Spätestens die Diskussionen in und nach der Anne-Will-Sendung am 8. Mai haben eines gezeigt: Die öffentliche Debatte in der Bundesrepublik über Waffenlieferungen an die Ukraine verläuft entlang strikter moralischer Trennlinien. Da sind diejenigen, die auf Deutschlands historische Schuld gegenüber Russland aufgrund der im Zweiten Weltkrieg begangenen Verbrechen verweisen; auf den Umstand, dass Waffenlieferungen den Krieg und das Leid unnötig verlängern; auf die Tatsache, dass Teile der ukrainischen Streitkräfte Rechtsradikale sind und völkischem Gedankengut anhängen. Und da sind diejenigen, die eine entgegengesetzte Meinung vertreten: Nämlich die, dass Deutschland gerade wegen seiner Vergangenheit die Pflicht hat, ein Land, das sich einem überlegenen imperialistischen Invasoren gegenübersieht, zu helfen; dass es notwendig ist, weiteren Angriffen auf kleine Länder wie etwa die Baltenrepubliken und Moldawien zuvorzukommen. Unabhängig davon, welche der beiden Positionen man sich zu eigen macht: Man muss sich die Frage stellen, ob das robuste Auftreten des ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk dem Anliegen seines Landes nicht mehr schadet, als es ihm nützt.
Trotz Krieg, trotz Leid und Tod: Differenzierungen müssen sein
So brachte der Soziologe Harald Welzer in der Sendung ein ernst zu nehmendes Argument vor, als er Melnyk darauf hinwies, dass auch die Deutschen Kriegserfahrungen haben. Kriegserfahrungen, die zwar Generationen zurückliegen, die aber immer noch spürbar sind, auch viele Jahrzehnte später. Oft waren und sind das Spuren der Schmach, der Vertreibung, des Verlusts und der Schuld. Welzer hat richtigerweise auf diese Spuren hingewiesen und erläutert, welchen Motiven das Zögern vieler Deutsche zugrunde liegt, wenn es um die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine geht. Welzer ist Wissenschaftler, er ist ein Mann des Diskurses, ein Mann der Differenzierung. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Botschafter eines Landes, in dem Eindringlinge grenzenloses Leid anrichten, für Differenzierungen keine Zeit hat. Aber werden seine Argumente dadurch stichhaltiger? Der Botschafter mag ein besserer Rhetoriker sein, ein gewiefterer PR-Profi als der sich dem Austausch von Argumenten und der Wahrheitsfindung verpflichtet fühlende Universitäts-Professor - aber das bedeutet noch lange nicht, dass er sich im Recht befindet, dass er die besseren Argumente hat. Dass der "gemeine", die seichte Unterhaltung suchende Fernsehzuschauer wirkungsmächtige Polemik mit argumentativer Schärfe verwechselt, mag noch verzeihlich sein - dass jedoch so manche Edelfeder im deutschen Feuilleton sich von Effekthascherei täuschen lässt, hinterlässt dann doch ein Gefühl der Enttäuschung.
In der öffentlichen Debatte um den Ukraine-Krieg ist kein Platz für simple Argumente, für billige Schuldzuweisungen. Das weiß sicherlich auch Melnyk. Doch der ukrainische Botschafter - dessen Heimatland sich, wie gesagt, im Überlebenskampf befindet - hat eine Aufgabe zu erfüllen. Die darin besteht, mit dem Zeigefinger zu diskutieren, mit dem Zeigefinger Schuldzuweisungen vorzunehmen. Ob das dem Gegenüber nun gefällt oder nicht. Gleichermaßen hat derjenige, auf den sich der Zeigefinger richtet, jedes Recht, sich zu wehren. Das hat Welzer getan, stellvertretend für viele Deutsche, die das Gefühl haben, moralisch vor sich her getrieben zu werden. Getriebensein wiederum bedeutet Kontrollverlust.
Rücksichtsvoll vorgetragene Forderungen bewirken häufig mehr
Dass besonders die Deutschen den Kontrollverlust, umso mehr in einer Kriegssituation, scheuen, sollte auch Melnyk wissen und berücksichtigen. So, wie er agiert, läuft er Gefahr, zunehmend Verständnislosigkeit zu wecken statt Hilfsbereitschaft. Wenn SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert sich in der Anne-Will-Sendung zurückhielt, dann tat er das, weil er sich dieser Dynamik bewusst war. Dem Jungpolitiker war anzumerken, dass er jedes Wort auf die Goldwaage legte, bevor er es äußerte. Bei aller Bereitschaft, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen, nahm er die Sorgen jener Menschen ernst, die Angst haben vor einer weiteren Eskalation in der Ukraine - und möglicherweise in Europa.
CDU-Politiker Ruprecht Polenz betonte gegen Ende der kontroversen Talk-Runde, dass die Eskalationsgefahr vielmehr dann anwachse, wenn Putin auch nur in geringem Maße von seiner Invasion profitiere. Ein Argument, das zu diskutieren zweifellos seine Berechtigung hat, das zu diskutieren sich lohnt. Aber auf zivile, respektvolle Art und Weise, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger eines Oberlehrers, nicht im Duktus des die Moralkeule schwingenden Anklägers.
Melnyk hat jedes Recht, Hilfe für sein geschundenes Land zu fordern. In der derzeitigen Situation kann man ihm auch das Erheben der moralischen Anklage nicht verweigern. Aber: Der Botschafter sollte - im Interesse seines Heimatlandes - nicht vergessen, dass Forderungen, die rücksichtsvoll vorgetragen werden, häufig mehr bewirken. Andererseits aber verleiht gerade die deutsche Geschichte dem moralischen Hebel seine rhetorische Schlagkraft. Diesen Hebel kennt und nutzt Melnyk zur Genüge. Allerdings sollte er sich fragen, ob sich dieser Hebel nicht auf Dauer zu sehr abnutzt.