Angesichts der im Herbst und Winter drohenden existenzgefährdenden Energie-Krise in Deutschland mehren sich Forderungen nach einem Weiterbetrieb der drei verbliebenen Kernkraftwerke. Bislang halten Grüne noch dagegen, die SPD ist gespalten, die FDP tendiert zum Pro-Atomkraft-Lager – ein Überblick:
Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (Freie Wähler) fordert wegen der neuerlichen Kürzung der russischen Gaslieferungen die Reaktivierung bereits abgeschalteter Atomkraftwerke. Aiwanger plädierte am Dienstag im Deutschlandfunk dafür, insgesamt sechs Atomkraftwerke vorübergehend weiter zu betreiben.
Neben den drei Ende dieses Jahres zur Abschaltung vorgesehenen Meilern sollten seiner Meinung nach auch die drei Atomkraftwerke Gundremmingen C, Brokdorf und Grohnde wieder in Betrieb genommen werden, die Ende 2021 vom Netz genommen worden waren.
„Es bleibt uns in der jetzigen Lage nix Anderes mehr übrig“, sagte Aiwanger. „Wir könnten sofort zeitnah Gas einsparen, wenn wir das mit Kernkraft abdecken würden.“ Aiwanger forderte die Bundesregierung und die Bundesnetzagentur auf, bereits jetzt auch Vorsorge für den Winter 2023/24 zu treffen: Spätestens im März oder April nächsten Jahres würden die deutschen Gasspeicher geleert sein. „Der gesamte Kohle- und Atomausstieg Deutschlands basierte darauf, dass wir die Gasversorgung als sichere Brücke hätten. Wenn diese Brücke jetzt wegbricht, müssen wir neue Brücken installieren.“
Dass Russland im kommenden Jahr so viel Gas liefert, dass die Speicher wieder aufgefüllt werden können, hält Aiwanger für unwahrscheinlich: „Natürlich reduzieren die die Menge, um uns am Zittern zu halten.“
Merz: sofort Brennstäbe beschaffen
CDU-Chef Friedrich Merz hat die Bundesregierung aufgefordert, umgehend neue Brennstäbe für die drei verbliebenen Atomkraftwerke in Deutschland zu beschaffen. „Die Bundesregierung muss sich jetzt um neue Brennstäbe bemühen“, sagte Merz den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Mittwoch). Es könne nicht nur ein vorübergehender Streckbetrieb mit alten Brennstäben aufrechterhalten werden. „Wir müssen einen Weiterbetrieb so lange ermöglichen, bis die Gefahr eines Engpasses beseitigt ist.“ Die Zeit zur Bestellung neuer Brennstäbe laufe davon. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) müsse jetzt handeln, um eine Stromknappheit im Winter zu vermeiden.
Die drei letzten deutschen Meiler müssen eigentlich bis 31. Dezember abgeschaltet werden. Beim Streckbetrieb würden die Kernkraftwerke zunächst gedrosselt, damit sie dann mit den vorhandenen Brennstäben auch über den Jahreswechsel hinaus betrieben werden können.
Der FDP-Energiepolitiker Michael Kruse hatte eine Verlängerung der Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke bis in das Frühjahr 2024 ins Spiel gebracht. Er forderte einen Gipfel im Kanzleramt. „Wie maximale Sicherheit gewährleistet werden kann und ob in Einzelfällen dafür auch kurzfristig neue Brennelemente benötigt werden, sollte die Bundesregierung in einem Kernenergiegipfel mit den Betreibern und Branchenverbänden klären“, sagte Kruse dem Tagesspiegel.
Grüne verhindern Weiterbetrieb
Grünen-Chefin Ricarda Lang bekräftigte im Tagesspiegel (Mittwoch): „Eine Laufzeitverlängerung wird es mit uns nicht geben.“ Einen Streckbetrieb schloss sie aber nicht aus. „Wir machen jetzt nochmal den Stresstest beim Strom. Natürlich schauen wir uns die Ergebnisse an, aber Stand jetzt spricht nichts dafür“, behauptete Lang.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) will zunächst die Ergebnisse eines zweiten Stresstests zur Sicherheit der Stromversorgung abwarten. Das sagte eine Regierungssprecherin am Montag. Sie bekräftigte, die Frage eines Weiterbetriebs der drei Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus werde ergebnisoffen geprüft.
Ein Sprecher von Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagte: „Zum jetzigen Zeitpunkt gehen wir davon aus, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt.“ Die Anforderungen für einen Weiterbetrieb wären sehr hoch, Sicherheitsfragen wären ausschlaggebend.
Das Wirtschaftsministerium hatte vor einer Woche einen zweiten Stresstest zur Sicherheit der Stromversorgung in Deutschland angekündigt. Es gehe darum festzustellen, ob die Versorgungssicherheit im Stromsektor und der sichere Betrieb des Netzes unter verschärften Annahmen gewährleistet seien.
Mit Ergebnissen sei „in den nächsten Wochen“ zu rechnen, bekräftigte eine Sprecherin des grün geführten Ministeriums am Montag. Sie behauptete erneut, Deutschland habe wegen der Drosselung russischer Lieferungen in erster Linie ein Gas- und kein Stromproblem – obwohl derzeit 15 Prozent des importierten Erdgases in Deutschland für die Stromerzeugung genutzt werden. Es gehe auch nicht darum, deutsche Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, um „kaputte“ französische Atomkraftwerke zu ersetzen. Ein erster Stresstest vom März bis Mai dieses Jahres kam zum Ergebnis, dass die Versorgungssicherheit im kommenden Winter gewährleistet ist.
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) schließt einen sogenannten Streckbetrieb von Atomkraftwerken in Deutschland über das Jahresende hinaus nicht aus. Auf die Frage, ob die Grünen einen Streckbetrieb zulassen würden, sagte sie am Sonntagabend in der ARD-Sendung Anne Will: „Wenn es dazu kommt, dass wir eine wirkliche Notsituation haben, dass Krankenhäuser nicht mehr arbeiten können, wenn eine solche Notsituation eintritt, dann müssen wir darüber reden, was mit den Brennstäben ist.“
Die drei verbliebenen Kernkraftwerke Neckarwestheim 2, Emsland und Isar 2 müssen nach geltendem Recht spätestens am 31. Dezember abgeschaltet werden. An der Nettostromerzeugung in Deutschland haben sie im laufenden Jahr einen Anteil von rund sechs Prozent. Ein Streckbetrieb gilt als nicht einfach: Die Bundesministerien für Umwelt und Wirtschaft waren in einer Prüfung im März zum Ergebnis gekommen, dass die drei Meiler mit den vorhandenen Brennstäben nach dem 31. Dezember nur dann weiterlaufen könnten, wenn ihre Stromerzeugung vorher gedrosselt würde. Die Ministerien hatten von einem Weiterbetrieb abgeraten. Der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) zufolge wäre ein Streckbetrieb für mindestens 80 Tage realisierbar.
„Ideologische Scheuklappen“
Die FDP ist für längere Laufzeiten. Der Vizevorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, Matthias Miersch, jedoch sieht einen Weiterbetrieb weiterhin skeptisch. Er sagte den Zeitungen der Funke Mediengruppe, die Sicherheitsüberprüfungen der verbliebenen Atommeiler lägen 13 Jahre zurück, auch das müsse ausreichend berücksichtigt werden.
Die Periodischen Sicherheitsüberprüfungen (PSÜ) dienen laut Umweltministerium dazu, ergänzend zu laufenden Kontrollen ein AKW quasi auf Herz und Nieren zu prüfen. Laut Atomgesetz müssen die PSÜ eigentlich alle zehn Jahre durchgeführt werden. Für die verbliebenen drei AKW gab es das letzte Mal im Jahr 2009 eine PSÜ. Auf die letzte PSÜ habe verzichtet werden dürfen - wenn der AKW-Betreiber verbindlich erklärt habe, nicht später als drei Jahre nach dem für die letzte PSÜ vorgeschriebenen Zeitpunkt den Leistungsbetrieb endgültig einzustellen.
Der wirtschaftspolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Leif-Erik Holm, forderte die Grünen auf, ihre „ideologischen Scheuklappen“ abzulegen. „Wir brauchen alle Kernenergie, die wir bekommen können.“ Dazu gehöre neben dem Weiterbetrieb der noch drei laufenden Kraftwerke, die drei im vergangenen Jahr vom Netz genommenen Atomkraftwerke wieder zur Stromproduktion zu nutzen.