Zwei Tage nach seiner faktischen Wiederwahl steht dem ungarischen Premier Viktor Orbán wieder Streit mit der Europäischen Union ins Haus. Die EU werde noch am Dienstag Disziplinarmaßnahmen gegen Ungarn auf den Weg bringen, sagten zwei mit der Sache vertraute Personen der Nachrichtenagentur Reuters. Das Vorhaben könne dazu führen, dass Finanzmittel für Orbáns Regierung eingefroren werden.
Orbáns nationalkonservative Fidesz-Partei hatte am Sonntag die Parlamentswahlen mit überraschend großem Vorsprung gewonnen. Orbán steht damit vor seiner vierten Amtszeit. Die EU liegt seit Jahren in vielen Fragen mit Orbán über kreuz. So hat sie im Streit über Demokratie-Standards bereits Gelder für Ungarn eingefroren.
Zum erneuten Wahlsieg des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán meint die „Neue Zürcher Zeitung“ am Dienstag:
„Die vom Oppositionsbündnis angeprangerten Missstände wie die drückende Inflation, Armut, ein desolates Gesundheitswesen und vor allem die Korruption in Orbáns Umfeld nannten viele Ungarn als drängende Sorgen. Der russische Überfall auf die Ukraine änderte jedoch alles. Orbán präsentierte sich als einzigen Garanten für Sicherheit und Stabilität, gerade wegen seiner guten Beziehungen zu Moskau. Alle anderen Themen rückten darum in den Hintergrund.
Nach der krachenden Niederlage ist die Gefahr groß, dass die Opposition wieder in ihre Einzelteile zerfällt. Auf weite Sicht ist nicht erkennbar, wer die Macht Orbáns und seiner Partei dereinst brechen könnte. (...) Das zeigt, dass Orbán dank seinem politischen Talent und den von ihm geschaffenen Strukturen weitgehend selber bestimmen kann, wie lange er noch die Geschicke Ungarns lenken will. Er ist mit dem Sieg vom Sonntag stärker denn je und wird dies seine Gegner im In- und Ausland spüren lassen. Brüssel sollte sich darauf einstellen. Die Debatten um Rechtsstaatlichkeit, Fördermittel oder Sanktionen gegen Russland werden wohl noch schwieriger werden.“
Die „FAZ“ berichtet:
„In Ungarn hat eine konservativ und national ausgerichtete Partei abermals eine klare Parlamentsmehrheit errungen. Das ist anzuerkennen, auch von jenen, die sich in oder für Ungarn eine andere Regierung gewünscht hatten. (...) Der Wahlsieg vom Sonntag hat aber einen schweren Makel, an dem man ebenso wenig vorbeikommt. Er ist unter sehr unfairen Bedingungen zustande gekommen. Orbán und seine Leute haben sich der staatlichen Ressourcen und Machtmittel dazu bedient, die Opposition kleinzuhalten und die eigene Kampagne zu verstärken. (...) Dagegen gibt es von außen keine Zwangsmittel, auch nicht innerhalb der EU. (...) Wohl aber gibt es inzwischen einen Hebel gegen einen weiteren Missstand, nämlich die grassierende Korruption, die nicht zuletzt aus EU-Geld genährt wird.“
Die polnische Zeitung „Rzeczpospolita“ kommentierte am Dienstag den erneuten Wahlsieg des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán:
„Die Ungarn wählten beinahe an dem gleichen Tag, an dem die grauenerregenden Bilder aus Butscha um die Welt gingen. Man kann dies als Symbol werten und gleichzeitig als Prognose. Es ist symbolisch, dass sie der eigenen, antiukrainischen und Putin unterstützenden Propaganda glaubten. Das Ergebnis der Wahl zeigt die Richtigkeit der bekannten These, dass das System Orbán wie eine große Bank ist - zu groß, um es auf demokratische Weise zu stürzen. Es zeigt auch, dass wir innerhalb des Westens, der derzeit geeint ist wie noch nie, eine undemokratische, korrupte und illiberale Enklave haben.
Orbáns Äußerung am Wahlabend, wonach man es Brüssel gezeigt habe, deutet darauf hin, dass der Führer des ungarischen Volks seine Strategie einer ,Öffnung nach Osten‘ fortsetzen wird. Nur befindet er sich damit vollkommen isoliert im geeinten Westen. Und die Ungarn, die ihm vertrauen, in ihm einen Befreier des Volkes und einen wahren Messias sehen, stehen mal wieder auf der falschen Seite der Geschichte - so, wie dies schon öfter bei ihnen der Fall war.“