Im Juli 2021 hat die Europäische Union ihr Projekt des „Grünen Deals“ vorgestellt. Es soll und es wird die ökonomische und gesellschaftliche Dynamik in Kontinentaleuropa komplett umstellen, dem Anspruch nach hin zu einer klimaneutralen Zukunft. Im ersten Teil unserer Analyse haben wir einige Aspekte der Produktionsseite analysiert. Ergebnis: Die Emissionen der verarbeitenden Industrie sind, so wie sie in der offiziellen Statistik erfasst werden, in Europa über die letzten zwei Jahrzehnte scharf gefallen. Aber: Effektiv hat einfach eine Auslagerung der Produktion und damit dieser Emissionen nach China, in andere Schwellenländer in Asien - darunter die erdölproduzierenden Länder -, sowie vor allem nach Ostmitteleuropa stattgefunden. Die effektiven CO2-Emissionen dürften durch diese Verlagerung im globalen Maßstab sogar scharf angestiegen statt gefallen sein, weil Chinas Wachstumsmodell essentiell auf Energie aus Kohlekraftwerken, auf extremer Verschwendung, struktureller massiver Über- und Fehlinvestition sowie schwacher Energie-Effizienz beruht. Energie, die aus der Verbrennung durch Kohle gewonnen wird, ist die mit Abstand CO2-intensivste Energie überhaupt, und setzt darüber hinaus auch zusätzlich gewaltige Mengen an Feinstaub und anderen Abgasen frei. Die Emissionen dieser ausgelagerten Produktion stecken in den Importen, welche Europa aus der „Fabrik der Welt“ und anderen Schwellenländern sowie aus Ostmitteleuropa bezieht. Diese Emissionen werden aber nicht in den nach nationalen Gesichtspunkten strukturierten Statistiken von CO2-Werten erfasst. Ähnliches gilt für die Vereinigten Staaten, und repräsentiert dort sogar noch ein größeres Ausmaß.
In den nächsten beiden Wochen findet in Glasgow eine weitere, nämlich die 26. UN-Klimakonferenz statt. Diese „COP 26“ beschäftigt sich mit den Plänen der Teilnehmerländer, und bereits im Vorfeld wurden erhebliche Differenzen zwischen den angekündigten und den klimapolitisch als notwendig erachteten nationalen Maßnahmen-Plänen festgestellt. Die nationalen Politiken müssten mehr tun, lautet das Kredo.
Klimaschutz ist auch ein Hauptthema der deutschen Innenpolitik und Gegenstand der aktuell laufenden Koalitionsverhandlungen. Dabei scheinen in Deutschland seit Jahren die Proportionen verschoben und die globale Dynamik eigener Handlungsweisen völlig unberücksichtigt. Dieser Artikel versucht, ein Verständnis dafür zu schaffen. Er legt den Akzent auf einige in der öffentlichen Diskussion vernachlässigte Aspekte, und ja bewusst verschwiegene Aspekte.
Die CO2-Emissionen als globaler Prozess - ein Überblick im Zeitraffer
Die Grundaussagen des oben erwähnten vorangegangenen Artikels sollen anhand von zwei Graphiken illustriert werden. Die erste Graphik zeigt die Entwicklung des CO2-Ausstoßes seit 1750 nach Wirtschaftsräumen, die zweite illustriert dieselbe Entwicklung in Prozentanteilen des Totals. Natürlich sind diese Zahlen mit einer gehörigen Portion Vorsicht zu genießen, da sie auf Modellrechnungen und nicht auf zeitgenössischen Erhebungen basieren. Die Zahlen seit dem Zweiten Weltkrieg habe ich verglichen mit denen anderer Organisationen wie der verfügbare. Was hier nicht diskutiert werden kann, ist die Validität der unterstellten klimapolitischen Zusammenhänge.
Graphiken 1 und 2: Globale Entwicklung der CO2-Emissionen in Tonnen und in Prozent nach Wirtschaftsräumen:
Die CO2-Emissionen sind eine Folge modernen Wirtschaftswachstums. Bis 1850 waren sie praktisch inexistent, mindestens aus heutiger Perspektive. Von 1850 bis 1950 sind sie erstmals stark angestiegen, auf fünf Milliarden Tonnen jährlich. In diesem Zeitraum dominierten Europa, im 19. Jahrhundert noch das Vereinigte Königreich, und ab ungefähr 1900 die Vereinigten Staaten. Diese alten Industrie-Länder machten 1950 noch mehr als 80 Prozent der globalen CO2-Emissionen aus. Kohle sowie in den USA Erdöl waren die wichtigsten Treiber dieses Anstiegs.
Ab 1950 begannen diese Emissionen steil anzusteigen und erreichten 1980 schon fast 20 Milliarden Tonnen. Bis zu diesem Zeitpunkt dominierten die Vereinigten Staaten und Europa immer noch mit kombiniert einem Anteil von rund zwei Dritteln. Zu dieser massiven Explosion trugen das sehr starke und vor allem Energie-intensive Wirtschaftswachstum mit hoher Bautätigkeit und Schwerindustrien, starker Ausdehnung der Bevölkerung, des motorisierten Verkehrs und des allgemeinen Lebensstandards bei. Räumlich war die Zunahme in absoluten und in prozentualen Größen in Westeuropa und in der ehemaligen Sowjetunion stärker als in den Vereinigten Staaten.
Ab 1980 stagnierten die Emissionen Europas in absoluten Größen und gingen ab 1990 stark zurück, und zwar bis heute um rund ein Viertel. Im Vereinigten Königreich hatte dieser Prozess mit der Ablösung von Kohle durch Erdöl und Erdgas schon in den 1970er Jahren begonnen. Am stärksten fiel der Rückgang in Russland nach dem Ende der Sowjetunion aus. In Europa waren der Rückgang der Schwerindustrie, die Auslagerung der verarbeitenden Industrie und die Ablösung von Kohle und Heizöl durch Erdgas insgesamt die wichtigsten Treiber. In den Vereinigten Staaten setzte sich das Wachstum der Emissionen abgeschwächt fort, und erreichte im Jahr 2005 seinen Höhepunkt. Seither ist der Schadstoff-Ausstoß um rund 15 Prozent gefallen, liegt aber immer noch höher als Ende der 1970er Jahre.
Global gesehen sind die CO2-Emissionen von 1980 bis 2019 nochmals von knapp 20 Milliarden Tonnen auf 36 Milliarden Tonnen angestiegen, das ist weitaus mehr als je zuvor, aber mit einer reduzierten Wachstumsrate. Doch seit 1980, also seit 40 Jahren, konzentriert sich das Wachstum der globalen CO2-Emissionen praktisch allein auf Asien, und zwar zu deutlich über 90 (!) Prozent. Analysiert man die Details dieser Statistiken, so setzt sich der Oberbegriff Asien aus fünf verschiedenen Ländern beziehungsweise Ländergruppen zusammen: China, Indien, Japan, die erdölproduzierenden Länder des Mittleren Ostens sowie last, but not least, die restlichen Staaten.
Japan war mehr oder weniger im ganzen 20. Jahrhundert eine bedeutende Industrie-Nation, die insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg einen immensen Aufschwung erfuhr, mit dem Höhepunkt 1990. Parallel zu diesem sehr starken Wirtschaftswachstum nahmen auch die CO2-Emissionen Japans bis 1990 sehr stark zu und erreichten über fünf Prozent der globalen Emissionen. Sie wuchsen bis 2007 abgeschwächt weiter und sind seither wieder auf das Niveau von 1990 zurückgegangen.
Bereits im Verlauf der 1950er Jahre wurden die CO2-Emissionen Japans von denen Chinas übertrumpft. Nach der Machtübernahme der Kommunistischen Partei Chinas ordnete Mao zunächst ein von der Sowjetunion übernommenes Wachstumsmodell an, das einseitig die Schwerindustrie favorisierte. Bereits Ende der 1950er Jahre machten die CO2-Emissionen Chinas rund acht Prozent der globalen Emissionen aus. Von 1960 bis 1980 wuchsen die CO2-Emissionen des Reichs der Mitte weiter, aber nicht überdurchschnittlich im globalen oder regionalen Kontext. Um 1980 herum begann Chinas präzedenzlos starkes Wirtschaftswachstum, begleitet von einer sehr starken Ausdehnung der CO2-Emissionen. Diese wuchsen im Zeitraum bis 2000 allerdings nicht stärker als die der anderen asiatischen Länder, da auch diese ein starkes Wirtschaftswachstum zu verzeichnen hatten.
Seit der Jahrtausendwende dominieren China und – an zweiter Stelle - Indien bei der Zunahme der CO2-Emissionen in Asien und gleichzeitig auf globaler Ebene. Allein rund 60 Prozent der Zunahme der globalen CO2-Emissionen entfällt im Zeitraum 2000-2019 auf China, weitere 15 Prozent auf Indien, zusammen also 75 Prozent. Insgesamt werden in Asien heute rund 55 Prozent aller weltweiten C02-Emissionen produziert.
Zwei andere Gebiete in Asien haben ihren CO-2 Ausstoß zwar vielleicht weniger spektakulär, aber dafür über deutlich längere Zeiträume erhöht: Die Erdöl- und Erdgas-Regionen im Mittleren Osten und in Eurasien sowie die Industrieländer wie Südkorea, Taiwan und einzelne Schwellenländer, die sich auf dem Weg zur Industrialisierung befinden. Auch sie kommen auf - verglichen mit Europa beziehungsweise den Ländern der Europäischen Union sehr hohe Emissionen. Insgesamt präsentiert sich die heutige Zusammensetzung der globalen CO2-Emissionen wie folgt:
Graphik 3: CO2-Emissionen der großen Wirtschaftsräume in Tonnen 1980-2019:
2020 und vor allem 2021 sind die CO2-Emissionen in China wieder stark angestiegen, übrigens wie fast überall auf der Welt.
Ist das Pariser Klimaabkommen eine Farce?
Angesichts dieser Faktenlage und Größenordnungen stellen sich unweigerlich unangenehme grundsätzliche Fragen bezüglich des Pariser Klimaabkommens. Gemäß der gängigen Interpretation ist dieses Abkommen beziehungsweise dessen Einhaltung absolut unabdingbar, um eine globale Erwärmung der Erde auf weniger als zwei Grad zu begrenzen und damit die Zukunft der Menschheit zu sichern. Um diese Behauptung einordnen und beurteilen zu können, ist ein wenig Hintergrund notwendig.
Die Struktur des Abkommens ist sehr offen und flexibel, mit allen Vor- und Nachteilen. Es beruht auf einem diplomatischen Minimalkonsens, die CO2-Emissionen über die Zeit zu senken, ohne irgendwelche a priori-Verpflichtungen für jedes einzelne Land. Damit sollte ein grundsätzliches Wohlwollen erzeugt werden. Jedem Land ist es selbst belassen, seine Klimaziele festzulegen und periodisch anzupassen. Dies soll im 5-Jahres Rhythmus geschehen. Eine feste Verpflichtung und bindende Sanktionen bei Nichteinhaltung gibt es allerdings nicht. Die Kehrseite der sehr breiten Unterstützung, die erreicht werden konnte, besteht darin, dass es ein „JeKaMi“ darstellt: „JE der KA nn MI tmachen“, ohne – für den Fall, dass es hart auf hart kommt – seine wirtschaftlichen Interessen dem Klimaschutz opfern zu müssen. Einen schweren Schlag hatte das Pariser Abkommen dadurch erhalten, dass der damalige Präsident Trump den Austritt der Vereinigten Staaten ankündigte. Ohne die Vereinigten Staaten ist das Ganze ein reiner Papiertiger. Dies hat im Übrigen eine lange Vorgeschichte: Schon Präsident George W. Bush hatte das Kyoto-Protokoll der Vereinten Nationen von 1997 nicht unterschrieben.
In den Grundzügen ist vorgesehen, dass vor allem die fortgeschrittenen Industrie-Nationen vorangehen und sich verpflichten, und auch den großen Teil der CO2-Reduktion erbringen. Dies beruht auf der nicht falschen, aber eben auch nicht wirklich korrekten Erkenntnis, dass historisch diese fortgeschrittenen Industrieländer den größten Teil der CO2-Emissionen erbracht haben. Nicht wirklich korrekt, weil völlig untergeht, dass in den letzten 40 Jahren, der Periode mit den bei weitem höchsten globalen CO2-Emissionen, vor allem asiatische Länder signifikant zur globalen CO2-Emission beigetragen haben.
Und just diese Länder mit hohen Emissionszunahmen sind weitgehend von Emissionsbegrenzungen ausgenommen. Für die Zukunft hat China aufgrund des Pariser Klimaabkommens keine Verpflichtung, seine CO2-Emissionen auf absehbare Zeit zu senken. Im Gegenteil: Die Volksrepublik hat selbst keine quantitative Limitierung ihres CO2-Ausstosses nach oben. Es ist lediglich vorgesehen, dass der CO2-Ausstoß Chinas bis 2030 seinen Höhepunkt erreichen soll. Und dass China seine Emissions-Intensität (CO2-Emission je Einheit BIP) bis zu diesem Zeitpunkt um 65 Prozent gegenüber 2005 senken soll. In dieser letzten Hinsicht ist China gut unterwegs, was aber sehr wohl mit höherem CO2-Ausstoß vereinbar ist. Der chinesische Staats- und Partei-Chef Xi Jinping hat im Sommer 2021 angekündigt, dass der Höhepunkt der Emissionen schon etwas früher, nämlich bis 2028 erreicht werden könnte. Darüber hinaus wolle China bis 2060 CO2-neutral werden.
Der seit 2005 bei weitem größte Emittent mit der stärksten Zunahme von Treibhausgasen ist also für die laufende Dekade vom Pariser Abkommen in der Praxis ausgenommen. Und das wird allgemein akzeptiert!
Gleiches trifft im Übrigen nicht nur für China, sondern auch für Indien als heute viertgrößtem CO2-Emittenten (7.5 Prozent) zu. Indien hat sich lediglich verpflichtet, die Emissionen pro Einheit Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2030 gegenüber 2005 um 30 bis 35 Prozent zu senken. Das dürfte – im Hinblick auf den technischen Fortschritt – kein Problem darstellen. Darüber hinaus hat Indien keine Begrenzung für die Zeit danach in Aussicht gestellt.
China und Indien werden systematisch in der Berichterstattung über CO2-Emissionen als potentielle oder tatsächliche Problemfälle dargestellt, welche das Gesamtprojekt „Pariser Abkommen“ gefährden würden. Das stimmt ja auch – ist jedoch nur ein Teil der Wahrheit. Auf den Rest von Asien entfallen nämlich rund 20 Prozent der globalen CO2-Emissionen, also fast dreimal so viel wie Indien (7,5 Prozent), mehr als die USA (rund 15 Prozent) und gar nicht so viel weniger als China (28 Prozent) aufzuweisen hat. Darüber hinaus ist der Trend der CO2-Emissionen im restlichen Asien steil nach oben gerichtet, viel steiler als in Indien. Gegenüber Europa oder den USA ist die Diskrepanz des Trends riesig.
Asien ohne China und Indien ist eine äußerst heterogene Gruppe von Ländern, die Scheichtümer im Mittleren Osten, erdöl- oder erdgasreiche ehemalige Sowjetrepubliken wie Kasachstan, Aserbaidschan und Turkmenistan, hoch industrialisierte Länder wie Japan, Süd-Korea und Taiwan sowie eine große Gruppe aufstrebender Länder mit immer noch geringem Pro-Kopf Einkommen wie beispielsweise Vietnam, Thailand und Indonesien umfasst. Einige dieser Länder haben im internationalen Maßstab sehr hohe Pro-Kopf-Emissionen von CO2. Einige hängen von fossilen Rohstoffen ab und müssen ihre Wirtschaft dringend umstrukturieren, vor allem die Erdöl-Länder. Teilweise haben sie auch das Problem der Überalterung und hohen Staatsschulden und können sich im Grund weitere Einbußen nicht leisten und daher klimafreundliche Maßnahmen nicht ohne weiteres einleiten, beispielsweise Japan.
Zusammen entfallen auf Asien über 55 Prozent (2019) des globalen CO2-Ausstosses, mit stark steigender Tendenz, die auch in Zukunft anhalten wird, allein schon aufgrund der Tatsache, dass es für die beiden großen Länder China und Indien bis 2030 (China) und darüber hinaus (Indien) keine Begrenzung des CO2-Ausstosses gibt. Bei diesen quantitativen Dimensionen kann eine Begrenzung des globalen CO2-Ausstoßes nicht erreicht werden, geschweige denn eine Trendumkehr - mit allen Konsequenzen für die weitere Klimaentwicklung.
Um diese Aussagen etwas zu untermauern, sollen die Zahlen für Deutschland, die Europäische Union und für die USA aufgezeigt werden.
LESEN SIE MORGEN DEN ZWEITEN TEIL DER GROSSEN ANALYSE VON MICHAEL BERNEGGER:
- Warum man Vergangenheit und Gegenwart nicht gegeneinander aufrechnen kann
- Wie eine falsche Berechnung zu einer verqueren Rechtfertigung führt
- Wie die europäische Industrie noch mehr Grund hat, nach Asien abzuwandern