Politik

Energie und Waffen: Russland und Indien treiben strategische Annäherung voran

Russland und Indien vertiefen ihre Zusammenarbeit beträchtlich. Die Annäherung ist strategischer Natur könnte weitreichende Folgewirkungen haben.
22.12.2021 14:00
Lesezeit: 6 min
Energie und Waffen: Russland und Indien treiben strategische Annäherung voran
Indiens Premierminister Narendra Modi trifft Russlands Präsidenten Wladimir Putin. (Foto: dpa)

Russland und Indien haben eine Serie bedeutsamer Verträge in den Bereichen Energieversorgung, Rüstung und wirtschaftliche Zusammenarbeit miteinander abgeschlossen. Beobachter erwarten, dass die 28 Einzelverträge nicht nur die wirtschaftliche Kooperation vertiefen, sondern darüber hinaus zu einer strategisch angelegten Annäherung beider Länder führen könnten.

Den Rahmen der Vertragsabschlüsse bildete der Staatsbesuche des russischen Präsidenten Wladimir Putin bei seinem Amtskollegen Narendra Modi vor zwei Wochen. Putin wurde von mehreren hochrangigen Ministern, Beamten und Wirtschaftsführern begleitet.

Kernthemen Energie und Rüstung

Signifikante Durchbrüche wurden in den Bereichen der Energieversorgung und der militärischen Zusammenarbeit erzielt. So vereinbarten beide Seiten im Rahmen langfristiger Verträge, dass der russische Rosneft-Konzern Indien künftig mit Rohöl beliefern wird. In einem ersten Schritt sollen bis Ende des kommenden Jahres rund 15 Millionen Barrel Rohöl an das indische Staatsunternehmen Oil India verkauft werden. Bei einem Barrel handelt es sich um ein Faß mit 159 Litern Fassungsvermögen.

Rosneft wird das Rohöl über die am Schwarzen Meer liegende Hafenstadt Noworossijsk verschiffen. Neben Rohöl wollen die Inder auch verflüssigtes Erdgas (liquified natural gas - LNG) aus Russland kaufen. „Beide Seiten bekräftigen ihren Willen, die russische Rohölförderung im Rahmen langfristiger Verträge zu präferierten Preisen zu erhöhen und auch Einfuhren von LNG nach Indien zur Energieversorgung - möglicherweise unter Nutzung der ‚Nördlichen Seeroute‘ - zu beschleunigen“, zitiert der auf Rohstoffthemen spezialisierte Blog Oilprice Putin.

Besondere politische Bedeutung fällt den im Rahmen des Staatsbesuchs abgeschlossenen Rüstungsverträgen zu. So wird Indien das russische Raketenabwehrsystem S-400 erwerben, indem ein bereits 2018 abgeschlossener Vorvertrag im Umfang von umgerechnet 5,5 Milliarden US-Dollar realisiert wird. Ende des Jahres werden die ersten der insgesamt fünf bestellten Systeme in Indien eintreffen, zitiert der englischsprachige Dienst von Reuters den Chef der militärischen Kooperationsagentur Russlands.

Der Kauf der S-400-Systeme durch Indien ist bemerkenswert, weil die US-Regierung in der jüngsten Vergangenheit sensibel auf die Integration dieser Technologie in die Waffensysteme ihrer (potenziellen militärischen) Verbündeten reagiert hatte und etwa Sanktionen gegen das Nato-Mitglied Türkei erließ, als dieses trotz Warnungen aus Washington an dem Erwerb festhielt.

Ein weiteres Rüstungsabkommen sieht den Bau von 610.000 Strumgewehren vom Typ AK-203 des Herstellers Kalaschnikow in Indien vor. Generell soll die Zusammenarbeit beider Staaten im Bereich des Militärischen vertieft werden, wie aus einer gemeinsamen Stellungnahme hervorgeht. Grundlage dafür ist ein Vertrag über gegenseitige militärische Zusammenarbeit, der mindestens bis zum Jahr 2030 seine Gültigkeit behalten wird. „Wir unterstreichen unsere Absicht, die Verteidigungszusammenarbeit auszubauen - inklusive der gemeinsamen Entwicklung und Produktion von militärischer Ausrüstung“, heißt es in der Mitteilung.

Strategische Annäherung

Die umfangreichen Rüstungs- und Wirtschaftsabkommen signalisieren eine Annäherung zwischen Moskau und Neu Delhi, deren geopolitische Bedeutung signifikant ist, weil sie offensichtlich auf Wunsch beider Seiten langfristig angelegt ist. Der strategische Gehalt des Gipfeltreffens wurde von Igor Setschin, dem Vorstandsvorsitzenden von Rosneft, in einer Stellungnahme unterstrichen: „Die Unterzeichnung eines neuen Öl-Liefervertrags bekräftigt die strategische Natur der langfristigen Partnerschaft von Rosneft und Indian Oil.“

Indiens Premier Modi umriss die Eckpunkte der langfristigen Entwicklungsstrategie: „Wir haben uns zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2025 das Handelsvolumen (zwischen beiden Staaten - der Autor) auf 30 Milliarden US-Dollar und das Investitionsvolumen auf 50 Milliarden Dollar auszuweiten.“

Indiens Verteidigungsminister Rajnath Singh schrieb auf Twitter: „Indien schätzt Russlands starke Unterstützung für Indien sehr. Wir hoffen, dass unsere Zusammenarbeit zu Frieden, Wohlstand und Stabilität für die ganze Region führt.“ Die Gespräche mit seinem russischen Gegenpart Sergej Schoigu seien „produktiv, fruchtbar und substanziell“ gewesen. Indien schätze seine „spezielle und privilegierte strategische Partnerschaft mit Russland“, zitiert die Zeitung Devdiscourse den Verteidigungsminister.

Auch die Außenminister beider Staaten, Sergej Lawrow und Subrahmanyam Jaishankar, tauschten sich in bilateralen Gesprächen aus.

Geopolitik: Indien und sein „dritter Weg“

Die nun auf mindestens zehn Jahre festgeschriebene sicherheitspolitische Annäherung könnte bemerkenswerte geopolitische Folgewirkungen entfalten.

Ganz unmittelbar betrachtet drohen Indien wegen des Kaufs des S-400-Systems nun Sanktionen aus den USA. Denn der im Jahr 2017 von der US-Regierung erlassene „Countering America's Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA)“ ermöglicht die Verhängung von Strafmaßnahmen gegen Staaten, welche Waffen aus Russland erwerben.

Die US-Regierung hatte vor einigen Wochen gewarnt, dass sie keine Ausnahmeregelungen für Neu Delhi zulassen würde, berichtet Reuters. „Wir raten auch weiterhin allen Ländern, inklusive Indien, von Käufen russischer Waffensysteme abzusehen“, zitiert die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu einen Sprecher des Außenministeriums. Russlands Außenminister Lawrow sagte in Neu Delhi mit Blick auf die drohenden Auseinandersetzungen: „Wir sind Zeuge von Versuchen der Vereinigten Staaten, unsere Kooperation zu sabotieren und Indien zu zwingen, amerikanischen Anweisungen Folge zu leisten, der amerikanischen Vision für die Gestaltung dieser Region zu folgen.“

Indien hingegen verweist darauf, dass die S-400-Systeme als Schutz vor möglichen chinesischen Angriffen dienen sollen. „Indien ist offenbar zu dem Schluss gekommen, dass die USA keine Strafen verhängen werden, weil beide Staaten jüngst eng zusammengearbeitet hatten, um die wachsende Bedrohung durch China zu adressieren“, kommentiert die New York Times.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, dass Russland und Indien bereits im Jahr 2019 ihre Waffengeschäfte von Dollar auf russische Rubel umgestellt hatten, um den Handel vor US-Sanktionen abzuschirmen, welche häufig an der Verwendung des Dollars als Zahlungsmittel ansetzen.

Noch wichtiger als die mögliche Verhängung von Sanktionen gegen Indien könnten die infolge der Übereinkunft ausgelösten makropolitischen Verschiebungen in der Region Südasien sein.

Letztendlich verdeutlicht die Annäherung an Russland den Wunsch der Modi-Administration, im Machtkampf zwischen den USA und China nicht zwischen die Fronten zu geraten, sondern einen den nationalen Interessen am besten dienenden politischen Mittelweg zu verfolgen. Damit kehrt Indien zu einer alt bewährten Linie zurück. Während des Kalten Krieges hatte der Subkontinent den Staatenbund der „Blockfreien“ angeführt und dadurch schon damals den Wunsch nach geopolitischer Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit unterstrichen. Die offizielle Neutralität hinderte Neu Delhi damals allerdings freilich nicht daran, regelmäßig in großem Umfang Waffen aus der Sowjetunion zu kaufen.

Aus Modis Empfangsrede für Putin klingt deutlich heraus, dass Indien das in den Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entstandene globale politische System als im Wandel begriffen betrachtet: „In den vergangenen Jahrzehnten haben sich mehrere Fundamente verändert. Neue geopolitische Dreh- und Angelpunkte sind entstanden. Mitten in all diesen Variablen ist die indisch-russische Freundschaft konstant geblieben.“

In den Planungen amerikanischer Strategen spielt Indien eine zentrale Rolle zur Erreichung des Ziels, die Machtentfaltung Chinas im Indischen Ozean und in Süd- und Zentralasien einzudämmen. Speziell zu diesem Zweck wurde das „Quadrilaterale Format“ unter Führung Washingtons geschaffen, dem neben Indien auch Japan und Australien angehören und das als Gegengewicht zu China im Indischen und Pazifischen Ozean fungieren soll.

Tatsächlich sind China und Indien strategische Rivalen, deren Beziehungen infolge mehrerer blutiger Auseinandersetzungen im umstrittenen Grenzgebiet entlang des Himalayas Mitte des vergangenen Jahres schwer erschüttert wurden. Neu Delhi ist aber offenbar nicht bereit, per se eine Konfrontation mit China zu suchen. Die energiepolitisch-militärische Annäherung an Russland - einen Staat, der als Verbündeter der Volksrepublik gilt - zeigt hingegen, dass Indien seine Handlungsfähigkeit nicht einschränken und seine politischen Optionen diversifizieren will.

Der weitere Verlauf der Entwicklungen wird maßgeblich davon abhängen, ob Indien wegen des Kaufs der S-400-Systeme zum Ziel amerikanischer Strafmaßnahmen wird oder nicht. Kommt es dazu, würden die prinzipiell gesunden Beziehungen zu den USA gestört und das Land würde faktisch aus dem „quadrilateralen“ Format ausscheiden. Bleiben Sanktionen aus, hätte Indien seine Eigenständigkeit demonstriert, könnte von der Biden-Administration fortan aber als „unsicherer Kantonist“ eingestuft werden.

„So sehr Indien (mit dem S-400-Kauf - der Autor) auch ein Risiko in Kauf nimmt so sehr glaube ich, dass auch die USA ein Risiko eingehen, wenn sie den Weg der Sanktionen wählen. Die USA sind entwickelt genug um zu verstehen, dass sie ihre eigenen potenziellen Verbündeten vor dem Hintergrund der größeren Auseinandersetzung nicht verletzen sollten“, zitiert die New York Times einen Analysten der indischen Denkfabrik Observer Research Foundation.

CNBC zitiert einen Analysten des Center for Strategic and International Studies mit den Worten: „Indien sorgt sich um die Verlässlichkeit der USA als Partner, nicht nur im Rüstungsbereich, sondern weil wir öffentlich Bedenken hinsichtlich der religiösen Toleranz und anderer Dinge in Indien angesprochen haben. Während ich glaube, dass die Inder die Mehrzahl der Eier in den Korb der Vereinigten Staaten gelegt haben, so wollen sie doch - zumindest im Verteidigungsbereich, wo sie über strategische Technologie verfügen müssen - sichergehen, dass sie sich alle Optionen offenhalten.“

Russland wiederum verfolge das Ziel, dass kein Land - auch China nicht - eine Hegemonie auf dem asiatischen Kontinent entfalten könne. „Ich denke also, dass beide Seiten ganz abgesehen von den USA oder anderen Ländern ein höheres Interesse an ihrer Kooperation haben.“

Unabhängig vom polaren amerikanisch-chinesischen Kontext muss die Anbahnung langfristiger Beziehungen als kluger Schachzug der Russen gewertet werden. Indien gilt als wachsender Zukunftsmarkt für Energieimporte - fossile Energieformen, für die Russland dringend sichere Abnehmer braucht, weil die Staaten des Westens den Fokus ihrer Energieversorgung zunehmend auf alternative Quellen zu verschieben versuchen.

Einer kürzlich veröffentlichten Studie der International Energy Agency (IEA) zufolge wird der Subkontinent in den kommenden Jahren zum wichtigsten Wachstumsmarkt für fossile Energieträger wie Öl, Gas und Kohle aufsteigen. Etwa ein Viertel des in den nächsten zwanzig Jahren weltweit zu erwartenden Nachfragewachstums, so schätzen die Analysten der IEA, wird auf Indien entfallen, das China bald als bevölkerungsstärkstes Land der Welt ablösen wird. Indien wird die Länder der Europäischen Union mit Blick auf den Energiekonsum zudem voraussichtlich bis zum Jahr 2030 als drittgrößte Weltregion hinter China und den USA ablösen.

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