Starke Gewinne bei der SPD, herbe Verluste für CDU/CSU: Die Sozialdemokraten mit ihrem Kanzlerkandidaten Olaf Scholz sind den Hochrechnungen zufolge erstmals seit 2002 als stärkste Kraft aus der Bundestagswahl hervorgegangen, während CDU/CSU nach starken Verlusten ihr bislang schlechtestes Abschneiden hinnehmen muss. Allerdings zeichnet sich bereits eine schwierige Regierungsbildung ab, da prinzipiell zwei Koalitionen möglich sind. Den Ausschlag geben werden die zur Nummer drei aufgestiegenen Grünen und die FDP, die sich als viertstärkste Kraft etablieren konnte. Ökonomen sagten in ersten Reaktionen:
JÖRG KRÄMER, COMMERZBANK-CHEFVOLSKWIRT:
"Viele Anleger und Unternehmer dürften erleichtert sein, dass ein rot-grün-rotes Bündnis im neuen Bundestag voraussichtlich keine Mehrheit hat. Das stärkt die Verhandlungsposition der FDP, ohne die niemand eine stabile Regierung bilden kann, wenn man von einer großen Koalition absieht. Ein wirtschaftspolitischer Linksschwenk ist damit vom Tisch. Aber auch ein marktwirtschaftliches Reformprogramm ist sehr unwahrscheinlich, weil die Grünen als unabdingbarer Partner jeder Koalition wirtschaftspolitisch anders ticken als die FDP. Eine wirtschaftspolitische Trendwende zeichnet sich damit nicht ab. Ich erwarte am Montag keine wesentlichen Marktreaktionen.
Auf eine neue Bundesregierung kommt viel zu. Anders als Angela Merkel im Jahr 2005 übernimmt eine neue Regierung keine Volkswirtschaft mit einer herausragenden Standortqualität. Gemessen an Faktoren wie der Länge von Genehmigungs- oder Gerichtsverfahren, Steuersätzen etc., die für eine konkrete unternehmerische Tätigkeit wichtig sind und von der Weltbank erhoben werden, ist Deutschland innerhalb der EU nur noch ein mittelmäßiger Standort. Vor gut zehn Jahren lag Deutschland noch im vorderen Drittel."
GABRIEL FELBERMAYR, PRÄSIDENT INSTITUT FÜR WELTWIRTSCHAFT (IFW):
"Es wird vermutlich nicht für einen Rot-Rot-Grüne-Koalition reichen, damit ist nicht mit einer extremen Umstrukturierung der Wirtschaftspolitik in Deutschland zu rechnen. Aus wirtschaftlicher Sicht ist dies zunächst eine gute Nachricht.
Deutschland steht nun aber eine schwierige Regierungsbildung ins Haus, die sich über Monate ziehen könnte. Ob Ampel, Jamaika oder Minderheitsregierung: Man muss damit rechnen, dass die zukünftige Regierung relativ schwach sein wird, weil sich ideologisch stark unterschiedlich positionierte Parteien auf ein Programm einigen müssen. Eine länger andauernde Lähmung und politische Unsicherheit bedeuten wirtschaftlich nichts Gutes, vor allem angesichts der enormen anstehenden Zukunftsaufgaben. Weil ohne die Grünen gar nichts geht, ist mit einer starken Ausrichtung auf Klimapolitik zu rechnen. Für andere Themen, zum Beispiel das Thema Rentenreform, wird wohl wenig Energie bleiben. Vermutlich wird in jeder Koalition ohne neue Schulden gar nichts gehen, weil man Geld für die Umsetzung wenigstens einiger der Lieblingsprojekte der Koalitionspartner brauchen wird, es aber immer bei einem Partner Widerstand für Strukturreformen geben wird."
THOMAS GITZEL, CHEFVOLKSWIRT VP BANK:
"An den Finanzmärkten wird der Wahlausgang gelassen aufgenommen werden. Zu einem Linksbündnis wird es mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht kommen. Damit ist das größte Risiko aus Finanzmarktsicht ausgeräumt. Damit steht aber auch fest: Mit einem deutlichen Bruch der bisherigen Regierungsarbeit ist nicht zu rechnen. Auch der Einzug der SPD ins Bundeskanzleramt würde Kontinuität bedeuten. Olaf Scholz sind solide Staatsfinanzen wichtig, alleine das wirkt für die Finanzmärkten beruhigend. Und zunächst gilt: Solange die Regierungskoalition noch offen ist, gibt es ohnehin keinen Grund Finanzwetten abzuschließen. Der Euro wird auf die Bundestagswahl keine größeren Reaktionen zeigen."
ALEXANDER KRÜGER, CHEFVOLKSWIRT BANKHAUS LAMPE:
"Nachdem ein Linksrutsch offenbar vom Tisch ist, sind rechnerisch mehrere Koalitionen möglich, die neben Klimapolitik auch andere wichtige Themen vorwärtsbringen können. Dazu sollte vor allem auch eine Wachstumsagenda zählen, über die im Wahlkampf viel zu wenig gesprochen wurde. Vieles deutet allerdings auf schwierige und eventuell auch langwierige Koalitionsverhandlungen hin, vor allem im Falle eines Dreierbündnisses. Um den Kanzler zu stellen, werden CDU und SPD wohl zu den größten Zugeständnissen bereit sein. Aktieninvestoren dürften sich über das vertriebene rot-grün-rote Schreckgespenst erleichtert zeigen. Unabhängig vom künftigen Politikkurs bleiben Sachwertanlagen zentral, da sich an der Nullzinspolitik der EZB in der kommenden Legislaturperiode nichts ändern wird."