Deutschland

Ausstieg darf nicht erfolgen: Noch braucht Deutschland die Atomkraft

Der Experte für Energiepolitik Henrik Paulitz spricht sich dagegen aus, die noch verbleibenden drei deutschen AKWs abzuschalten - und fordert darüber hinaus, diejenigen drei, die kürzlich vom Netz genommen wurden, wieder zu reaktivieren.
27.03.2022 08:00
Lesezeit: 3 min
Ausstieg darf nicht erfolgen: Noch braucht Deutschland die Atomkraft
Das Atomkraftwerk Grohnde (bei Hameln) ging am 31. Dezember letzten Jahres nach 36 Jahren Laufzeit vom Netz (Aufnahme vom 29. Dezember / Foto: dpa).

Ein Großteil derer, die sich im Laufe der Jahrzehnte darauf festgelegt haben, die Atomenergie kategorisch abzulehnen, kennen die ursprünglichen Bedingungen nicht, unter denen ein Atomausstieg diskutiert wurde. Das vom Öko-Institut 1980 herausgebrachte Grundlagenwerk zur Energiewende ("Energiewende – Wachstum und Wohlstand ohne Erdöl und Uran“) sah einen Atomausstieg vor, der auf Basis der vorhandenen Kohlekraftwerks-Kapazitäten erfolgen sollte. Zahlreiche darauffolgende Studien gingen ebenfalls davon aus, dass nach dem Ausstieg die verbleibenden Kraftwerke Versorgungssicherheit und Wohlstand weiterhin garantieren würden - später sollten an die Stelle von Kohlekraftwerken verstärkt Langzeitspeicher (zum Beispiel Wasserstoff) für Wind- und Solarstrom die Energie-Sicherheit gewährleisten. Heute müssen wir feststellen, dass solche Langzeitspeicher nicht vorhanden sind. Das bedeutet, dass ein gleichzeitiger Atom- und Kohleausstieg nicht möglich ist, ohne die Versorgungssicherheit grob fahrlässig aufs Spiel zu setzen.

Wer sich im heutigen Deutschland seines Verstandes bedient, schlichtweg nur die Logik bemüht, sieht sich mehr und mehr ideologischen Abwehrkämpfen ausgesetzt. Dabei geht es doch auch anders: einfach mal die Glaubensbekenntnisse und Selbstgewissheiten für einen kleinen Moment zurückstellen und nüchtern konstatieren:

1. Langzeitspeicher wie Wasserstoff gibt es nicht, die Produktion ist extrem teuer, die Wirkungsgrade bis zur Wiederverstromung - übrigens in Gaskraftwerken - sind grottenschlecht, so dass das alles absehbar kaum zielführend ist: wie übrigens die letzten vier Jahrzehnte schon, seitdem dieser Pfad propagiert wird.

2. Gaskraftwerke können es kaum sein, da wir nun auf russisches Erdgas verzichten wollen beziehungsweise müssen. Ohnehin wäre es sehr schwierig, neue Gaskraftwerke so schnell zu bauen, wie es notwendig wäre, angesichts des Umstands, dass man nach den Atomkraftwerken auch noch Kohlekraftwerke stilllegen will. Und selbst, wenn man sie schnell genug bauen könnte, wäre der gewonnene Strom, je nach Erdgasquelle und Betriebsweise, sehr teuer.

3. Kohlekraftwerke sollen es nicht sein wegen des Klimaschutzes, wobei nun selbst der Klima- und Wirtschaftsminister verstanden hat, dass die Versorgungssicherheit kein vernachlässigbares Ziel der Energiepolitik sein kann, und die Reaktivierung von Kohlekraftwerken ins Spiel gebracht hat. Aber ob sich die Idee gegen alle Widerstände durchsetzen wird? Man darf es bezweifeln.

4. Wenn all die genannten Möglichkeiten technisch nicht umsetzbar sind, schwerwiegende Nachteile mit sich bringen oder gesellschaftlich abgelehnt werden, dann bleibt nur der Verzicht auf eine zuverlässige Energieversorgung. Eine frühere grüne Bundestagsabgeordnete fand das gut, sprach von "angebots-orientierter Energieversorgung", wenn es Strom, Wärme, Mobilität und Industrieproduktion nur noch dann in ausreichender Menge gibt, wenn die Sonne kräftig scheint und der Wind mächtig bläst. Eine solche Rationierung von Energie, eine "StromMangelWirtschaft" wurde in Deutschland in den vergangenen Jahren bereits intensiv geplant und vorbereitet. Doch nun ist - im Zuge des Ukraine-Kriegs und der damit verbundenen möglichen Gas-Krise - ein Realitätsschock eingetreten, und urplötzlich denkt man selbst in Deutschland wieder mit etwas mehr Logik. Denn:

5. Zaghaft und zerknirscht stellt man nun fest, dass am Ende neben Kohlekraftwerken möglicherweise nur noch die Atomenergie bleibt, will man im kommenden Winter nicht frieren und im Dunkeln sitzen, und will man nicht auf einen großen Teil der Industrieproduktion - auf dem zu großen Teilen der Wohlstand dieses Landes beruht - verzichten. Der Weltklimarat (IPCC) hat mittlerweile auch schon eine Empfehlung für die Kernenergie ausgesprochen - explizit aus Gründen des "Klimaschutzes".

Um es nochmal klar und deutlich zu sagen: In den 1980er Jahren und in den Jahrzehnten danach stand der Atomausstieg stets unter dem Vorbehalt, dass die Versorgungssicherheit entweder durch einen anderen Backup-Kraftwerkspark und/oder durch Langzeitspeicher garantiert sein würde. Im Umkehrschluss wäre man vor etlichen Jahren - als politische Entscheidungen noch mit etwas mehr Logik und Verstand und weniger aus dem Bauch heraus angegangen und getroffen wurden - selbstverständlich zum Ergebnis gekommen, dass bei fehlenden Speichern und Kohlekraftwerken ein Atomausstieg "nicht machbar" ist. Um es noch mal zu betonen: Emotionen und Ideologien sind bei dieser Thematik hinderlich. Immerhin: Es scheint, als ob die Tendenz in der politischen Diskussion wieder hin zu mehr Realpolitik geht. Fest steht: Es liegt nun an jenen, die gerne den Atom-, den Kohle- sowie den Gasausstieg und gleichzeitig einen funktionieren Klimaschutz hätten, eine tragbare Lösung anzubieten - oder sich zu bewegen und machbare Lösungen als das zu akzeptieren, was sie sind: die derzeit einzige Option, die uns zur Verfügung steht, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Die Quadratur des Kreises anzustreben - das hat noch nie besonders gut funktioniert.

In den vergangenen Jahren hat die Politik allen Zielgruppen gegenüber den Eindruck vermittelt, als gehe es um ein Wunschkonzert. Es wurde versprochen, dass alle Wünsche in Erfüllung gehen sollten. Deutschland sei ein reiches Land, da sei mit Hilfe der Gelddruckmaschine der Zentralbank alles möglich.

Nun sind wir in der harten Realität angekommen. Wir stellen fest, erbarmungslos mit der Physik konfrontiert zu werden, mit einer bröckelnden Infrastruktur, mit den Folgen von Corona beziehungsweise der Corona-Politik, mit einer Inflation, mit einem Krieg und mit einem weit überdehnten Währungssystem.

Es wäre gut, wenn sich jene Teile der Gesellschaft, die sich noch im Modus "Wünsch dir was" befinden, einen Ruck geben und einen neuen energiepolitischen Konsens ermöglichen würden, der aus der aktuellen Misere heraushilft. An Laufzeitverlängerungen der verbliebenen drei beziehungsweise einer Reaktivierung der kürzlich abgeschalteten drei Atomkraftwerke führt bei nüchterner Betrachtung kein Weg vorbei.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.
E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung gelesen und erkläre mich einverstanden.
Ich habe die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

Henrik Paulitz

Henrik Paulitz ist Gründer und Leiter der "Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung". Er ist der Autor mehrerer Bücher, darunter "StromMangelWirtschaft - Warum eine Korrektur der Energiewende notwendig ist" (2020). 
DWN
Wirtschaft
Wirtschaft China im Handelskrieg: Regierung bereitet sich auf das Schlimmste vor
25.04.2025

Chinas Führung bereitet sich inmitten des eskalierenden Handelskonflikts mit den USA auf mögliche Härtefälle vor. In einer Sitzung des...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Pharmazeutische Abwanderung: Wie Europa seine Innovationskraft verloren hat – und sie zurückgewinnen kann
25.04.2025

Europas einst führende Rolle in der Pharmaforschung schwindet – während andere Regionen aufholen, drohen Abhängigkeit und...

DWN
Politik
Politik Trump deutet historischen Kompromiss an: Russland will Ukraine nicht vollständig besetzen
25.04.2025

Moskau signalisiert Rückzugsbereitschaft – wenn der Westen zentrale Forderungen erfüllt.

DWN
Finanzen
Finanzen Sozialleistungen belasten Haushalt: Staatsquote steigt erneut
25.04.2025

Höhere Ausgaben des Staates für Sozialleistungen wie Renten, Pflege- und Bürgergeld haben den Anteil der Staatsausgaben im Verhältnis...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Hat Trump mit seiner Einschätzung des deutschen Überschusses recht?
25.04.2025

Trumps Zollpolitik trifft auf deutsche Überschüsse – doch die wahren Ursachen für das Handelsungleichgewicht liegen tiefer.

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Crash-Gefahr an den US-Börsen: Fondsmanager warnt vor historischem Einbruch von bis zu 50 Prozent
25.04.2025

Die Unsicherheit an den globalen Finanzmärkten nimmt spürbar zu. Ein renommierter Fondsmanager schlägt nun Alarm: Der US-Aktienmarkt...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Lyft attackiert Uber: Neuer Mobilitäts-Gigant übernimmt FreeNow und greift Europa an
25.04.2025

Der Mobilitätskampf in Europa geht in eine neue Runde – und diesmal kommt die Herausforderung von der anderen Seite des Atlantiks: Lyft,...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Der offene Konflikt zwischen Big Tech und der EU eskaliert
24.04.2025

Meta hat den diplomatischen Kurs verlassen und mit scharfen Vorwürfen auf die jüngsten Strafen der EU-Kommission reagiert. Der...