Deutschland

Industrie verzeichnet stärkste Aufträge seit 1991, wird aber nicht liefern können

Die deutsche Industrie überrascht mit Aufträgen in Rekordhöhe. Doch Ökonomen dämpfen den Optimismus.
06.09.2021 09:45
Aktualisiert: 06.09.2021 09:45
Lesezeit: 2 min

Die deutsche Industrie hat ausgerechnet in einer Phase massiver Produktionsprobleme eine Rekordflut an Aufträgen erhalten. Das Neugeschäft wuchs im Juli wegen Großbestellungen aus dem Ausland um 3,4 Prozent zum Vormonat. "Der Auftragseingang erreichte damit seinen höchsten Stand seit dem Beginn der Zeitreihe im Jahr 1991", gab das Statistische Bundesamt am Montag bekannt. Das kommt völlig überraschend: Von Reuters befragte Ökonomen hatten mit einem Rückgang von 1,0 Prozent gerechnet, nach einem sehr starken Wachstum von 4,6 Prozent im Juni. "Wahnsinn", kommentierte der Chefvolkswirt der VP Bank, Thomas Gitzel, die unerwartete Entwicklung. Da einer Umfrage des Ifo-Instituts zufolge 70 Prozent der Industriebetriebe aktuell über Engpässe bei Vorprodukten wie Mikrochips klagen, dürfte sich das Abarbeiten des Auftragsberges allerdings erheblich verzögern.

Ohnehin ist nicht alles Gold, was da glänzt. "Der deutliche Anstieg im Vormonatsvergleich kommt durch Großaufträge zustande", erklärten die Statistiker, die hier etwa den Bereich Schiffsbau erwähnten. Ohne die Berücksichtigung von Großaufträgen wären die Bestellungen um 0,2 Prozent gefallen. "Damit mehren sich die Zeichen, dass der Auftragsboom in der Industrie allmählich abebbt", sagte Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen dazu. "Angesichts des inzwischen erreichten Niveaus der Auftragseingänge ist dies kaum verwunderlich." Gemessen am Februar 2020, dem Monat vor Beginn der Einschränkungen im Zuge der Corona-Pandemie, liegen die Aufträge nun um 15,7 Prozent höher.

Für das gute Abschneiden im Juli sorgte zudem allein die höhere Auslandsnachfrage: Diese zog um 8,0 Prozent an, insbesondere aus den Regionen außerhalb der Euro-Zone (+15,7 Prozent). Die Bestellungen aus dem Inland ließen dagegen um 2,5 Prozent nach. Experten zweifeln, ob insbesondere das Übersee-Geschäft auch künftig so brummen wird. "Die Entwicklung in Fernost könnte die deutsche Wirtschaft etwas ausbremsen", warnte Ökonom Gitzel. "Die chinesische Konjunktur kühlt sich derzeit ab, was auch an der deutschen Industrie nicht spurlos vorüberziehen wird."

"DEUTSCHLAND KANN NICHT LIEFERN"

Experten sind zudem skeptisch, ob die Unternehmen ihre prall gefüllten Auftragsbücher alsbald in eine höhere Produktion umsetzen können. "Alle Welt braucht deutsche Waren, aber Deutschland kann nicht liefern", sagte Ökonom Jens-Oliver Niklasch von der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW). "Aufgrund fehlender Materialien und Vorprodukte gibt es erhebliche Schwierigkeiten, die Aufträge abzuarbeiten", pflichtete Ökonom Bastian Hepperle vom Bankhaus Lampe bei. "Eine rasche Lösung zeichnet sich aber nicht ab." Die Produktion sowie die Konjunkturerholung könnten dadurch auch in den kommenden Monaten gebremst werden.

Ein Indiz dafür ist, dass der reale Umsatz im Verarbeitenden Gewerbe viel langsamer wächst als das Neugeschäft. Er legte im Juli nur um 1,9 Prozent zum Vormonat zu. "Die seit einigen Monaten zu beobachtende Tendenz zu ansteigenden Auftragseingängen bei gleichzeitig schwacher Umsatzentwicklung dürfte unter anderem auf die in vielen Branchen berichteten Lieferengpässe von Vorprodukten zurückzuführen sein", so die Statistiker.

Die Dynamik bei der Industrieproduktion dürfte in der gesamten zweiten Jahreshälfte eher verhalten bleiben, erwartet das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Dessen Wissenschaftlicher Direktor Sebastian Dullien kündigte deshalb an, die Prognose für das Wirtschaftswachstum im laufenden Jahr von derzeit 4,5 Prozent zu senken. "Gleichzeitig bedeutet der hohe, nicht abgearbeitete Auftragsbestand der Unternehmen, dass sich die Wachstumsaussichten für 2022 verbessern", sagte der Ökonom.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Wie schützt man seine Krypto-Wallet? CLS Mining ermöglicht Nutzern eine stabile tägliche Rendite von 6.300 €.

Der Kryptowährungsmarkt erholte sich heute umfassend, die Stimmung verbesserte sich deutlich. Meme-Coins führten den Markt erneut an....

X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Nvidia-Aktie und Microsoft-Aktie: Anthropic-Deal stärkt Position bei künstlicher Intelligenz
20.11.2025

Microsoft und Nvidia setzen mit Milliardeninvestitionen auf das KI-Start-up Anthropic. Die US-Giganten stärken damit ihre Position im...

DWN
Politik
Politik Friedensverhandlungen in Sicht? USA arbeiten an Ideen für Kriegsende in der Ukraine – Kritik von der EU
20.11.2025

Ein angeblicher 28-Punkte-Plan für ein Kriegsende in der Ukraine sorgt für Aufsehen. Kiew sieht sich unter Druck. In der EU regt sich...

DWN
Politik
Politik Trump erhält freie Hand: USA bereiten massive Strafzölle und Sanktionen gegen Russlands Handelspartner vor
20.11.2025

Präsident Donald Trump unterstützt ein Gesetz, das weltweite Schockwellen auslösen könnte: Die USA wollen Staaten bestrafen, die...

DWN
Finanzen
Finanzen US-Börsen nach Nvidia-Zahlen im Aufwind: Wie Anleger jetzt von KI-Investitionen profitieren
20.11.2025

Die US-Börsen zeigen sich am Donnerstag zum Start mit Zuschlägen. Nachdem die Nvidia-Quartalszahlen deutlich besser als erwartet...

DWN
Immobilien
Immobilien Baukosten: Bund will Bauen günstiger und schneller machen
20.11.2025

Weniger Vorschriften, mehr Wohnraum: Der Gebäudetyp E soll das Bauen nicht nur günstiger, sondern auch flexibler für Bauherren machen.

DWN
Unternehmen
Unternehmen MAN Truck & Bus: LKW-Hersteller baut 2.300 Stellen in Deutschland ab
20.11.2025

Der Lastwagen- und Bushersteller MAN will in Deutschland rund 2.300 Stellen abbauen. Belastend seien hohe Strom- und Arbeitskosten und der...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Anpassung an die Klimakrise: EU erhöht Druck beim Ausstieg aus Öl und Gas
20.11.2025

Deutschland hatte sich schon im Vorfeld zusammen mit anderen Staaten in Belém für einen Fahrplan zur Abkehr von Öl, Gas und Kohle stark...

DWN
Politik
Politik Sie gehört zu den mächtigsten Frauen der EU: Jetzt geht sie auf Konfrontationskurs mit Trump
20.11.2025

Die Spannungen zwischen der EU und den USA erreichen einen neuen Höhepunkt. Donald Trump attackiert europäische Digitalgesetze, droht mit...