Finanzen

KREISS ANALYSIERT: Lira fällt massiv, Zahlungsunfähigkeit droht - löst die Türkei eine neue Finanzkrise aus?

Die Kurs der Lira fällt massiv - schon bald könnte die Türkei in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Reißt sie die Finanzmärkte mit in den Abgrund, genau wie es 2008 die Lehman Bank tat?
28.11.2021 07:12
Aktualisiert: 28.11.2021 07:12
Lesezeit: 3 min
KREISS ANALYSIERT: Lira fällt massiv, Zahlungsunfähigkeit droht - löst die Türkei eine neue Finanzkrise aus?
Der Wert der türkischen Lira nimmt immer mehr ab - die Türkei steckt im Würgegriff der Inflation. (Foto: dpa) Foto: Anas Alkharboutli

Der Absturz der türkischen Lira

Diese Woche (Stand: 23.November) betrug der Wechselkurs der türkischen Lira zum US-Dollar etwa 12,70 zu eins.[1] Mitte September lag der Kurs noch bei ungefähr 8,50 zu eins. Heute muss man also fast 50 Prozent mehr Lira ausgeben, um einen Dollar zu bekommen, als noch vor zweieinhalb Monaten. Vor fünf Jahren, im November 2016, bekam man für gerade einmal 3,5 Lira einen Dollar. Heute muss man also mehr als dreieinhalb Mal so viele Lira für einen Dollar ausgeben wie vor fünf Jahren. Anders ausgedrückt: Die Lira hat sich in den letzten fünf Jahren im Wert beinahe geviertelt.

Hohe türkische Schulden in Fremdwährung

Die Türkei hatte im 2.Quartal 2021 laut „Global Debt Monitor“ Schulden in Höhe von insgesamt 153 Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP).[2] In konkreten Zahlen: 2020 betrug das türkische BIP rund 720 Milliarden US-Dollar[3], dieses Jahr dürften es nicht viel mehr sein, das heißt, die Schulden betragen circa 1.100 Milliarden Dollar. Mehr als eine Billion!

Die Auslandsschulden betrugen im zweiten Quartal 2021 446 Milliarden Dollar.[4] Das entspricht 62 Prozent des BIP. Nach Berechnungen des Institute of International Finance beliefen sich die Schulden der Türkei in ausländischer Währung zur Jahresmitte 2021 auf 80 Prozent vom BIP.[5] Das entspricht ungefähr 576 Milliarden Dollar. Die Türkei hat also erhebliche Fremdwährungsverbindlichkeiten. Das heißt, wenn die Lira sich abschwächt, wird das Bedienen der Fremdwährungsschulden schwieriger.

Allein türkische Unternehmen haben derzeit 33,8 Prozent vom BIP beziehungsweise über 240 Milliarden Dollar Fremdwährungsschulden. Wenn man die Verbindlichkeiten in Lira umrechnet, heißt das, dass diese Unternehmen in türkischer Lira nun 50 Prozent mehr Schuldendienst leisten müssen als noch vor zwei Monaten. Das könnte manche in Liquiditätsschwierigkeiten bringen und zu Problemen beim Schuldendienst führen. Das Gleiche gilt sowohl für die türkische Regierung, die mit 23 Prozent vom BIP in ausländischer Währung verschuldet ist, als auch für türkische Banken, die ebenfalls Fremdwährungsschulden in Höhe von 23 Prozent vom BIP haben.

Türkei vor Finanzkrise?

Kurz: Der dramatische Absturz der Lira könnte und dürfte dazu führen, dass so mancher türkischer Schuldner in Rückzahlungsschwierigkeiten geraten wird. Das ist umso wahrscheinlicher, als dass das Vertrauen der türkischen Konsumenten im November 2021 den tiefsten Stand seit Beginn der Datenerhebung 2004 erreichte.[6] Die Prognosen für den Inlandskonsum und damit für die wirtschaftliche Entwicklung sind also denkbar schlecht. Auch die Inflationsrate von derzeit knapp 20 Prozent trägt nicht gerade zur Vertrauensbildung der Konsumenten und zu Optimismus bei der Währungsentwicklung bei.[7]

Auswirkungen türkischer Finanzprobleme auf die Weltfinanzmärkte

Angesichts des - selbst im internationalen Vergleich ziemlich hohen - Gesamtbetrages der Fremdwährungsschulden von über 570 Milliarden Dollar könnten sich Zahlungsprobleme türkischer Schuldner schnell auf die Weltanleihemärkte übertragen und dort zu Kursrückgängen führen. Es ist also gut möglich, dass türkische Finanzprobleme eine Erschütterung an den Bondmärkten nach sich ziehen und dort möglicherweise eine Kettenreaktion auslösen. Zur Erinnerung: Lehman hatte kurz vor seiner Pleite im Jahr 2008 Schulden von 613 Milliarden Dollar.[8] Dieser Betrag hat ausgereicht, um eine Weltfinanzkrise auszulösen. Die Schulden der Türkei haben eine ähnliche Größenordnung und daher möglicherweise ebenfalls das Zeug, eine globale Finanzkrise loszutreten.

Dazu kommt, dass die weltweiten Schulden im Verhältnis zum Weltsozialprodukt heute deutlich höher sind als 2008. Im Juni 2021 beliefen sie sich auf 296 Billionen Dollar oder 353 Prozent der Weltwirtschaftskraft. Sie lagen um 36 Billionen Dollar höher als vor den Lockdowns ab März 2020.[9] Die Zahl von sogenannten Zombie-Unternehmen, die die letzten Jahre eigentlich nur wegen der extrem niedrigen Zinsen überleben konnten, ist beachtlich.[10] In den USA ist das Volumen an high yield bonds und Unternehmensschulden mit BBB-Rating in den vergangenen 10 Jahren wegen des historisch einzigartig niedrigen Zinsniveaus sprunghaft gestiegen.[11] Auch einige Länder wie Griechenland oder Italien haben derart hohe Staatsschulden, dass eine Unruhe an den Bondmärkten leicht auf sie übergreifen könnte.

Außerdem sind die Aktien- und die Immobilienpreise[12] heute ebenfalls signifikant höher als 2008. Das Shiller-PE-Ratio des S&P 500 ist derzeit mit 39,5 fast zweieinhalb Mal so hoch wie im Durchschnitt der letzten 150 Jahre.[13] Nur 1929 und 2000 war es ähnlich hoch wie heute. Beide Male kam es kurz darauf zu einem Börsencrash.

Steht die Finanzkrise 2.0 bevor?

Mit anderen Worten: Das Crashpotenzial an den Aktienbörsen sowie an den Bond- und Immobilienmärkten ist heute deutlich höher als 2008. Der kommende Absturz könnte also wesentlich massiver ausfallen als der Absturz im Zuge der Finanzkrise 2007-2009. Die Schulden der Türkei könnten heute eine ähnliche Rolle spielen wie die Schulden von Lehman 2008 und Auslöser der zweiten Finanzkrise seit der Jahrtausendwende sein. Wobei letztere Krise, wie schon gesagt, deutlich schlimmer ausfallen dürfte als erstere. Ich denke, die Zeichen stehen auf Sturm, möglicherweise einen perfekten Sturm.

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Christian Kreiß

                                                                            ***

Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Autor von sieben Büchern: Gekaufte Wissenschaft (2020); Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft (2019); BWL Blenden Wuchern Lamentieren (2019, zusammen mit Heinz Siebenbrock); Werbung nein danke (2016); Gekaufte Forschung (2015); Geplanter Verschleiß (2014); Profitwahn (2013). Drei Einladungen in den Deutschen Bundestag als unabhängiger Experte (Grüne, Linke, SPD), Gewerkschaftsmitglied bei ver.di. Zahlreiche Fernseh-, Rundfunk- und Zeitschriften-Interviews, öffentliche Vorträge und Veröffentlichungen. Homepage www.menschengerechtewirtschaft.de

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