Die vom neuen Twitter-Chef Elon Musk orchestrierte und federführend von den drei US-Journalisten Michael Shellenberger, Matt Taibbi und Bari Weiss in bislang fünf Twitter-Threads umgesetzt Veröffentlichung der „Twitter Files“ schlug hohe Wellen.
Sehen die einen in ihnen eine Aufarbeitung, die längst ausgestanden hatte – oder, wie Musk selbst, in Twitter gar einen großen „Tatort“ –, so sprechen Kritiker von einem „Nothingburger“, also einer Luftnummer.
Worum geht es in den „Twitter Files“ überhaupt?
Zusammengefasst geht es in den „Twitter Files“ um den Vorwurf politischer Voreingenommenheit gegenüber der langjährigen Twitter-Führung. So sollen Moderatoren im US-Wahlkampf überwiegend Anträgen für die Löschung von Postings seitens demokratischer Politiker und Nutzer nachgekommen sein – und auch die große Mehrheit der Spenden an Twitter kam im Wahljahr laut „Twitter Files“ von den US-Demokraten.
Zudem habe Twitter, so der Vorwurf, vor allem konservative und republikanische Nutzer, oft Politiker oder Medienpersönlichkeiten, mit Sichtbarkeitseinschränkungen – unter anderem Einschränkungen der Reichweite sowie der Auffindbarkeit in der hauseigenen Suchmaschine – belegt.
Und das obwohl Twitters Ex-Chefjuristin Vijaya Gadde 2018 noch betont hatte, dass solche Einschränkungen keineswegs aufgrund politischer Motive gefällt würden. Dass Gadde nicht die Wahrheit gesagt haben soll, lässt sich nicht hinreichen belegen. Gleichsam standen Tür und Tor für politisch motivierten Machtmissbrauch offen.
Doch Shellenberger, Taibbi und Weiss beließen es nicht dabei, sondern lenkten die Aufmerksamkeit vielmehr auf ein weiteres Streitthema: Die Sperrung des damals noch amtierenden US-Präsidenten Donald Trump.
Warum sperrte Twitter Trump eigentlich?
Nach dem Sturm des US-Kapitols durch das Wahlergebnis von 2020 anzweifelnde Trump-Anhänger entschied sich Twitter damals – entgegen eigener Richtlinien, wie die Autoren der „Twitter Files“ betonen – für eine unwiderrufliche Sperrung des damaligen US-Präsidenten.
Als der „Oberste Führer des Irans“, Ali Chameini, den Staat Israel 2018 auf Twitter als einen „bösartigen Krebstumor“ bezeichnet sowie zu dessen „Entfernung und Auslöschung“ aufgerufen hatte, hatte Twitter noch nicht mit einer Sperrung reagiert, wie Weiss, auch unter Verweis auf andere Fälle unbehelligt auf Twitter zu Gewalt aufrufender Staatsoberhäupter, anprangert.
Warum sperrte Twitter also Trump, aber nicht Chameini? Erst einmal gilt es zu bedenken, dass die Richtlinien der Plattform lange vorsahen, dass Staatsoberhäupter aus öffentlichem Interesse nicht zensiert oder gar gesperrt werden sollten – im Zweifelsfall auch, damit Bevölkerungen ihre politischen Führer offen diskutieren und anprangern können.
Twitter warf im Falle Trumps seine eigenen Richtlinien über Bord
Doch im Falle Trumps wurden diese ursprünglichen Richtlinien unter Verweis auf eine Bedrohung der nationalen Sicherheit über Bord geworfen, wie es Shellenberger, Taibbi und Weiss detailliert – und akribisch mit internen Mails und Kurznachrichten Twitters unterlegt – aufzuzeichnen gelungen ist.
Dieser Prozess erfolgte laut Shellenberger, Taibbi und Weiss auf äußeren und inneren Druck: einerseits seitens linker und liberaler US-Politiker und -Medien und andererseits seitens der eigenen Mitarbeiter Twitters. Nur wenige Mitarbeiter sollen Skrupel hinsichtlich der Entscheidung gezeigt haben, Trump zu sperren – im Gegensatz zu damaligen EU-Spitzenpolitikern wie Emmanuel Macron oder Angela Merkel, die, wie Weiss erinnert, mit Befremden auf die Entscheidung reagierten.
Nachdem der frühere Twitter-Chef und Gründer des Unternehmens, Jack Dorsey, anfangs lediglich zugestimmt hatte, das ohnehin nicht auf unwiderrufliche Sperren ausgelegte System Twitters so umzubauen, dass Nutzer künftig nach fünf „Strikes“ endgültig gesperrt wurden konnten, wurde Trump schließlich sogar ohne Berufung auf diese neue Regelung gesperrt.
Twitter-Mitarbeiter verglichen Trump mit Hitler
Stattdessen verwies man auf den größeren Kontext der Postings Trumps und interpretierte sie auf Grundlage dessen als Anstiftung zur Gewalt. Die „Twitter Files“ zeigen, dass manche Twitter-Mitarbeiter Trump dabei mit Adolf Hitler und dem rechtsextremen Christchurch-Attentäter Brenton Tarrant verglichen.
Auch Hannah Ahrendts Wort von der „Banalität des Bösens“ soll dabei mehrmals gefallen sein, sodass der Verdacht nahe liegt, dass Twitter-Mitarbeiter, die an den Richtlinien des Unternehmens festhielten, geradezu mit Mitläufern im Nationalsozialismus verglichen wurden.
Freilich waren die meisten Beispiele in den „Twitter Files“ anonymisiert, bruchstückhaft und somit nicht vollends aussagekräftig, dennoch lassen sie die Stimmung im Unternehmen vor der von vielen Mitarbeitern ersehnten Trump-Sperrung – und nach dem Kapitolsturm, für den Kritiker auch die vermeintliche Untätigkeit der Twitter-Führung gegenüber Trump verantwortlich machten – erahnen.
Warum ist das alles nun von Bedeutung?
Nun ließe sich natürlich anführen, dass Twitter ein privates Unternehmen ist und somit frei über seine eigenen Richtlinien und auf der eigenen Plattform kursierenden und handelnden Inhalte und Nutzer entscheiden darf.
Ob die Plattform dabei wie bisher im Falle Twitters zentral, persönlich und seit der Sperrung Trumps auch präemptiv oder aber rein regelbasiert und algorithmenbetrieben – wie Ex-CEO Dorsey es inzwischen einfordert – moderiert wird, wäre demnach einzig und allein eine Sache der Unternehmensführung.
Fakt ist jedoch, dass soziale Medien unsere Welt und damit auch politische Debatten und Entscheidungen nicht nur durchdringen, sondern inzwischen auch bedingen. Die große Entscheidungsgewalt der ehemaligen Twitter-Führungsriege – und damit auch das Recht zur Zensur – steht dabei im Widerspruch zu ihrer vollständige fehlenden demokratischen Legitimation.
Ob Trumps Sperrung gerechtfertigt war oder nicht: Die „Twitter Files“ verdeutlichen, dass solche gewichtigen Entscheidungen nicht allein in den Hinterzimmern der Big-Tech-Konzerne oder infolge klandestiner Absprachen mit Geheimdiensten, sondern transparent und (im besten Falle) demokratisch legitimiert getroffen werden sollten.
Musk glaubt nicht, dass Trump ohne Twitters „Wahlbeeinflussung“ gewonnen hätte
Shellenberger, Taibbi und Weiss fordern nicht mehr oder minder als die konsequente Diskussion darüber ein. Gleichsam lässt sich nicht leugnen, dass der neue Twitter-Chef mit „Twitter Files“ auch in gewisser Hinsicht Marketing betreibt: Schließlich will er den Kurznachrichtendienst langfristig zu einer Plattform für Bürgerjournalismus ausbauen.
Mit Kritik an seinen Vorgängern spart der SpaceX- und Tesla-Gründer derweil nicht. Zuletzt twitterte er so, dass „Wahlbeeinflussung durch Social-Media-Unternehmen ganz offensichtlich das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Demokratie“ untergrabe und falsch sei. Eines von vielen schweren Urteilen, an denen Musk sich nun wird messen lassen müssen.
Gleichsam erteilt er jenen eine Absage, die glauben, dass Trump ohne Twitters „Wahlbeeinflussung“ gewonnen hätte: „Glaube ich, dass Trump trotzdem verloren hätte? Ja. Und zur Erinnerung: Ich habe Biden, Hilary und Obama unterstützt.“