Während die mathematischen und naturwissenschaftlichen Kenntnisse von Studierenden in Ländern wie Japan, China oder Indien auf hohem Niveau sind, befindet sich Deutschland auch diesbezüglich im Sinkflug. Damit ist der Industriestandort Deutschland massiv gefährdet. Das hat auch geopolitische Konsequenzen, denn ein Land ohne Rohstoffe und Kompetenzen wird immer mehr zum Spielball anderer Mächte. Darüber sprachen die Deutschen Wirtschaftsnachrichten mit dem Mathematiker Prof. Dr. Bernhard Krötz, der bereits mit einigen Videos Alarm geschlagen hat.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie sind Mathematiker. Was bedeutet Mathematik für Sie?
Prof. Bernhard Krötz: Zu Beginn meiner Karriere machte ich einen Mathematiker an vier Dingen fest, und zwar erstens an seinem technischen Können. Damit ist die Rechenfähigkeit und Durchdringung der verwendeten Theoriegebäude gemeint. Zweitens an seiner Fähigkeit, die Dinge so direkt, schlank und ansprechend wie möglich darzustellen. Wenn Sie so wollen, ist dies ein ästhetischer Aspekt. Drittens an seiner Definitionsgewalt, das heißt, die Fähigkeit, die Resultate seiner mathematischen Überlegungen als allgemein gültige und unwiderrufliche mathematische Begriffe zu definieren. Und viertens an seiner Intuition, Offenheit und Neugier. Intuition in gesteigerter Form wird zur Eingebung und ich will an dieser Stelle eine persönliche Erfahrung preisgeben: Ein Referent hat einst in einer Arbeit mit zwei Kollegen dreimal hintereinander eine Lücke in einem Beweis entdeckt und ich war so weit, die Arbeit zurückzuziehen, öffnete eine Flasche Wein, um die Schmach zu lindern. Doch dann wurde ich illuminiert und eine gänzlich unerwartete Lösung manifestierte sich augenscheinlich. Von einem Moment auf den anderen wurde ich nüchtern, setzte mich an den Rechner und morgens um Fünf hatte ich meine Gedanken schließlich niederschrieben. Drei Stunden später warf mich das bimmelnde Telefon aus dem Bett. Es war ein Freund und langjähriger Koautor Eitan Saga aus Tel Aviv, der in den Hörer rief: „From where did you geht this?“ Diese Art der Erfahrung, nämlich dass man am Ende eines langen anstrengenden Prozesses, in dem man alle bisher bekannten Ansätze verwerfen musste, um schlussendlich von den höheren Sphären Nachricht zu erhalten, machte mich zum spirituellen Menschen. Ich erlaube mir hier mir Goethe zu zitieren:
Alles geben Götter, die unendlichen,
Ihren Lieblingen ganz,
Alle Freuden, die unendlichen,
Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.
Doch zurück zum Beginn meiner Ausführungen: Nach meiner Erfahrung sind die meisten Mathematiker ausgesprochen gut, was die ersten beiden Punkte anbelangt. Bei den anderen beiden - der Definitionsgewalt und der Intuition - wird die Luft hingegen immer dünner. Doch Mathematik ist für mich mehr als das Beweisen von Vermutungen, die Entdeckung von neuen Zusammenhängen oder das Erstellen neuer Theoriegebäude. Für mich ist Mathematik eine Lebenseinstellung: Angelehnt an das Altgriechische μάθημα will ich den Dingen auf den Grund gehen. Da wird es dann nicht selten unheimlich: Schale um Schale geht ab, oder um es mit Meister Eckhart auf seiner Suche nach Gott auszudrücken: Man nähert sich dem tiefsten Grund und das uns zur Verfügung stehende Vokabular verläuft einem wie Sand zwischen den Fingern.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welche Voraussetzungen muss jemand mitbringen, um Mathematiker werden zu können?
Prof. Bernhard Krötz: Eine gewisse Grundintelligenz sollte natürlich vorhanden sein, keine Frage. Ist dies der Fall, kommt es vor allem auf den Charakter an: Durchdringungswille gepaart mit hoher Frustrationstoleranz sind das A und O. Dazu gehört aber eben auch Neugier und der Mut, ausgetretene Gedankenpfade zu verlassen: Wenn Sie es ganz nach oben schaffen wollen, müssen Sie auch bereit sein, etablierte Theoriegebäude anzuzweifeln. Damit begeben sie sich allerdings auf einen steinigen Weg und müssen in Kauf nehmen, daß anfänglich der Wert ihrer Arbeit verkannt wird und nur unter Wert publiziert werden kann. Darauf lassen sich naturgemäß nur die wenigsten ein und betreiben stattdessen einen vollumfänglich langweiligen Nachschliff dessen, was bereits glänzt - ihnen ist damit mit wenig Aufwand die Aufmerksamkeit sicher.
Doch die größten mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse verdanken wir Leuten, die bereit waren, andere Wege zu gehen. Denken Sie an Tesla, Pauli, Heisenberg, oder Feynman aus der letzten Blütezeit der Physik, oder an Riemann und Grothendieck, welche in ihrem Jahrhundert die Mathematik neu ausrichteten. Übertriebene Angepasstheit hingegen führt zur Stagnation, in den Wissenschaften ebenso wie im Politisch-Gesellschaftlichen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie wichtig ist mathematische Bildung für eine funktionierende (Industrie-) Gesellschaft?
Prof. Bernhard Krötz: Sehr wichtig. Man spricht ja oft von MINT- Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik), doch die Typographie dieses Akronyms führt in die Irre. Denn offen gestanden ist die Mathematik die unentbehrliche Grundlage, auf der die übrigen Disziplinen aufbauen. Korrekt wäre also MINT mit einem ganzen großen „M“, denn ohne das M, gäbe es kein INT. Und ohne INT hätten wir keine Industriegesellschaft.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie haben die Aufnahmeprüfungen für naturwissenschaftliche Studien in NRW und Indien miteinander verglichen. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Prof. Bernhard Krötz: Indien strebt an die Weltspitze, Deutschland strebt davon weg. Und das spiegelt sich besonders deutlich in den Anforderungen wider, die in den beiden Ländern an Menschen gestellt werden, die ein mathematisches oder naturwissenschaftliches Studium beginnen wollen. Noch vor zwanzig Jahren konnten Sie mit einem deutschen Abitur, das Sie an einem deutschen naturwissenschaftlich ausgerichteten Gymnasium erworben hatten, bedenkenlos ein Studium der Mathematik oder Naturwissenschaften aufnehmen. Heute allerdings hat man die Anforderungen an deutschen Schulen derartig abgesenkt, dass zwar jeder das Abitur besteht, dann dafür aber völlig orientierungslos in den Seminaren an der Uni ist, weil ihm die elementarsten Grundlagen fehlen. Ganz anders die Inder: Die haben verstanden, dass die Überwindung der Armut im Land am besten über Bildung funktioniert und dementsprechend motiviert gehen sie zur Sache. Hier werden die jungen Leute gefordert und gefördert, und das zahlt sich aus. Zwei Beispiele: In NRW gibt es jedes Jahr ein sperriges Textgebilde, um die banale Funktionsklasse f(t)= a + b exc t mit der Zeitvariable t und Stellparametern a, b, c, welche aus dem Text zu extrahieren sind. In Asien wird man dafür belächelt und unter jeeadv.ac.in/archive.html können Sie die Aufgaben vom JEE (Joint Entrance Exam) mit denen aus NRW und anderen Bundesländern - siehe dazu exemplarisch die Abituraufgaben, die im 2. Brandbrief meiner Kollegen angegeben wurden - abgleichen. Oder um es anders auszudrücken: Was man den jungen Leuten in Deutschland abverlangt, ist alberner Pipifax. Damit fahren wir unser ganzes Land gegen die Wand.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Woran liegt es, dass uns die Inder - und andere Asiaten - so weit voraus sind?
Prof. Bernhard Krötz: Viele asiatische Gesellschaften sind meritokratisch ausgerichtet. Ein Beispiel aus meinem Umfeld: Für wissenschaftliche Höchstleistungen, etwa eine Publikation in einem der wenigen Spitzenjournale, erhalten sie in Singapur eine permanente Gehaltserhöhung von 5-10 %. Schaffen sie das vermehrt, verbessert man ganz automatisch ihre Arbeitsbedingungen, das heißt. sie bekommen eine zusätzliche Mitarbeiterstelle und werden vom Unterricht teilweise freigestellt. In Deutschland werden sie dafür wenig honoriert. Stattdessen können Sie hier erfolgreich sein, wenn Sie den Nervenkrieg um einen administrativen Posten durchstehen. Die sind aber oft überflüssig. Nennen möchte ich hier den Posten eines Vizepräsidenten, und hier vor allem den Vize für Qualität in der Lehre mit all den Studiendekanen im Gefolge. Hoch im Kurs ist auch die Einwerbung von Verbundprojekten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Dass es sich hierbei zumeist um langweilige Auftragsforschung mit absehbarem Ausgang handelt, ist dabei nicht von Interesse. Persönlich interessiert mich nur high risk/high gain Forschung doch dafür gibt es kaum noch vernünftige Förderlinien. Diesbezüglich möchte ich Wittgenstein zitieren: Wir wissen mitunter nicht, wonach wir suchen, bis wir es schließlich gefunden haben. Wir aber drehen uns immer mehr um uns selbst und da helfen auch keine Exzellenz-Initiativen der Bundesregierung, denn offen gestanden meint der Begriff Exzellenz implizit ja, dass er auf einige wenige beschränkt ist. Dies ist ja offensichtlich nicht der Fall und jede deutsche Ordinarien-Universität zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellt eine neue Exzellenz-Uni weit in den Schatten. Nobelpreise gingen einst vornehmlich nach Deutschland.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie schreiben, dass die mathematischen Kenntnisse früherer Abiturjahrgänge in Deutschland deutlich besser waren als heute. Wie lässt sich dieser Abfall erklären?
Prof. Bernhard Krötz: Vor etwa 50 Jahren waren die Bildungssysteme in der Schweiz und Deutschland noch sehr ähnlich: Eine Gymnasialquote von etwa 10 % wurde durch sehr solide Haupt- und Realschulen ergänzt. Davon profitierten das Handwerk und der Mittelstand, die die tragenden Säulen der Gesellschaft waren. Heute hingegen maturieren in der Schweiz 20% und in Deutschland, je nach Bundesland, bis zu 60 %. Ist das nun eine begrüßenswerte Entwicklung oder nicht? Jedenfalls nicht, wenn Sie die Patentanmeldungen pro Kopf dieser beiden Länder miteinander vergleichen. Die Schweiz ist hier deutlich produktiver als wir, die Schere geht immer weiter auseinander. Wir sind schon lange nicht mehr die besten Tüftler weit und breit. Vielleicht ist ja einer der Gründe hierfür, dass sich Deutschland naiv an die Vorgaben der OECD gehalten hat, während man diese in der Schweiz distanzierter betrachtet hatte. Diesbezüglich verweise ich auf die vielen Diskurse, welche auf dem Schweizer Blog condorcet.ch geführt werden. Mit Bedauern stelle ich fest, dass Bildung in der Schweiz einen viel höheren Stellenwert als in Deutschland hat.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wir erleben den Übergang von einer uni- zu einer multipolaren Weltordnung. Ist Bildung neben der Geographie einer Region, Rohstoffen, Handelswegen und Währungssouveränität ein geopolitischer Faktor? Und falls ja, wie würden Sie diesen gewichten?
Prof. Bernhard Krötz: Absolut. Eine hohe Allgemeinbildung, mehr aber noch ein verständiger und freier Geist - habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, um es mit Immanuel Kant zu sagen - sind wichtig für eine freie und souveräne Gesellschaft. Und eine freie und souveräne Gesellschaft, in der die Bürger nicht über die Maße bevormundet werden, sondern sich ihre eigenen Gedanken machen dürfen, sind wichtig für Kreativität, Innovation und Forschung. Ich denke, das ist ein ganz wichtiger Aspekt eines Bildungsbegriffs, der in der Tradition Wilhelm von Humboldts steht. Darüber hinaus möchte ich aber betonen, dass gerade im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich die Vermittlung von grundlegenden Fertigkeiten essentiell ist, hier müssen Sie eine möglichst breite Grundlage schaffen, denn nur auf einer solchen Basis können Sie dann auf die Spitzenleistungen einiger weniger hoffen. Sie brauchen eben auch viel Milch, um Sahne schöpfen zu können. Natürlich gehört dazu auch die prinzipielle Bereitschaft, Bildung als ein erstrebenswertes Gut zu betrachten und sie nicht infolge einer „Woke-“ oder „Genderideologie“ per se zu diskreditieren. Gut, das sind gesellschaftliche Entwicklungen, die dazu führen, dass die Mathematik selbst inzwischen als rassistisch etikettiert worden ist, so einen Blödsinn können sie gerne behaupten, aber natürlich hat so etwas auch Auswirkungen auf das internationale Machtgefüge: Je stärker das mathematische und wissenschaftliche Niveau in einem Land abfällt, desto mehr wird es auch den Anschluss an Zukunftstechnologien verpassen. Das wiederum wirkt sich negativ auf die Wirtschaft und die militärische Leistungsfähigkeit aus und das wiederum führt über kurz oder lang zu geopolitischer Bedeutungslosigkeit.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In welchen Zukunftstechnologien droht Deutschland aufgrund seiner mangelnden mathematischen und physikalischen Bildung zurückzufallen?
Prof. Bernhard Krötz: Wir verpassen beispielsweise gerade die Entwicklung der Kernkraft 4.0. Das Stichwort ist SMR (Small Modular Reactors) und insbesondere der DFR (Double Fluid Reactors), welcher in Deutschland ersonnen wurde. Aber natürlich wird diese Technologie in anderen Ländern zum Einsatz kommen und dort zum allgemeinen Wohlstand beitragen. Auch wenn es viele nicht anerkennen wollen: Der Schlüssel zu Wohlstand und Sicherheit ist saubere, billige und verlässliche Energie. Mit Windmühlen und Solarpanelen wird das nicht zu erreichen sein. Zu nennen wären aber auch die Quantentechnologie, für die Sie über Kenntnisse der theoretischen Informatik, welche die Gesetze der Quantenphysik in brauchbare Algorithmen umwandelt, verfügen müssen und Künstliche Intelligenz, wobei ich glaube, dass Künstliche Intelligenz kein eigenes Bewusstsein wird erlangen können, allen Blütenträumen im Silicon Valley zum Trotz. Sie wird sich als ein immer nützlicheres Hilfsmittel erweisen, aber das eigentliche Geheimnis des Bewusstseins und allen Lebens kennt nur Gott.
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Info zur Person: Prof. Dr. Bernhard Krötz ist ein deutscher Mathematiker und Hochschullehrer an der Universität Paderborn. Sein Lebenslauf mit Hinweisen auf seine Veröffentlichungen findet sich in Kurzform auch auf Wikipedia. Nebenbei betreibt er einen Youtube- Kanal zu Missständen in der deutschen Bildungspolitik.