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"Eine Impfpflicht muss sich auf extreme Situationen und deutlich begrenzte Zeiträume beschränken"

Lesezeit: 6 min
18.03.2022 08:25  Aktualisiert: 18.03.2022 08:25
Der Theologe und Publizist Prof. Dr. Werner Thiede spricht sich im DWN-Interview gegen eine generelle Impfpflicht aus.
"Eine Impfpflicht muss sich auf extreme Situationen und deutlich begrenzte Zeiträume beschränken"
Ein Mitarbeiterin im Impfzentrum zeigt eine Ampulle mit dem neuen Corona-Impfstoff von "Novavax". (Foto: dpa)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Professor Thiede, Sie haben in letzter Zeit mehrere Artikel und Aufsätze gegen eine Corona-Impfpflicht publiziert – unter anderem bei uns. Sind Sie ein „Querdenker“?

Werner Thiede: Soll denn jedes Denken, das nicht der Mehrheitsmeinung entspricht, schon als „Querdenken“ qualifiziert werden? Mit meinen kritischen Argumenten gegenüber einer allge­meinen Impfpflicht bin ich jedenfalls einer von vielen Wissenschaftlern, aber auch Juristen, Theologen und Politikern, die gegenüber dem Impfpflicht-Ansinnen etlicher Bundestagsab­geordneter ernste Bedenken hegen. So haben am 9. März über 80 Wissenschaftler in einem gemeinsamen Brief an alle Bundestagsabgeordneten unterstrichen, die Impfpflicht sei weder geeignet noch erforderlich noch angemessen, um die Zahl der schweren Erkrankungen effek­tiv zu senken und eine signifikante Überlastung des Gesund­heitswesens zu verhindern. Über­haupt: Gegen eine Impfpflicht zu sein, ist doch eigentlich nichts Besonderes! Noch vor einem guten halben Jahr war das die klar vorherrschende Überzeugung in der Bevöl­kerung und unter den füh­ren­den Politike­rinnen und Politikern in Deutschland. Tatsächlich ist zwar eine kriti­sche Ein­stel­lung zu solch einer gesetzlichen Verpflichtung mittlerweile zur Minder­hei­ten­posi­tion gewor­den, seit die Bundestagswahl vorbei war und dann hohe Inzidenzen und Hospitali­sierungen unter der neueren Delta-Variante immer mehr Sorgen bereiteten. Heute aber sieht die Lage wieder anders aus, und der Zeitgeist könnte sich abermals drehen. Und so wun­dere ich mich, dass in der Politik – bereits zu beobachten in der „Orientierungsdebatte“ im Bun­des­tag und in diesen Tagen immer noch – Positionen von gestern und vorges­tern vertreten wer­den.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie meinen das in Bezug auf die nicht so gefährlichen Eigenschaften der Omikron-Variante und auf die Wahrscheinlichkeit einer bald endemischen Lage?

Werner Thiede: Ja. Manche Virologen sehen in der zweiten Jahreshälfte ein Ende der Coro­na-Pan­demie in Sicht kommen. Hendrik Streeck hat als Mitglied im Corona-Ex­pertenrat der Bundesregierung neulich in einem Online-Interview mit dem Medien­verbund „Chefvisite“ dargelegt, es könne weder vorhergesagt werden, welche Virus-Vari­anten am Horizont stehen und sich entwickeln, noch, was für eine Immunität durch die Imp­fungen eigentlich erzeugt werde und wie lange der Schutz halte. Das bedeutet doch zumindest, dass jedenfalls zurzeit für eine Impfpflicht kein klarer, unumstrittener Anlass gegeben ist. Aktuell zeigt sich, dass die Sterbezahlen in Deutschland statistisch mittlerweile wieder im Bereich des Normalen liegen. Wie aus einer vom Robert-Koch-Institut am 6. März veröffentlichten Grafik hervorgeht, lag zudem der An­teil der „Geboosterten“ an der Gesamtheit der Intensivpatienten in der vorausgehenden 4-Wochen-Periode bei über einem Drittel – mit kontinuier­lich steigender Tendenz! Umso weni­ger dürfte eine Impfpflicht inklusive Pflicht zur Booste­rung sachlich zu rechtfertigen sein. Nicht von ungefähr hat Österreich auch unter verfassungsrecht­lichen Aspekten die bereits eingeführte Impfpflicht wieder ausgesetzt, bevor jetzt die Phase mit finanziellen Sanktionen begonnen hätte.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Argumentieren Sie eigentlich eher als Bürger oder als Pfarrer?

Werner Thiede: In beiden Eigenschaften. Gerade als Theologe liegt mir viel an der Wahrung der Men­schen­würde. Und die bleibt nur ge­währ­leistet, wenn ein tiefer Eingriff in vornehmste Grundrechte sich auf extremste Notfall-Situationen be­schränkt. Auch die Weltgesund­heits­orga­nisation (WHO) sieht ja eine Impfpflicht nur als abso­lut letztes Mittel an. Dagegen ist die Lage auch Thomas Voshaar zufolge – er ist Sprecher der Deutschen Pneu­mologie-Kliniken – inzwischen eher entspannt: Hinsichtlich schwerer Hospitalisierungsfälle besteht in Deutschland keinerlei Anlass zur Panik, auch mit größeren oder länger dauernden Engpässen ist kaum zu rechnen. Impfpflicht-Forderungen muten heute in­sofern als vorgestrig an, kurz: als veraltet. Hoffent­lich wird das im Parlament hinreichend realisiert werden. Impfen kann sinnvoll sein, sollte aber unbedingt eine frei­willige Ange­legenheit bleiben.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Muss verantwortliche Politik nicht tatsächlich weit vorausschauend verfahren, so dass die Einführung einer Impfpflicht doch gerechtfertigt wäre?

Werner Thiede: Nichts gegen eine weitblickende Politik! Aber Weitblick sollte auch Weisheit beinhalten, und das bedeutet selbstverständlich Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit. Darum ist es zwei­fellos wichtig, wenn Impfstoff-Vorräte angelegt, genügend Klinikbetten vorgehalten und die Pflege­berufe sichtlich wertschätzend behandelt werden. Aber ein vorauseilendes Eingreifen in zen­trale Grundrechte hielte ich denn doch für unverhältnismäßig und darum auch in gesell­schafts­­politischer Hinsicht für hochproblematisch.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wären Sie somit auch für ein Kippen der Impfpflicht für das Pflegepersonal?

Werner Thiede: Wenn Sie mich fragen: ja – zumal bekanntlich auch Geimpfte das Virus sehr wohl übertragen können und große Achtsamkeit in jenen Bereichen ohnehin an der Tagesordnung ist. Maß­nah­men in Richtung einer scharfen indirekten Impfpflicht kann ich unter Umständen nach­voll­ziehen, aber eine direkte Impfpflicht – auch für bestimmte Alters­gruppen – empfinde ich ebenso wie etwa Herr Streeck als ein Strapazieren jener hohen Grenzen, die das Grundgesetz hier zieht. Um sie wusste man, wie gesagt, vor einem halben Jahr noch sehr genau, und ich plädiere für die längst fällige Wieder­ent­deckung dieser ethisch relevanten Einsicht. Das umso mehr, als die immer noch oft gehörte Begründung, eine Impfpflicht sei nötig zum Schutz von vulnerablen Grup­pen, angesichts der Übertragbarkeit des Virus auch durch Geimpfte einfach nicht mehr stichhaltig ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was beschäftigt Sie in Ihrer Eigenschaft als Theologe bei dieser Problematik besonders?

Werner Thiede: Das sind die seelischen Belastungen, die sich allenthalben infolge der Pandemie, aber auch der pandemischen Notmaßnahmen zunehmend ergeben haben und im Falle einer Impfpflicht verstärkt ergeben würden. Zum einen handelt es sich um die Ängste und auch Frustrationen der Geimpften, die sich fast schon empört gegenüber der nichtgeimpften Minderheit entladen – und natürlich um die Sorgen der von Long-Covid Be­trof­fenen. Zum andern nehme ich die vielfachen Bedrängnisse für die nach wie vor Nicht­ge­impften wahr: Sie haben ja neben den Folgen bestehender indirekter Impfzwänge auch die Ängste vor der eventuellen Unausweich­lichkeit der von ihnen definitiv nicht gewollten Imp­fung zu erlei­den – von den durchaus oft auch vorhandenen Ängsten vor einer Erkran­kung noch ganz abge­sehen. Hinzu kommt für sie die bittere Erfahrung, gleichsam zum kollek­tiven Sün­denbock abgestempelt zu werden – zu Un­recht, wie jeder weiß, der genauer hinsieht und sich dabei ehrlich macht.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Könnte man nicht sagen: Da sind die Ungeimpften doch selber schuld? Warum zeigen sie sich nicht in höherer Zahl solidarisch und lassen sich impfen?

Werner Thiede: Die Schuldfrage stellt sich aus meiner Sicht hier nicht. Es ist kein moralisches Vergehen, den eigenen Körper als Gren­ze der Solidarität anzusehen, sondern ganz im Sinne des Grundge­set­zes, dessen Ausformulierung von Anfang an den individuellen Schutz gegenüber einem wo­möglich übergriffigen Staat im Blick gehabt hat. Nicht um Egoismus geht es da, sondern um die unveräußerliche Menschenwürde der Selbstbestimmung. Der eigene Körper muss defini­tiv tabu bleiben und darf nicht für gesellschaftliche Zwecke instrumentalisiert werden – von wirklich ganz extremen Sondersitua­tionen vielleicht abgesehen, die aber derzeit weder ge­ge­ben noch in Sicht sind. Und das ist übrigens fast allen europäischen Ländern klar. Im Übrigen frage ich mich schon, warum in Sachen Corona-Impfung allenthalben gesellschaftliche Solidarität mit Vulnerablen der Gesellschaft eingefordert wird, während man sich bei den auf andere Weise Verletzlichen wie beispielsweise Funksensiblen kaum solidarisch zeigt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was ist mit Verschwörungsmythen, aufgrund derer viele sich nicht impfen lassen: Sie die auch schützenswert?

Werner Thiede: Die einschlägigen Verschwörungstheorien als solche sind freilich nicht schützenswert, son­dern fragwürdig; und darüber sollten auch noch mehr Dialoge und Debatten inhaltlich ge­führt werden. Aber die Demokratieforscherin Ulrike Guérot hat kürzlich mit Recht darauf hin­gewiesen, dass nicht alle dem Mainstream zuwider laufenden Überzeugungen schon gleich als Verschwörungstheorien abgetan werden dürfen. Schutz verdient zudem die Glaubens- und Meinungsfreiheit als solche. Auch Ansichten, die ich nicht teile, habe ich im Grundsatz erst einmal zu respektieren – und das selbst dann noch, wenn es mir nicht gelingt, eine mich schmerzende Überzeugung zu ändern. Zur Demokratie gehört Toleranz. Ein Beispiel: Da behauptet doch ein Buch mit esoterischer Begründung, eine Corona-Impfung werde sogar noch nach dem Tod Folgen haben – was ich als Theologe unsäglich finde! Trotzdem meine ich, dass man Menschen, die so etwas glauben, keinesfalls zur Impfung verpflichten sollte. Das wäre gewissermaßen Körperverletzung, insofern die heutige Medizin Leib und Seele ja in einem ganzheitlichen Miteinander sieht. Ähnlich steht es um Zeitgenossen, denen die Impf­stoffe als zu wenig erprobt oder sonst irgendwie zu verdächtig erscheinen: Sie unter Andro­hung empfindlicher Strafen zur Impfung praktisch zwingen zu wollen, wäre eine nicht nur körperliche, sondern auch seelische Zumutung sondergleichen. Man würde da wohl Placebo-Schäden bei Hundert­tau­senden erzeugen, die ernsthaft überzeugt sind, dass die Vakzine ihnen nicht gut tun. Ein ethischer Grund mehr, von einer staatlichen Impfpflicht Abstand zu neh­men!

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Unionsfraktion im Bundestag bringt einen eigenen Vorschlag zur Impfpflicht ein, der nach Virusvarianten und der zeitlichen Kompo­nen­te differenziert. Was halten Sie davon?

Werner Thiede: Das käme meiner Sichtweise ein Stück weit entgegen: Wenn überhaupt, dann muss sich eine Impfpflicht auf extreme Situationen und deutlich begrenzte Zeiträume beschränken. Alle schär­feren Anträge werden nach meiner Überzeugung weder der derzeitigen Situation noch den verfas­sungs­recht­lichen Vorgaben gerecht. Sie würden nur den Verdacht nähren, dass man den digi­talen Über­wachungsstaat fördern möchte, zumal mit einer Impfpflicht ja wohl ein Impf­regis­ter – ob staatlich zentral oder kommunal eher dezentral organisiert – anvisiert würde.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was spricht denn gegen ein solches Impfregister?

Werner Thiede: Ich sehe das überwiegend kritisch – vor allem aus datenschutzrechtlichen Gründen. Gerade auch die Datensicherheit ist heutzutage kaum mehr zu gewährleisten. Zwar pocht ja nament­lich der Deutsche Ethikrat auf ein „daten­siche­res“ Impfregister – doch dabei wird völlig ver­kannt, dass zahlreiche Cyber-Atta­cken besonders im letzten Jahr weltweit illus­triert haben: Es gibt Da­ten­sicherheit im Voll­sinn nicht mehr wirklich. Und würde auf dem Hinter­grund eines Impfregisters nicht auch bald die Verschmelzung von digitalem Impfpass und Per­sonal­aus­weis auf die Tagesordnung kommen? Mehr noch: womöglich in nicht zu ferner Zeit die Pflicht zu einem unter die Haut implantierten Chip? Die technische Machbarkeit wäre schon vorhan­den, die Kosten wären eher gering. Ich befürchte, eine einmal eingeführte Impfpflicht könnte zur Versuchung werden, in unserer immer weiter digitalisierten Gesellschaft in diese Rich­tung zu planen. Dann wären übrigens auch weiteren verpflichtenden Impfungen Tür und Tor geöffnet. Das aber fände ich als Verfasser des Buches „Die digitalisierte Freiheit“ und als Bürger eines freiheitlichen Rechtsstaats gar nicht gut. Am klügsten wäre es, wenn Deutsch­land sich in Sachen Impfpflicht ebenso zurückhalten würde wie die allermeisten anderen Länder der Welt.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Professor Thiede, haben Sie vielen Dank für dieses Gespräch.

Prof. Dr. Werner Thiede ist außerplanmäßiger Professor für Systematische Theologie an der Univer­sität Erlangen-Nürnberg und

protestantischer Pfarrer i.R. Er hat zahlreiche Bücher ver­öffentlicht (www.werner-thiede.de), zuletzt: „Unsterblichkeit der Seele? Inter­dis­zi­plinäre Annäherungen an eine Menschheitsfrage“ (2021) und „Die Wahrheit ist ex­klu­siv. Gesammelte Aufsätze zum interreligiösen Dialog“ (erweiterte Neuausgabe 2022).


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