Politik

Polnische Migrationsexpertin: "Unser Land ist nicht in der Lage, mit der aktuellen Krise alleine fertig zu werden"

Nach Polen sind bisher 3,3 Millionen ukrainischen Flüchtlinge gekommen. Das entspricht fast neun Prozent der Gesamtbevölkerung. Kein Land hat bisher soviel Migranten aufgenommen. Wie die Lage einzuschätzen ist, berichtet die Warschauer Migrationswissenschaftlerin Marta Pachocka im exklusiven Interview mit den DWN.
14.05.2022 09:13
Lesezeit: 3 min
Polnische Migrationsexpertin: "Unser Land ist nicht in der Lage, mit der aktuellen Krise alleine fertig zu werden"
Ukrainer fliehen vor der russischen Armee nach Polen. (Foto: dpa)

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Seit dem Ausbruch des Krieges sind bisher 3,3 Millionen Flüchtlinge nach Polen gekommen. Das hat gerade die polnische Publikation „300gospodarka“ berichtet, die sich auf die offiziellen Zahlen der Polnischen Grenztruppen stützt. In den vergangenen 24 Stunden haben 18.100 Ukrainerinnen und Ukrainer die Grenze überschritten. Es sieht ganz danach aus, dass die Migration kein Ende findet – und das sogar zehn Wochen nach Beginn des Konfliktes.

Wie bewerten Sie die Zahlen?

Marta Pachocka: Die Daten der Polnischen Grenztruppen, der Regierung und der UN-Flüchtlingsagentur (UNHCR) beziehen sich auf die Übertritte über die Polnisch-Ukrainische Grenze. Man muss berücksichtigen, dass dies die Zahl des Zustroms ist, der nicht unbedingt die Zahl derjenigen widerspiegelt, die auch wirklich in Polen bleiben. Die Wissenschaftler des Zentrums für Wissenschaftliche Migration (CMR) gehen davon aus, dass davon etwa die Hälfte bleibt. Einige davon gehen in die Ukraine wieder zurück, oder aber ziehen in andere europäische Länder, Kanada und in die USA weiter. Es gibt keine vollständigen und belastbaren Zahlen. Wir arbeiten nur auf der Grundlage von Schätzungen.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Zahl der Flüchtlinge ist ja enorm. 3,3 Millionen stellen fast neun Prozent der gesamten Bevölkerung Polens dar. Wie bewältigen dies die Regierung und die Bürgerinnen und Bürger?

Marta Pachocka: Der stärkste Zustrom von Migranten erfolgte in den ersten drei Wochen nach der Aggression Russlands gegen die Ukraine. Das geht aus den Zahlen der UN-Flüchtlingsagentur (UNHCR) hervor. Eine sehr aktive Rolle haben in dieser Zeit die Nicht-Regierungsorganisationen, gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger und die Regierungen der Gemeinden an der Grenze zur Ukraine gespielt. Ebenso aber auch die größten polnischen Städte, zu denen die Hauptstadt Warschau, Krakau, Lublin und andere zählen. Etwas später ist die polnische Regierung dazu gekommen, indem sie ein besonderes Gesetz erlassen hat, um die ukrainischen Bürger zu unterstützen, die unter dem bewaffneten Konflikt leiden. Internationale Organisationen wie die EU, die UN-Flüchtlingsagentur und die Internationale Organisation für Migration (IOM) haben auch eine wichtige Rolle gespielt und für finanzielle, materielle und humanitäre Unterstützt gesorgt. Die Einbindung der Regierung wird derzeit als unzureichend angesehen. Insgesamt sei eine politische Lösung notwendig, die zentral gesteuert werde, heißt es.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was sind die größten Herausforderungen, die Polen bei der Aufnahme der Ukrainer bewältigen muss?

Marta Pachocka: Meine persönliche Liste der Herausforderungen lässt sich wie folgt aufstellen: Wie viele Migranten, die unfreiwillig aus der Ukraine gekommen sind, werden tatsächlich bleiben – und vor allem für wie lange? Eine andere Frage ist, wie viele Menschen sich dafür zu entscheiden, zurückzukehren, und wie viele werden in Zyklen migrieren. Darüber hinaus, müssen wir uns fragen, wie sie ihr demographisches und sozioökonomisches Profil aus? Dazu gehören ihr Alter, ihr Bildungsgrad, ihre Qualifikationen und ihre beruflichen Erfahrungen. Was sind ihre wichtigsten Bedürfnisse und Erwartungen? Wie können wir den Braindrain für die ukrainische Gesellschaft und Wirtschaft in Zukunft vermeiden? Weitere wichtige Fragen sind, wie die Lage aussieht und aussehen wird, wenn es um den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen geht – beispielsweise zur Bildung.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die Beziehung zwischen Polen und Ukrainern war in der Geschichte nicht immer die beste. Es gibt Polen, die sich sehr kritisch über ihre östlichen Nachbarn äußern. Warum ist gerade jetzt die Solidarität in Polen so groß, so dass die Polen die Flüchtlinge sogar zu sich nach Hause einladen?

Marta Pachocka: Das lässt sich auf unterschiedliche Art und Weise erklären. Ich will Ihnen ein paar Beispiele geben. Die Ukraine gehört zu den Nachbarn Polens. Viele Ukrainer sind vor einigen Jahren schon als Wirtschaftsmigranten oder Studenten nach Polen gekommen. Die Polen kennen halt schon die Ukrainer. Die Ukraine wird als ein Land angesehen, das sprachlich, kulturell und religiös verwandt ist. Darüber hinaus handelt es sich bei den Flüchtlingen überwiegend um Frauen und Kinder oder um Menschen, die älter sind. Dies sind Gruppierungen, die allgemein als hilfebedürftig gelten. Es liegt zudem im Interesse Polens, die Unabhängigkeit und die Souveränität der Ukraine zu bewahren, damit Russland nicht auch seinen Einfluss auf dieses Land ausdehnt. Es reicht, dass bereits Belarus stark politisch, wirtschaftlich und militärisch von Russland abhängt. Dies ist eine Frage der geopolitischen Sicherheit.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Polen, die EU und Deutschland hatten in der Vergangenheit einige Konflikte. Doch jetzt müssen sie gemeinsam gegen Russland handeln. Sehen Sie eine Chance, dass der Krieg in der Ukraine Brüssel und Warschau wieder zusammenbringt?

Marta Pachocka: Ich hoffe, dass dies eintritt und die polnische Regierung die Kooperation innerhalb der EU anerkennt. Polen braucht die EU und die europäische Solidarität. Es wird nicht der Lage sein, alleine mit der aktuellen Krise oder mit künftigen Krisen fertig zu werden. Gerade in der Gemeinschaft und in der Kooperation liegt eine Stärke.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Frau Pachocka, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Marta Pachocka ist Leiterin der Abteilung "Wissenschaft für Migrationspolitik" am Zentrum für Migrationsforschung der Universität Warschau.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
X

DWN Telegramm

Verzichten Sie nicht auf unseren kostenlosen Newsletter. Registrieren Sie sich jetzt und erhalten Sie jeden Morgen die aktuellesten Nachrichten aus Wirtschaft und Politik.

E-mail: *

Ich habe die Datenschutzerklärung sowie die AGB gelesen und erkläre mich einverstanden.

Ihre Informationen sind sicher. Die Deutschen Wirtschafts Nachrichten verpflichten sich, Ihre Informationen sorgfältig aufzubewahren und ausschließlich zum Zweck der Übermittlung des Schreibens an den Herausgeber zu verwenden. Eine Weitergabe an Dritte erfolgt nicht. Der Link zum Abbestellen befindet sich am Ende jedes Newsletters.

DWN
Finanzen
Finanzen Nvidia-Aktie im Fokus: Googles TPU-Pläne verschärfen den KI-Wettbewerb
28.11.2025

Der Wettbewerb um die leistungsfähigsten KI-Chips gewinnt rasant an Dynamik, da große Technologiekonzerne ihre Strategien neu ausrichten...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Start-up Etalytics: KI als digitaler Dirigent für die Industrieenergie
28.11.2025

In Deutschlands Fabriken verpuffen gewaltige Mengen Energie. Mit einer eigenen KI, die das System kontrolliert, gelingen Etalytics...

DWN
Finanzen
Finanzen Bullenmarkt im Blick: Steht der globale Aufwärtstrend vor einer Wende?
28.11.2025

Die globalen Aktienmärkte erleben nach Jahren starken Wachstums wieder mehr Unsicherheit und kritischere Kursbewegungen. Doch woran lässt...

DWN
Politik
Politik Milliarden-Etat für 2026: Bundestag stemmt Rekordhaushalt
28.11.2025

Der Bundestag hat den Haushalt für 2026 verabschiedet – mit Schulden auf einem Niveau, das zuletzt nur während der Corona-Pandemie...

DWN
Politik
Politik Zu wenige Fachkräfte, zu viele Arbeitslose: Deutschlands paradoxer Arbeitsmarkt
28.11.2025

Deutschland steuert auf fast drei Millionen Arbeitslose zu, doch das eigentliche Problem liegt laut Bundesagentur-Chefin Andrea Nahles...

DWN
Finanzen
Finanzen Inflation bleibt im November bei 2,3 Prozent stabil
28.11.2025

Auch im November hat sich die Teuerungsrate in Deutschland kaum bewegt: Die Verbraucherpreise lagen wie schon im Vormonat um 2,3 Prozent...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Koalition erzielt Kompromisse bei Rente, Autos und Wohnungsbau
28.11.2025

Nach langen Verhandlungen haben CDU, CSU und SPD in zentralen Streitfragen Einigungen erzielt. Die Koalitionsspitzen verständigten sich...

DWN
Politik
Politik Zeitnot, Lücken, Belastung: Schulleitungen schlagen Alarm
28.11.2025

Deutschlands Schulleiterinnen und Schulleiter stehen nach wie vor unter hohem Druck: Laut einer Umfrage der Bildungsgewerkschaft VBE sind...