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Berlin und Brüssel gefährden die Stromversorgung: Deutschland wird Versuchskaninchen

Lesezeit: 6 min
05.02.2022 11:12  Aktualisiert: 05.02.2022 11:12
In der Energiepolitik regieren nicht Augenmaß und Sachverstand, sondern Aktivismus, Ideologie und Verantwortungslosigkeit.
Berlin und Brüssel gefährden die Stromversorgung: Deutschland wird Versuchskaninchen
Teilweiser Stromausfall im Berliner Stadtteil Köpenick. (Foto: dpa)

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Die deutsche Energiepolitik schafft vielerlei Probleme: Zunächst hat sie zu einer Preisexplosion geführt, unter der die Bürger - vor allem diejenigen, die finanziell nicht auf Rosen gebettet sind - kräftig leiden. Darüber hinaus kann sie den Zusammenbruch der Stromversorgung auslösen - und zwar jeden Augenblick. Diese Woche hat die EU-Kommission die rot-gelb-grünen Energiepolitiker in ihrem gewaltigen Vorwärtsdrang etwas gebremst: Angesichts des Umstands, dass derzeit im Interesse einer vermeintlichen Nachhaltigkeit reihenweise Kraftwerke stillgelegt werden, ist den Kommissaren offenbar im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht aufgegangen - sie haben begriffen, dass es ohne Kraftwerke keinen Strom gibt, und ohne Strom kann eine moderne Gesellschaft nun mal nicht funktionieren. Also wurde in Brüssel verkündet, dass Atom- und Gaskraftwerke künftig als „grün“ gelten und es daher erlaubt sei, bestehende Anlagen weiter zu betreiben und sogar neue zu bauen. Doch das wollen die fundamentalistisch grünbewegten Vertreter der unbedingten Nachhaltigkeit nicht akzeptieren - dementsprechend lautstark protestieren sie und verlangen, dass ausschließlich Wind- und Sonnenenergie genutzt werden dürfen. Und wenn diese beiden Quellen nicht reichen? Nun, dann möge man eben das wohlstandsverwahrloste Leben einschränken, so die lapidare Antwort der Aktivisten.

Wenn man nicht weiterweiß, werden Kohle und Gas plötzlich „grün“

Dass Gaskraftwerke künftig als „grün“ gelten, ist schon erstaunlich. Bei der Gewinnung, beim Transport und bei der Verbrennung von Gas wird nämlich Methan freigesetzt, das über einen längeren Zeitraum umweltschädlicher ist als CO2 und stärker zum Treibhauseffekt beiträgt. Da muss die Frage erlaubt sein, wie Brüssel auf die Idee kommen kann, dass es sich bei Gas um eine „grüne“ Energie handelt. Die Antwort lautet: Wir brauchen das Gas für die Übergangszeit, bis die vollständige Versorgung aus Wind und Sonne gesichert ist - eine andere Option steht uns nicht zur Verfügung.

In Deutschland wird eine Strategie verfolgt, die ähnlich verrückt ist. Hier wird nämlich der Einsatz von Kohle als Ersatz für die schrittweise stillgelegten Atomkraftwerke forciert. Als die Grünen mit der Fragwürdigkeit dieser Methode konfrontiert wurden, gaben sie folgende Antwort: „Das muss man im Interesse der Umwelt in Kauf nehmen!“ Wie bitte? Das soll noch einer verstehen.

Fest steht auf jeden Fall, dass niemand sich einig ist, dass jeder Akteur sein eigenes Süppchen kocht: Der eine steigert die Stromproduktion aus Kohle und erhöht somit den CO2-Ausstoß, um den Ausstieg aus der - angeblich umweltzerstörerischen - Atomkraft zu ermöglichen. Der nächste setzt - aus den gleichen Gründen - auf Gas und schädigt die Umwelt mit Methan. Und dann gibt es noch diejenigen, die auf die Umweltverträglichkeit der Atomkraft hinweisen, und froh sein müssen, wenn sie nicht der Ketzerei bezichtigt werden.

Ich sage: Kohle und Gas, beide erwiesenermaßen wenig umweltfreundlich, werden eingesetzt, um die Umwelt zu retten. Die Atomkraft, die eine weitestgehend klimaneutrale Stromquelle darstellt, wird verteufelt. Das ist schon fast schizophren.

Wie einst die Parolen der Kommunisten

So wie jetzt die Umweltpolitiker, haben in Russland früher die Kommunisten argumentiert und die hungernden Menschen auf bessere Zeiten vertröstet (die natürlich nie kamen). Und so werden wir zunächst unsere Umwelt weiter verpesten, um dann schließlich und endlich doch unweigerlich im Dunkeln sitzen zu müssen. Nämlich dann, wenn Windrad auf Windrad gebaut und aufgestellt ist und Kohle, Gas und Atom alle der Vergangenheit angehören. Fest steht: Der Wind weht, wenn es ihm passt, die Sonne scheint nach ihrem Belieben. Daran ändert sich auch nichts, wenn noch weitere abertausende Windräder die Gegend verunstalten, unerträglichen Lärm entfalten und unendlich viele Vögel töten. Daran ändert sich auch nichts, wenn alle Dächer in Europa mit Solarpaneelen beklebt sind, die übrigens im Brandfall nicht gelöscht werden können und dafür sorgen, dass das ganze Haus ein Opfer der Flammen wird. Für mich steht fest: Es gibt nur eine Option, nämlich die, für einen klugen Energie-Mix zu sorgen, in dem neben Atom, Öl, Gas und Kohle auch Wind und Sonne ihren Platz haben - aber nicht als vermeintliches Wundermittel allein unseren Strombedarf decken sollen.

Das Mäntelchen der Wissenschaft soll die politische Dimension verdecken

Die - neben dem Gas - zweite Energie-Art, deren „grüner“ Charakter plötzlich von der EU-Kommission entdeckt wurde, könnte tatsächlich für die notwendige Ergänzung zu den unsicheren Alternativen Wind und Sonne sorgen. Die Kernkraft, von der hier nämlich die Sprache ist, liefert regelmäßig und verlässlich Strom, sichert also die Grundlast und somit die ständige Versorgung - das heißt, bei entsprechendem Wetter kann die Produktion auf die Schwankungen von Wind und Sonne abgestellt werden. Die Anlagen haben zusätzlich den Vorteil, dass sie weder CO2 noch Methan abgeben. Warum also hat die EU-Kommission nicht einfach Kernenergie als einzige Ergänzung vorgegeben? Nun, in Brüssel wird auf die wissenschaftliche Fundierung der Entscheidung hingewiesen, die Antwort auf die Frage ist aber eine andere: die beiden größten Mitglieder der EU müssen zufrieden gestellt werden - denn Frankreich hat viele Atomkraftwerke, Deutschland dagegen setzt auf Gas.

Dabei ist die Unbekümmertheit, mit der man in Brüssel die Ängste der Menschen ignoriert, wirklich verblüffend. Es ist zwar erwiesen, dass die seit 1953 zum Einsatz kommende Atomenergie verlässlich ist und nach jedem noch so kleinen Vorfall so gut wie alle Anlagen auf der Welt zusätzlich aufgerüstet werden. Es ist auch erwiesen, dass die Schäden in Fukushima viel geringer waren als die Berichterstattung glauben machte. Es bleibt als einzige, tatsächliche Katastrophe nur die Explosion von Tschernobyl, die jedoch nur wegen der unbegreiflichen Abschaltung der Sicherungstechnik solch dramatische Ausmaße erreichte. Doch diese Fakten zählen bei vielen Menschen nicht. Es ist ähnlich wie beim Fliegen: die meisten fürchten sich vor einem Flug, steigen aber unbekümmert ins Auto ein, auch wenn die Gefahr, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, unendlich viel größer ist, als bei einem Flugzeugabsturz zu sterben. Die Atomkraft wird mit der - zweifellos schrecklichen - Atombombe in Verbindung gebracht und spricht die Urangst der Menschen an. Daher wäre die erfolgte Wiederentdeckung der Atomkraft dringend mit einer sowohl wissenschaftlich fundierten als auch psychologisch und pädagogisch klug inszenierten Aufklärungskampagne zu kombinieren, deren Zweck es wäre, den Menschen ihre Ängste zu nehmen.

Die EU-Kommission macht es sich leicht: Um den Atommüll sollen sich die Mitgliedstaaten kümmern

Was die Frage der Lagerung des Atommülls angeht: Natürlich muss dafür eine Lösung gefunden werden. Da macht es sich die Kommission jedoch leicht und verkündet, das sei Sache der Mitgliedstaaten. Außerdem gebe es ohnehin laufend technische Fortschritte auf dem Gebiet, und bis 2050 werde das Problem schon irgendwie gelöst sein. Nicht zuletzt wird auf die bestehenden Lager verwiesen und angemahnt, dass der Atommüll nicht ins Ausland transferiert werden dürfe. Die früher praktizierte Lösung, die gebrauchten Brennstäbe nach Russland in ein Lager im fernen Sibirien zu bringen, soll verboten werden. Wie bitte? Wer denkt sich so etwas bloß aus? Wie kann man nur eine sinnvolle und gut bewährte Methode mit einem Federstrich abschaffen? Was die EU-Kommission da macht, ist nicht weniger als unverantwortlich.

Finanzinstitute sollen die Kohlewirtschaft aushungern, weil die Politik versagt

Die Deklaration von Atom und Gas als „grün“ ist ein Teil der sogenannten „Taxonomie“ (wobei nicht nachvollziehbar ist, warum die EU-Kommission ein derart ausgefallenes Wort für die Erstellung eines Katalogs von umweltfreundlichen Energien und Produkten gewählt hat). Dieser Katalog soll allgemein klarstellen, was als „grün“ und nachhaltig anerkannt wird, und ist in erster Linie an Banken, Versicherungen und andere Kapitalsammelstellen adressiert. Diese werden aufgefordert, ihre Veranlagungen so zu gestalten, dass grüne Unternehmen und Projekte gefördert werden, umweltschädliche hingegen keine Finanzierung bekommen. Zur Erläuterung sei als markantestes Beispiel die Aufforderung an die Versicherungsunternehmen genannt, nicht nur keine Aktien von Firmen zu kaufen, die Kohlekraftwerke direkt oder indirekt über Konzerngesellschaften betreiben, sondern diese auch nicht zu versichern. Vorerst kann die EU niemanden zwingen, diesen Vorgaben zu folgen, doch sind im Text der Taxonomie entsprechende Maßnahmen bereits angedeutet. Einige große Versicherungsunternehmungen haben sich dann auch schon freiwillig verpflichtet, die Empfehlungen umzusetzen.

Tatsächlich wird mehr Kohle und Öl verbraucht als je zuvor

Somit ist eine groteske Situation entstanden. Die Politik ist nicht in der Lage, eine brauchbare Energie-Strategie zu entwerfen. Seit Jahren wird gegen Kohle und Öl gewettert, doch im vergangenen Jahr wurde mehr Öl und Kohle für die Erzeugung von Strom verwendet als je zuvor. Nun versucht man, die Öl- und Kohlewirtschaft finanziell auszuhungern, um so zu erreichen, dass die Energiewende von Kohle und Öl zu Wind und Sonne stattfindet. Diese Vorgangsweise ist aber auf die EU beschränkt, sodass, um beim Beispiel zu bleiben, eine europäische Versicherungsgesellschaft kein Kohlekraftwerk mehr finanzieren und versichern wird, eine amerikanische, chinesische oder aus einem anderen Land stammende sehr wohl. Dass das Kohlekraftwerk schließen wird, weil es in Europa nicht finanziert und versichert wird, ist unwahrscheinlich, weil der Bedarf weiter gegeben ist. Zudem kommt, dass außerhalb der EU keine vergleichbaren Beschränkungen für Öl und Kohle existieren. In einem solchen Umfeld sind Finanzinstitutionen überfordert, wenn sie Energiepolitik machen sollen.

Die Umsetzung der Nachhaltigkeits-Politik lässt den Stromverbrauch explodieren

Mit dem Vorantreiben der Nachhaltigkeits-Politik geht paradoxerweise die Forcierung des Stromverbrauchs einher. Man will, dass nur mehr Elektro-Autos im Einsatz sind. Man möchte die Digitalisierung ausbauen (dabei benötigt eine Cloud-Zentrale so viel Strom wie eine Kleinstadt). Man will, dass die Haushalte Elektro-Thermen nutzen, um das Wasser zu erhitzen und zu heizen. Dazu kommen die Krypto-Währungen, die in ihren als „Minen“ bezeichneten Computer-Zentralen gigantische Strommengen verbrauchen. Diese Faktoren muss man um die hoffentlich richtige Feststellung ergänzen, dass tendenziell die Armut in der Welt zurückgeht und immer mehr Menschen einen höheren Lebensstandard erreichen und daher mehr Strom konsumieren.

Das heißt, die Entwicklung geht in Richtung enormer Steigerungen des Strombedarfs. Die Politik sollte also auf eine entsprechende Ausweitung der Produktion abgestellt sein. Derzeit ist jedoch, vor allem in Europa, das genaue Gegenteil der Fall. Nun kann man aber die Realität nicht umschreiben: Die Privathaushalte und die Unternehmungen werden in den nächsten Jahren, ob das der Politik gefällt oder nicht, immer mehr Strom verbrauchen. Und wenn die entsprechenden Kraftwerke nicht zur Verfügung stehen, wird es unweigerlich zu immer mehr Black-Out kommen, zum totalen Stillstand so gut wie aller Lebensbereiche.

Unsere Vorfahren besänftigten böse Geister - wir betreiben Umwelt-Rituale

Zum Abschluss als ceterum censeo: Man sollte aufhören, unzählige Tagungen abzuhalten, um über CO2 zu diskutieren. Stattdessen sollte man eine weltweite Aufforstung betreiben und auf diese Weise CO2 binden.

Man sollte aufhören, abwechselnd eine Energie nach der anderen zu verteufeln, bloß, um sie eine Zeitlang später wieder als Notwendigkeit oder gar Lösung aller Probleme zu feiern - statt eines solchen widersinnigen Hin und Her sollte man die Nutzung aller Energien optimieren.

Man sollte aufhören, Wind und Sonne als Wundermittel anzupreisen. Stattdessen sollte man die Entwicklung der Kernfusion, der Wasserstoff-Energie und sonstiger noch nicht ausgereifter beziehungsweise noch unbekannter Technologien forcieren.

Und nicht zuletzt: Der Klimawandel erfordert vorsorgliche bauliche Maßnahmen, damit die Dächer Stürme überstehen und die Keller Überschwemmungen bewältigen können. Derart praktische Maßnahmen sind jedoch offenkundig nicht erwünscht - stattdessen betreibt man Umweltschutz-Rituale, die an Beschwörungen erinnern, wie sie eins Urvölker zur Besänftigung böser Geister betrieben.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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