Ende April dieses Jahres, hatten sich leitende Redakteure des renommierten britischen Magazins „Economist“ bei Henry Kissinger eingefunden, um von ihm zu wissen, wie er die internationale Lage sehe. Sie waren gleichermaßen verblüfft und fasziniert, wie der damals kurz vor seinem 100. Geburtstag Stehende „mit nadelgenauer Präzision“ das Geschehen auf der Weltbühne sezierte - die Lage in China und Taiwan, den Krieg in der Ukraine, die Situation in Russland.
Kissinger stellte in dem Gespräch mit dem „Economist“ klar, dass seiner Meinung nach, die Forderung, Putin vor dem Internationalen Gerichtshof anzuklagen, nur dazu führen werde, den Krieg in der Ukraine zu verlängern. Denn: Es werde „unmöglich sein, einen Krieg zu begrenzen, wenn man den Ausgang des Krieges mit dem persönlichen Schicksal eines Führers verknüpft“. Scharf kritisierte er den Westen, vor dem Krieg öffentlich über die Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine fabuliert zu haben, ohne die Möglichkeit, diese militärisch zu schützen. Dies ändere, so Kissinger nichts daran, dass das Verhalten Putins unentschuldbar sein, doch ein Fehler des Westens bleibe es. Genau legte er in dem Gespräch die Motive Chinas zur Unterstützung Russlands dar. Für China sei es keine Herzensangelegenheit, doch befürchte es ein Machtvakuum in Zentralasien und möglicherweise daraus resultierende Bürgerkriege. Den USA gab er mit auf dem Weg, dass es Wege finden müsse, mit China zu leben, ohne der Gegenseite den Eindruck zu vermitteln, dass man an einem „Regime Change“ arbeite.
In diesem langen Interview wurde deutlich, dass da jemand spracht, der sein Handwerk verstand; jemand, der die Geschichte der Völker studiert hatte und deshalb auch um ihre Interessen und Befindlichkeiten wusste. Das hatte nicht zuletzt mit dem Lebensweg jenes Mannes zu tun, der am 27. Mai 1923 als Heinz Alfred Kissinger im fränkischen Fürth als Sohn eines Geschichtslehrers geboren wurde. 15-Jährig musste er mit seiner jüdischen Familie vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach New York fliehen. Nach Deutschland kam er sechs Jahre später zurück – als Soldat der US-Armee. 1947 kehrte er in die USA zurück, studierte in Harvard Politik und Geschichte. Schon seine Doktorarbeit ließ nicht nur akademisch aufhorchen – sie wies auch den weiteren Weg jenes Mannes, der immer sowohl Wissenschaftler als auch aktiver politischer Gestalter war. In seiner Arbeit, „A World Restored: Metternich, Castlereagh and the Problems of Peace 1812-1822“, die heute längst ein anerkanntes Werk der Geschichtsschreibung ist, beschreibt Kissinger die Neuordnung Europas nach den napoleonischen Kriegen.
Der große Sprung auf die Bühne des Weltgeschehens erfolgte 1969 als er Sicherheitsberater des neugewählten Präsidenten Richard Nixon wurde. Zwar gab es auch einen Außenminister, William Rodgers hieß dieser, aber der spielte von Anfang an keine wirkliche Rolle. Nixon, der sich selbst für Außenpolitik interessierte, wollte Außenpolitik aus dem Weißen Haus heraus gestalten – mit Kissinger an seiner Seite.
Die außenpolitischen Aufgaben, vor denen die neue Nixon-Regierung stand, waren gewaltig. Zum einen musste das Riesen-Schlamassel eines Vietnamkrieges, das Nixon von seinen demokratischen Vorgängern geerbt hatte, irgendwie beendet werden. Die Bevölkerung Amerikas war über den Krieg tief gespalten, das Land kriegsmüde – und zunehmend spürte selbst die größte Volkswirtschaft der Welt die ökonomische Last des Krieges. Praktisch am amerikanischen Außenministerium vorbei führte Kissinger auf amerikanischer Seite im Auftrag seines Präsidenten die Friedensverhandlungen in Paris zum Erfolg. Am Ende stand ein wackliger Friede. Er bekam, wie sein nordvietnamesischer Verhandlungspartner, dafür den Friedensnobelpreis zugesprochen. Doch es war ein wackliger Frieden zulasten Südvietnams, der es aber Amerika erlaubte, sich einigermaßen gesichtswahrend zurückzuziehen. Und nur darum ging es Nixon wie auch Kissinger
Kurz darauf erfolgte Kissingers Meisterstreich. Was später unter dem Begriff „Ping-Pong-Diplomatie“ in die Geschichtsbücher einging, veränderte die Tektonik der Großmächte grundlegend. In zwei geheimen Reisen reiste Kissinger in das maoistische bis dahin weitgehend abgeschottete China. Kissinger war nicht entgangen, dass sich im kommunistischen Block Risse auftaten, China nicht mehr felsenfest an der Seite der UdSSR stand. Mit dem darauffolgenden Besuch Nixons in Peking war der kommunistische Block geschwächt. Kissinger war fortan in der Lage, ähnlich wie Bismarck, auf der Weltbühne mit mehreren Bällen zugleich zu jonglieren. Gleichzeitig erlaubte ihm die Verschiebung der Tektonik den Druck auf die Sowjetunion zu erhöhen und diese zu Konzessionen bei den Verhandlungen zur Rüstungsbegrenzung zu bewegen. Ein Jahr später vermittelte er den Waffenstillstand im nahöstlichen Jom-Kippur-Krieg 1973, was eine wesentliche Vorstufe zur Einleitung des Friedensprozesses war.
Im selben Jahr hingegen – das sollte nicht verschwiegen werden – hatte Kissinger, der inzwischen Außenminister geworden ist, den gewaltsamen Putsch in Chile mit in die Wege geleitet. Kissinger war immer ein Pragmatiker der Macht, der, wenn nötig, auch wenig zimperlich die Interessen der USA verfolgte.
In den Jahren des Übergangs diente er bis zu dessen Abwahl dem Präsidenten Gerald Ford. Alles in allem war es Kissinger in diesen Jahren gelungen, Amerikas politische Vormachtstellung zu erhalten – obwohl das Land durch den Vietnamkrieg sowie durch innenpolitische und ökonomische Krisen erheblich geschwächt war.
In den Jahren nach 1977 verlegte sich Kissinger, der – eine seltene Mischung – immer ein Pragmatiker der Macht wie auch ein Intellektueller war auf das Schreiben. Großartige Werke über gegenwärtige Fragen wie über Geschichte entstanden. Kissinger hatte etwas zu sagen – und von Sprache verstand er auch noch einiges. Er schrieb über China, das Gleichgewicht der Großmächte, über die Lektionen der Staatskunst. Dazwischen seine monumentalen dreibändigen Erinnerungen als aktiver Außenpolitiker. In all seinen Werken kam eine durch profunde historische Kenntnis gewonnene Einsicht zum Tragen, dass lautstarkes und auftrumpfendes Moralisieren weder der Verfolgung der eigenen Interessen dient noch den Ausgleich schafft, ohne den ein Zusammenleben der Völker auf Dauer nicht möglich ist. Ganz nebenbei hatte die im wahrsten Sinne des Wortes Jahrhundertfigur Henry Kissinger ein Standardwerk über die Geschichte und das Wesen der Außenpolitik geschrieben - „Die Vernunft der Nationen“. All jenen hierzulande, die aus irgendwelchen Gründen meinen, sich auf dem Feld der Außenpolitik tummeln zu müssen, sei es zur Lektüre dringend empfohlen.