Politik

Lagebericht Ukraine: Strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk steht vor Einnahme

Lesezeit: 3 min
30.05.2022 17:00
Die russischen Offensive nähert sich einem entscheiden Sieg im Osten der Ukraine.
Lagebericht Ukraine: Strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk steht vor Einnahme
Soldaten blicken auf den Rauch, der aus der Ölraffinerie von Lyssytschansk kommt. Lyssytschansk ist eine langgestreckte Stadt am hohen rechten Ufer des Donez in der Region Luhansk. Die Stadt ist Teil eines Ballungsraums, zu dem auch Sjewjerodonezk und Rubischne gehören; die drei Städte bilden einen der größten Chemiekomplexe der Ukraine. (Foto: dpa)
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Die russischen Offensive im Donbass nähert sich einem entscheiden Sieg im Osten der Ukraine. Nach ukrainischen Angaben steht die strategisch wichtige Stadt Sjewjerodonezk vor der Einnahme. Der Gouverneur von Luhansk, Serhij Gajdaj, sprach am Montag von sehr heftigen Kämpfen mit starkem Beschuss, bei dem zwei Zivilisten getötet und fünf verletzt worden seien.

"Leider haben wir enttäuschende Nachrichten, der Feind rückt in die Stadt ein", sagte Gajdaj im staatlichen Fernsehen. Die Gas- und Wasserversorgung der Stadt mit normalerweise rund 100.000 Einwohnern sei unterbrochen. Sjewjerodonezk ist die größte Stadt im Donbass, die von der Ukraine noch gehalten wird.

Die russischen Truppen "haben immer wieder die gleiche Taktik", sagte Gajdaj. "Sie bombardieren mehrere Stunden - drei, vier fünf Stunden, und dann greifen sie an." So sei es ihnen gelungen, in die Außenbezirke von Sjewjerodonezk einzudringen.

Eine französische Journalistin wurde nach Angaben des ukrainischen Außenministeriums bei der Evakuierung aus Sjewjerodonezk getötet. Sie sei in einem Fahrzeug gewesen, das Zivilisten aus den Kampfgebieten bringen sollte und das von russischen Geschossen getroffen worden sei.

Die Nachbarstadt Lyssytschansk sei indes weiter unter ukrainischer Kontrolle. Dort liefen Evakuierungen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj berichtete, rund 90 Prozent der Gebäude von Sjewjerodonezk seien beschädigt, mehr als zwei Drittel der Wohnhäuser zerstört. "Sjewjerodonezk einzunehmen, ist die Hauptaufgabe der Besetzer", sagte Selenskyj in seiner nächtlichen Video-Ansprache. "Wir tun alles, was wir können, um den Vorstoß aufzuhalten."

Russlands Außenminister Sergej Lawrow nannte die Einnahme des Donbass eine bedingungslose Priorität für sein Land und sprach dabei von einer Befreiung. Russland erkenne die separatistischen Donbass-Regionen Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten an, sagte er dem französischen Sender TF1 einer Meldung der Nachrichtenagentur RIA zufolge. Die anderen Teile der Ukraine sollten selbst über ihre Zukunft entscheiden.

In den vergangenen Tagen haben die russischen Streitkräfte im Osten der Ukraine immer wieder Erfolge erzielt. Für die ukrainischen Truppen wird die Lage dagegen immer schwieriger.

Ein ukrainischer Soldat, der in der Nähe der Ortschaft Bachmut in der Region Donezk kämpft, äußerte im Gespräch mit Reuters TV die Befürchtung, dass seine Regierung zu schnell aufgeben könnte. "Wissen Sie, wovor ich am meisten Angst habe, jetzt wo die Kämpfe so intensiv sind?" fragte der Mann, der seinen Namen mit Dmytro angab und vor dem Krieg Englisch-Lehrer war. "Dass wir gesagt bekommen: Das war's, hört auf, wir haben einen Waffenstillstand." Dies würde nur dazu führen, dass die Ukraine Teile ihres Territoriums abgeben müsste. "Eine Verhandlungslösung kann es nur nach ukrainischen Vorgaben geben, aber wenn es jetzt passierte, wäre es der Horror", sagte er.

"ANHALTEND SCHLECHTE DISZIPLIN"

Im Süden der Ukraine griffen russische Streitkräfte nach eigenen Angaben eine Schiffswerft in Mykolajiw an. Ein Hangar in der Okean-Werft sei von Artillerie-Beschuss getroffen worden, teilte das Verteidigungsministerium in Moskau mit. Dabei sollen Fahrzeuge und Ausrüstung zerstört worden sein. Mykolajiw liegt 100 Kilometer östlich von Odessa am Schwarzen Meer. In der von Russland kontrollierten nahegelegenen Region Cherson begann unterdessen die Ausfuhr von ukrainischem Getreide nach Russland. Ein Teil des im vergangenen Jahr geernteten Getreides werde aus den Speichern entnommen, sagte der Vize-Chef der Militär- und Zivilverwaltung, Kirill Stremoussow, der Nachrichtenagentur Tass zufolge.

Russland hat nach britischen Angaben offenbar große Verluste bei den mittleren und unteren Offiziersrängen erlitten. "Angesichts mehrerer glaubwürdiger Berichte über lokale Meutereien unter den russischen Streitkräften in der Ukraine wird der Mangel an erfahrenen und zuverlässigen Zug- und Kompaniekommandeuren wahrscheinlich zu einem weiteren Rückgang der Moral und anhaltend schlechter Disziplin führen", hieß es unter Berufung auf Geheimdienstberichte.

EU-STAATEN RINGEN UM ÖL-EMBARGO GEGEN RUSSLAND

Russland bezeichnet sein Vorgehen in der Ukraine als militärischen Sondereinsatz. Die Ukraine und westliche Staaten sprechen dagegen von einem Angriffskrieg. Die Europäische Union bereitet deshalb ihr mittlerweile sechstes Sanktionspaket vor. Dies ist auch Gegenstand des Sondergipfels der 27 EU-Staats- und Regierungschefs am Montag und Dienstag in Brüssel.

Ein darin geplantes Öl-Embargo gegen Russland wird allerdings nach wie vor von Ungarn blockiert. Das von der EU-Kommission vorgeschlagene, stufenweise Öl-Embargo soll bis Ende des Jahres im Wesentlichen umgesetzt sein. Vorbehalte dagegen haben auch die Slowakei und Tschechien angemeldet. Sie warnen, dass ihre Wirtschaft bei einem allzu schnellen Ausstieg aus dem Import von russischem Öl zusammenbrechen würde. Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich dennoch zuversichtlich: "Alles, was ich höre, klingt danach, als ob es einen Konsens geben könnte", sagte Scholz vor Beginn des Treffens. "Und früher oder später wird es den dann auch geben."


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