Weltwirtschaft

Geldnot hinter den Kulissen: Löst ein Rohstoff-Konzern die nächste Weltwirtschaftskrise aus?

Lesezeit: 5 min
22.06.2022 09:01  Aktualisiert: 22.06.2022 09:01
Von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt, hat sich an der Rohstoff-Börse ein Drama abgespielt, das sich bald wiederholen könnte - mit unabsehbaren Folgen für die Weltwirtschaft.
Geldnot hinter den Kulissen: Löst ein Rohstoff-Konzern die nächste Weltwirtschaftskrise aus?

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Der Begriff „systemrelevant“ fand im Zuge der von der Finanzwirtschaft ausgelösten Krise von 2008 Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch – und so verbinden die meisten Menschen ihn dementsprechend auch mit den Großbanken. Die ungeordnete Insolvenz der US-Investmentbank „Lehman Brothers“ gilt als Sinnbild der damaligen Finanz- und späteren Schuldenkrise und steht als Symbol für die schwerste Wirtschaftskrise seit der Großen Depression von vor knapp hundert Jahren. Nicht zuletzt aufgrund dieser Erfahrung richtet sich der Fokus auch stets auf diese Branche, wenn es für die Wirtschaftslenker darum geht, aufkommenden Problemen frühzeitig zu begegnen und zukünftige Krisen schon im Ansatz zu verhindern. Jedoch lehrt die Historie, dass Krisen – und Crashs – nicht selten unverhofft kommen, vor allem aus unerwarteter Richtung. In Zeiten wie diesen, mit angespannten Lieferketten und hochvolatilen Rohstoffmärkten, steigt auch die Gefahr für einzelne Rohstoffhandelshäuser, in Schieflage zu geraten. Und wenn das geschieht, droht ein Schneeballeffekt – und ein Szenario wie 2008. Denn auch die großen Rohstoffhändler sind „systemrelevant“ – was wäre die globale Wirtschaft ohne Rohstoffe?

Als die Metall-Händler der großen Schweizer Rohstoffhandelshäuser in den frühen Morgenstunden des 8. März dieses Jahres ihre Monitore anschalteten, um die Preisbewegungen der vorangegangenen Nacht zu prüfen, dürfte sich mehr als bloße Verwunderung in ihren Gesichtern gezeigt haben. Je nach Positionierung wird die emotionale Bandbreite von Euphorie bis Todessehnsucht gereicht haben, angesichts der beispiellosen Eskapaden des bis dato eher wenig spektakulären Nickelmarktes. Daran gewöhnt, dass der Preis dieses Industriemetalls am Tag üblicherweise nur um wenige hundert US-Dollar pro Tonne schwankt, und dies in den vergangenen zehn Jahren meist in einer Bandbreite zwischen 10.000 und 20.000 Dollar, wurden die Händler nun davon überrascht, wie er sich nach einer bereits mehr als sechzigprozentigen Vortagesrally immer weiter in die Höhe schraubte. Bereits um kurz nach 6.30 Uhr wurde ein neues Allzeithoch markiert, innerhalb weniger Minuten stieg der Preis um weitere 30.000 Dollar an und lag keine 20 Minuten später bei über 100.000 Dollar pro Tonne. Eine solche, in Umfang und Geschwindigkeit eklatante Preisbewegung, ist nicht mit dem klassischen Mechanismus von Angebot und Nachfrage zu erklären, sondern deutet auf existenzielle Probleme hin - ein Schwarzer Schwan, der möglicherweise mehr als nur den einen oder anderen Spekulanten in den Abgrund zu reißen droht.

Am Rande des Zusammenbruchs

Preissteigerungen im Rohstoffsektor sind für Marktteilnehmer nicht immer gute Nachrichten. Für diejenigen, die auf der falschen Seite der Spekulation stehen, natürlich sowieso nicht, aber auch nicht unbedingt für diejenigen, die sich lediglich im Bereich der Absicherungsgeschäfte bewegen. In diesem speziellen Fall ging der explosive Preisanstieg auf eine riesige Verkaufsposition an der Londoner Metallbörse „LME“ zurück, aufgebaut, vergrößert und gehalten vom chinesischen Tycoon Xiang Guangda und dessen Unternehmen „Tsingshan Holding Group“, dem weltweit größten Nickelproduzenten. Um dessen für dieses Jahr geplante Produktion an physischem Nickel - Xiang ging von 850.000 Tonnen aus - gegen Preisrückgänge abzusichern, hatte er einen Großteil davon bereits per Terminkontrakten an der Börse oder bilateral außerbörslich (in der Fachsprache: „Over The Counter“ [OTC]) an andere Händler, Hedgefonds oder Investmentbanken verkauft, die dann ihrerseits Absicherungsgeschäfte für diese Positionen eingegangen waren. Dies ist ein gängiges und wirtschaftlich vernünftiges Vorgehen, gerade angesichts des gemäß der Prognose zu erwartenden enormen Angebots.

Mit dem nach Putins Einmarsch in die Ukraine weitgehenden Ausfall der russischen Nickelproduktion – Russland ist drittgrößter Produzent – stiegen jedoch die Preise, und Tsingshan bekam infolgedessen zunehmend Probleme. Zwar verfügte sein Unternehmen, zumindest den Prognosen nach, über das Metall, was die Verluste auf der Börsenseite ausgleichen sollte. Für sich betrachtet lagen die Terminkontrakte aber dennoch schief. Und diese Schieflage musste durch entsprechende Gegengeschäfte, die die Preise weiter anheizten, oder finanzielle Nachschusszahlungen ausgeglichen werden, was bis Anfang März auch kein Problem war. Der dann folgende exponentiell ansteigende Preisanstieg jedoch schon. Und zwar nicht nur für Tsingshan (das sich allein am 7. März mit rund drei Milliarden Dollar Nachschussforderungen konfrontiert sah), sondern auch für eine zunehmende Zahl anderer Akteure. Angesichts der existenzbedrohenden Situation auch für eine Vielzahl kleinerer Produzenten, für Händler und für mindestens fünf LME-Broker, entschloss sich die Börse nicht nur dazu, den Handel zum ersten Mal seit Jahrzehnten tagelang auszusetzen, sondern darüber hinaus auch sämtliche Geschäfte seit Handelsbeginn des Tages bis zur Aussetzung zu stornieren. Dieses bislang beispiellose Vorgehen sorgte für einen Sturm der Entrüstung (bei denjenigen, die vom Preisanstieg profitierten) und brachte der Börse mittlerweile millionenschwere Schadenersatzklagen ein.

Mehr als ein Casino

Der große Unterschied zwischen den Finanz- und Rohstoffmärkten besteht darin, dass an den Rohstoffmärkten nicht bloß Eigentumsrechte verbucht, sondern tatsächlich Güter bewegt werden, die auf dem Weltmarkt zur weiteren Wertschöpfung Verwendung finden. Auch die Finanzkontrakte der Rohstoffbörsen sind tatsächlich physisch belieferbar. Der Nickelmarkt ist vergleichsweise klein, berührt jedoch ebenfalls die gesamte Weltwirtschaft. Es ist der Hauptbestandteil von rostfreiem Stahl und einer der wichtigsten Batterie-Rohstoffe. Wichtig, aber nicht unmittelbar lebensnotwendig, könnte man argumentieren, noch dazu eben ein viel kleinerer Markt als die, die uns beim Gedanken an Rohstoffe üblicherweise in den Sinn kommen. Und dennoch, wenn schon der Nickelmarkt seinen größten Produzenten ins Straucheln bringen kann und die üblichen Marktmechaniken die 145 Jahre alte größte Börse für Basismetalle binnen weniger Tage an den Rand des Kollapses führen können, benötigt man nicht viel Fantasie, um sich die Folgen auszumalen, sollte einmal eine vergleichbare Schieflage im Energie- oder Nahrungsmittelsektor eintreten. Dabei wären nicht nur die Folgen des einsetzenden Chaos bei der Rohstoffversorgung selbst dramatisch, auch der finanzielle Fallout würde wohl nicht von jeder Bank zu stemmen sein (im geschilderten Fall rang sogar der Banken-Riese JPMorgan, Xiangs wichtigster Kreditgeber, mehrere Tage mit sich, bevor er sich für dessen Bailout, und damit wohl das kleinere Übel, entschied. „Too Big to Fail“, diesmal im Falle eines Rohstoffproduzenten). Die fortwährenden Nachschussforderungen würden die Kreditlinien vieler der finanzierenden Banken überstrapazieren und diese selbst in Bedrängnis bringen. Die Fähigkeit der Marktteilnehmer, ihren Nachschussforderungen nachzukommen, ist mehr als fraglich, was das Risiko eines mehrfachen Zahlungsausfalls erheblich erhöht. All dies kreiert ein systemisches Marktrisiko mit erheblichem Übersprungspotenzial auf augenscheinlich damit gar nicht in Verbindung stehende Teile des globalen Wirtschaftswesens.

Gefahr erkannt – Gefahr gebannt?

Wenn Sie sich an die ersten beiden Folgen dieser Serie zum Thema Rohstoffhandel erinnern, dann wissen Sie, dass dessen Hauptakteure gerne ein wenig „unter dem Radar“ operieren. Es ist ein exklusiver Kreis, und man lässt sich aus vielerlei Gründen nicht gerne in die Karten schauen. Angesichts dessen ist es auch wenig verwunderlich, dass es gerade wieder die üblichen Verdächtigen aus Zug und Genf sind, die dem in Folge der Vorfälle im Nickelmarkt entwickelten Plan der London Metal Exchange hin zu mehr Transparenz, skeptisch gegenüberstehen (argumentiert wird übrigens mit Datenschutz…). Es ist jedoch sehr deutlich geworden, dass sich große Risiken gerade in den undurchsichtigen Ecken des Rohstoffhandels verbergen, namentlich im riesigen Ökosystem privat ausgehandelter Derivatgeschäfte, die die Abwicklungsstelle der Börse und die Einschussanforderungen umgehen. Eine Vielzahl der Nickel-Verkäufe waren in solchen Geschäften getätigt worden, so dass die Börse das Ausmaß und das potenzielle systemische Risiko der Positionen nicht erkennen konnte. Ab Mitte Juli wird die London Metal Exchange nun von ihren Mitgliedern verlangen, einmal pro Woche alle außerbörslich gehandelten Positionen ihrer Kunden offenzulegen.

Damit wäre dann zumindest an der LME eine bessere Risikoeinschätzung möglich, darüber hinaus droht jedoch weiterhin Gefahr. Sehr zu denken geben sollte das fast schon als Hilferuf zu interpretierende Schreiben der „European Federation of Energy Traders“ (EFET) - einer Handelsorganisation, in der einige der größten Rohstoffhändler und Versorgungsunternehmen des Kontinents zusammengeschlossen sind - das an die europäischen Regierungen gerichtet ist. Von „unerträglichem Liquiditätsdruck“ innerhalb der Branche ist da die Rede; man schlägt „eine zeitlich begrenzte Notfall-Liquiditätshilfe“ vor, um die drohenden Folgen der aktuellen Energiekrise abwettern zu können. Auch dies ist ein beispielloser Vorgang und illustriert die von der Öffentlichkeit überhaupt nicht erkannte Dramatik der aktuellen Situation. Die hohen - und stark schwankenden - Preise stellen für Rohstoffhändler enorme Probleme dar, da sie deren Finanzierungsbedarf massiv erhöhen. Leider ist Zahl der Banken, die in großem Umfang Finanzierungen für den Rohstoffhandel anbieten, in den letzten zehn Jahren erheblich geschrumpft. Mehrere Skandale haben viele Banken dazu veranlasst, ihre Kreditvergabe an den Sektor einzuschränken oder sich sogar ganz zurückzuziehen.

Die Branche operiert momentan am Limit, mit nur wenig Platz für Fehler. Sollte sich die Situation an den Rohstoffmärkten nicht grundsätzlich entspannen, und danach sieht es derzeit ganz und gar nicht aus, könnte die Liquidität auch großer Rohstoffhändler in Kürze ebenso schnell versiegen, wie seinerzeit die von Lehman und Co. Dass die Branche bereits jetzt nach der rettenden Zentralbank ruft, ist kein gutes Zeichen - und gibt Grund zu ernsthafter Sorge.

Markus Grüne (49) ist langjähriger professioneller Börsenhändler in den Bereichen Aktien, Derivate und Rohstoffe. Seit 2019 arbeitet er als freier Finanzmarkt-Journalist, wobei er unter anderem eigene Börsenbriefe und Marktanalysen mit Fokus auf Rohstoffe publiziert. 

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