief gelaufen ist. Es gibt keinen Zweifel, dass die Entscheidung der Vereinigten Staaten - von Ex-Präsident Donald Trump getroffen und von seinem Nachfolger Joe Biden bestätigt - die Truppen abzuziehen, die Initialzündung für die aktuelle Eskalation war, die dazu führte, dass die schwache afghanische Nation sich selbst überlassen wurde. Ebenso ist die Nato mit dem offensichtlichen Scheitern der Machtübergabe an die lokale Führung konfrontiert, für die sie enorme Ressourcen bereitgestellt hat.»
Zur Eroberung der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die militant-islamistischen Taliban schreibt die russische Tageszeitung «Kommersant» am Montag:
«An einem Tag ist in Afghanistan der Machtapparat zusammengebrochen. Sonntag, der 15. August, ist zu einem historischen Datum in der neueren Geschichte Afghanistans geworden: Kabul ist gefallen, Präsident Aschraf Ghani geflohen; und es haben die Verhandlungen für eine "friedliche Machtübergabe" an die Taliban begonnen – also über die Bedingungen der Kapitulation der afghanischen Regierung.
Die Eroberung Kabuls durch die in Russland verbotene Taliban-Bewegung verlief zielgerichtet und ohne Blutvergießen. Nach Meinung von Experten könnten hinter einer so schnellen Veränderung der Lage Vereinbarungen zwischen den USA, den Taliban und den sie unterstützenden Kräften in Pakistan stehen.
Indem sie das System des von den USA fallengelassenen Präsidenten Ghani gestürzt haben, müssen die Taliban nun aber mit einer für sie neuen und schwierigen Aufgabe fertig werden: das gespaltene Land zusammenführen und Fehler der Vergangenheit vermeiden, um internationale Anerkennung und Hilfe aus dem Ausland zu erhalten.»
Der Zürcher «Tages-Anzeiger» kommentiert am Montag den Sieg der Taliban:
«Es wäre naiv, den salbungsvollen Beteuerungen der Taliban zu glauben, dass sie die Rechte der Frauen oder der Presse respektieren und Volk und Land dienen wollen. Was die Worte der Steinzeit-Islamisten wert sind, hat die Vergangenheit gezeigt, nämlich gar nichts: Sie wollen kein Parlament, keine Wahlen und schon gar keine Religionsfreiheit, sondern einen Emir und ein paar Mullahs, die im Namen ihrer Scharia so herrschen, wie es ihnen passt.
Mitverantwortlich dafür, dass es so weit kommen konnte, war auch die korrupte Regierung in Kabul. Vor allem aber lag es daran, dass die USA samt westlichen Partnern ihren Einfluss auf Afghanistan 20 Jahre lang massiv überschätzt hatten. Seit 2001 pumpten sie astronomische Summen in den Aufbau der Sicherheitskräfte. Die Regierung Biden ging deshalb davon aus, dass die Taliban mindestens eineinhalb Jahre benötigen würden, um zurück an die Macht zu kommen. Nun dauerte es eineinhalb Wochen. Mit ihrer brutalen und gerissenen Strategie haben die Taliban die USA und generell den Westen komplett überrascht.»
Die konservative Zeitung «Lidove noviny» aus Tschechien schreibt am Montag zum Vormarsch der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan:
«Der Sturz Kabuls kommt so plötzlich, dass er in der Psyche der westlichen Gesellschaften Spuren hinterlassen wird. Für die Europäer dürfte es das Ende der Ära der Militäreinsätze im Ausland bedeuten. Im Jahr 2002 hatte der damalige deutsche Verteidigungsminister Peter Struck noch gesagt, die Sicherheit der Bundesrepublik werde auch am Hindukusch verteidigt. Heute würden ihn die Wähler auslachen. Die Diskussionen im Internet sprechen eine klare Sprache: Nein zu Migration, Nein zu Hilfseinsätzen, Nein zu Rettungsaktionen für andere. Das ist zwar nichts Neues oder Schönes, doch der spektakuläre Sturz Kabuls verleiht dem noch einmal Nachdruck.»
Zur Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan meint die «Neue Zürcher Zeitung» am Montag:
«Ein großer Teil der Verantwortung liegt bei Präsident Joe Biden persönlich. Er hielt nach seinem Amtsantritt an seiner festgefahrenen Überzeugung fest, dass ein weiteres militärisches Engagement am Hindukusch wertlos sei. Er überstimmte die Pentagon-Führung, die für eine fortgesetzte Militärpräsenz eintrat, und ignorierte sämtliche Experten, die mit dem überhasteten Totalabzug eine Katastrophe heraufziehen sahen. (...)
Doch Biden unterschätzt, dass Amerika mit diesem Fiasko erneut als unzuverlässiger Akteur wahrgenommen wird – ein Eindruck, den er nach den Wirren der Ära Trump eigentlich korrigieren wollte. Auch verliert Washington weitgehend die Möglichkeit, Einfluss auf die Region zu nehmen. Flüchtlingsströme dürften über Afghanistan hinaus zu Erschütterungen führen. Bedrohlich ist zudem das Szenario, dass sich unter dem Schutz der Taliban wie in den neunziger Jahren Terrorzellen bilden. Mit Blick auf den bevorstehenden 20. Jahrestag der Kaida-Anschläge von 2001 drängt sich daher der Eindruck auf, dass Amerika eine der wichtigsten Lehren aus der damaligen Tragödie bereits vergessen hat.»
Zur Machtübernahme der Taliban meint die niederländische Zeitung «De Telegraaf» am Montag:
«Der Aufmarsch der Terrortruppe ist eine Niederlage für den Westen, mit den USA von Präsident Joe Biden an der Spitze. Wenn die Berichte über die Einführung der Scharia und andere grausame Praktiken stimmen, dann wird schnell ein Exodus von Afghanen in Gang kommen. Auf den Flüchtlingsstrom muss eine passende Antwort gefunden werden. Unser Land könnte sich zu einer strengen Asylpolitik gezwungen sehen.
Für eine Personengruppe muss jedoch schnell gehandelt werden: Wachleute und andere, die uns im Kampf gegen die Extremisten geholfen haben. Wie ernst die Lage für sie ist, wird daran sichtbar, dass sie sich in der Höhle des Löwen zu erkennen geben und Arbeitsvereinbarungen mit dem niederländischen Staat in Händen halten, in denen anscheinend eine Fürsorgepflicht erwähnt wird. Der muss nachgekommen werden, bevor es zu spät ist.»
Zum Sieg der Taliban meint die belgische Zeitung «De Standaard» am Montag:
«Dass der Vormarsch der Taliban schneller verlief als erwartet, kann nur daran liegen, dass sie doch Unterstützung der Bevölkerung erhielten. Die Afghanen wollen endlich Ruhe und Stabilität. Viele hoffen, dass die Taliban sie bringen. Wenn dafür ein Preis zu zahlen ist, dann ist das eben so. Dass der Preis vor allem von den Frauen gezahlt wird, ist offensichtlich vielen egal.
Die afghanische Gesellschaft ist ungeachtet des westlichen Engagements eine ultrakonservative Männergesellschaft geblieben, vor allem auf dem Lande und in den kleinen Städten. (...) Die Verzweiflung vieler junger Frauen muss groß sein. Zwar haben die Taliban versprochen, dass Mädchen weiterhin zur Schule gehen dürfen und dass die Burka nicht zur Pflicht wird. Doch wer will das glauben?»