Politik

Die Rückkehr zum Verhalten der Urvölker

Lesezeit: 8 min
21.10.2023 08:55  Aktualisiert: 21.10.2023 08:55
Hoch entwickelte Kulturvölker, zu denen sich allgemein die aktuellen Zeitgenossen zählen, blicken mit Verachtung auf die primitiven Völker, die Dämonen beschwören und aus aufgeklärter Sicht mit unsinnigen Ritualen zornige Götte besänftigen wollen. Derzeit kann man vier Geister ausmachen, die eine Rückkehr des atavistischen Verhaltens auslösen, wobei die Themen sich nicht wesentlich von den Urängsten unterscheiden.
Die Rückkehr zum Verhalten der Urvölker
Behandeln Politiker den Klimawandel wie eine strafende Gottheit, die durch strenge Vorschriften und Strafen besänftigt werden muss? (Foto: dpa)

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Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass dieses ursprüngliche Verhalten der Götterbesänftigung auch in fortschrittlichen Gesellschaften aktiv ist. Präziser gesagt müsste es heißen „immer noch aktiv“ ist, weil die Annahme nahe liegt, dass das einmal gelernte Verhalten über Jahrtausende hinweg vererbt wird und immer wieder auftritt.

Für Gefahren, Schäden, Katastrophen wurden böse Geister verantwortlich gemacht, die man zu zornigen Götter hochstilisierte, die in eigenen Tempeln durch spezialisierte Priester besänftigt werden sollten. Da es sich um unterschiedliche Gefahren handelte, entwickeltem die Priester spezielle Rituale für das jeweilige Unheil, für das sie und ihre Gottheit zuständig waren. So mussten die besorgten Laien bestimmte Laute ausstoßen und vorgeschriebene Tänze aufführen, um Blitze, Hagel, Starkregen und andere Naturkatastrophen abzuwenden. Zum Schutz vor Überfällen durch benachbarte, feindliche Volksstämme waren andere Choreographien zuständig.

Eine große Rolle spielten naturgemäß die Vermeidung und die Heilung von Krankheiten. Eine üppige Ernte und reiches Jagdglück sollten ebenfalls durch Beschwörungen und Anrufungen der Götter gesichert werden. Nicht nur Schutz und Hilfe wurde von höheren Mächten erbeten, auch Weisheit, so wie auch heute noch Angehörige von Südseevölkern Rat bei der Göttin Goo'g suchen, die vielleicht nicht zufällig fast genau so heißt wie die erfolgreichste Internet-Suchmaschine Google.

Wenn allerdings die beschränkte Wirkung dieser Rituale nicht mehr zu übersehen ist, wird nach härteren Maßnahmen gerufen, die die offenbar immer noch ungnädigen Götter freundlich stimmen mögen. Die in diesem Zusammenhang auftretende Logik ergibt eine Art Geschäft: Man muss sich selbst so schädigen, so verletzen, dass die bösen Geister keinen Anlass für ihre Untaten mehr haben. Man nimmt also Unheil als höhere Notwendigkeit und besorgt selbst die Erledigung in der Hoffnung, dass man von weiterem Unbill verschont bleibt. Diese Überlegungen führen unweigerlich zum Opferkult, der eine weite Bandbreite eröffnet, die von der Verbrennung eines Teils der Ernte über die Selbstkasteiung bis zur rituellen Schlachtung von Tieren und darüber hinaus zur Opferung von Menschen reicht.

Vier Bereiche werden von atavistischen Verhaltensweisen bestimmt

Derzeit kann man vier Dämonen ausmachen, die eine Rückkehr des atavistischen Verhaltens auslösen, wobei die Themen sich nicht wesentlich von den Urängsten unterscheiden.

  • Das Thema Nummer 1 ist der Wohlstand, der durch das Gespenst Inflation bedroht ist,
  • Das Thema Nummer 2 bilden die Fähigkeiten, mit denen man den Alltag bewältigt. Das Rad ist schon erfunden, aber jetzt geht es um helfende Zauberkräfte, die die Digitalisierung verspricht.
  • Das Thema Nummer 3 sind, wie eh und je, die Naturgefahren, die mit dem Schlagwort Klimawandel einen Gespensternamen bekommen haben.
  • Das Thema Nummer 4 ist die Suche nach der richtigen Nahrung, nach essbaren Waren.

Das Orakel aus der Europäischen Zentralbank in Frankfurt

Die Bekämpfung des Gespensts Inflation präsentiert sich wie eine Kopie der von Urvölkern verwendeten Methoden. Um einem Geist mit entsprechender Überzeugung begegnen zu können, muss man den Geist durch einen Gott überhöhen und diesem auch einen würdigen Tempel bauen. Beide Vorgaben wurden durch die Errichtung der Europäischen Zentralbank erfüllt, die als ein mächtiges und überirdisches Wesen erlebt wird.

Der Tempel steht, weithin sichtbar, in Frankfurt, wo auch Christine Lagarde als Hohepriesterin und gleichsam als Päpstin der Priester des Anti-Inflationsordens herrscht. Auch hier gilt, ähnlich wie in Rom, Lagarde locuta causa finita. Die Botschaften aus Frankfurt gleichen einem Orakel im Griechenland oder im Ägypten der Antike, das man nicht verstehen musste, aber zu befolgen hatte. Das Frankfurter Orakel hat nun bewirkt, dass Kredite 6 Prozent Zinsen im Jahr kosten. Dass diese nicht bezahlbar sind, weil sie nicht verdient werden, lässt sich leicht erkennen.

Mit dem geborgten Geld hätte man also 6 Prozent zu erwirtschaften, dafür müsste es aber eine Steigerung der Produktion oder der Dienstleistungen geben. Diese Voraussetzung ist nicht erfüllbar, da die Wirtschaft derzeit schrumpft. Eine andere Möglichkeit, die hohen Zinsen zu rechtfertigen, wäre ein spektakulärer Produktivitätsgewinn, dass also in einer Stunde Arbeit oder mit einem eingesetzten Euro viel mehr als bisher erwirtschaftet wird. Das ist aber auch nicht der Fall, also ist die Weisheit des Orakels nur den Frankfurter Priestern offenbar und ihren Epigonen in den Banken, die kräftig zu Lasten aller an den hohen Zinsen verdienen. Somit bewirkt die Bekämpfung der Inflation mit hohen Zinsen eine noch höhere Inflation.

Die Digitalisierung verheißt vorschnell das Paradies auf Erden

Für eine Steigerung der Produktivität, die die hohen Zinsen erträglich machen könnte, ist eine andere Gottheit und eine andere Priesterschaft zuständig. Gleichsam von selbst hat sich die Digitalisierung zu einer Heil bringenden Gottheit entwickelt.

Beinahe ausnahmslos alle Führungskräfte in den verschiedensten Bereichen, in der Politik, in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und auch in anderen Sparten predigen die Notwendigkeit einer umfassenden Digitalisierung, die die Menschheit in neue, wunderbare Dimensionen führen werde. Besonders skurril erscheint diese Verheißung, da sie mit der vermeintlichen Frohbotschaft verbunden ist, dass Menschen für die Erfüllung vieler Aufgaben nicht mehr gebraucht werden, da diese von Computern übernommen werden, die außerdem eigenständig denken und miteinander kommunizieren, also auch keine Programmierer mehr benötigen.

Grundsätzlich entspricht diese Utopie dem uralten Traum der Menschen, selbst nichts tun zu müssen, aber über eine unendliche Dienerschaft zu verfügen, die für alles sorgt. Um angesichts dieser Erwartung eines Schlaraffenlandes Skepsis anzumelden, bedarf es nicht der Kassandrarufe der Pessimisten, die vor der Übernahme der Macht durch die Maschinen warnen. Es genügt ein Blick auf die Realität der bisher schon erfolgten Digitalisierung.

Der Kontakt von Außenstehenden mit einer digitalisierten Institution erweist sich für Kunden, Interessenten, Bürger, Hilfsbedürftige als ein Hürdenlauf durch die krausem nicht selbsterklärenden Logikschritte des jeweiligen Programmierers, bis man entweder aufgibt oder von einem hilfreichen, nicht digitalen Mitarbeiter aus Fleisch und Blut gerettet wird. In den Institutionen und Unternehmungen sollten die Abläufe digital klaglos funktionieren, sodass der täglich aus tausenden Kehlen ertönende Leidensschrei „der Computer, das System spinnt schon wieder“ nicht erklingen dürfte.

Der Schrei ist die Folge der Überschätzung der Digitalisierung. Die Akteure lassen sich von der Zukunftsmusik berauschen, die vom Internet der Dinge künden, sehen die Bereiche, die tatsächlich einfach und klaglos funktionieren wie E-Mail-Dienste, soziale Medien oder Suchmaschinen, und realisieren nicht, dass die Übertragung komplizierter Abläufe, die von vielen Faktoren abhängen, nur schwer mit einem Programm abzubilden ist. Auch ist in den meisten Fällen die Einbindung der Mitarbeiter erforderlich, die die Lücken des digitalen Systems überbrücken müssen.

Bis zur Erreichung des paradiesischen Zustands, in dem die Menschen sich dem Müßiggang und dem Vergnügen widmen können, ist es noch weit. Aber auf dem Weg dorthin dürften wir schon sein, die Vorläufer waren die Mähdrescher, die die Arbeit auf dem Feld reduziert haben, die Waschmaschinen und die Geschirrspüler sowie die bisherigen, noch bescheidenen Erfolge der Digitalisierung von der elektronischen Buchhaltung bis zur Videokonferenz. Derzeit scheitert die Digitalisierung wie alle Ideologien und Religionen, die für die Zukunft das Paradies auf Erden verheißen haben und kapitulieren mussten.

Hat sich ein Unternehmen oder eine Institution entschlossen, dem Ruf nach Digitalisierung zu folgen, so liegt die Beschäftigung eines der tausenden IT-Unternehmen nahe. Frohgemut analysieren die neuen Anhänger der IT ihre Abläufe, schreiben präzise auf, wie die verschiedenen Abteilungen arbeiten, welche Aufgaben sie betreuen und wie sie mit den anderen Abteilungen kommunizieren.

Man erwartet, dass die Programmierer des gerade engagierten IT-Unternehmens die geschilderten Faktoren getreulich abbilden werden, damit künftig die Firma oder die Institution von selbst funktioniert. Prompt machen sich die IT-Experten ans Werk, doch bald stellt sich heraus, dass es sich nicht um völlig frei und eigenständig schaffende Experten handelt, um die Programme funktionstüchtig zu machen, bedarf es unweigerlich bestimmter Elemente, die in den meisten Fällen vom IT-Giganten Microsoft zugekauft werden müssen und die zudem zur Folge haben, dass man auch künftig von Microsoft abhängig sein wird. Man fühlt sich an eine totalitär regierte Diktatur erinnert, die den Bürgern einen begrenzten Freiraum gestattet, in dem sie sich bewegen dürfen, solange sie nicht die Autorität von Microsoft in Frage stellen.

Bis zur Erreichung der geschilderten Freiheit, in der zahllose elektronische Helfer den Menschen dienen, müssen noch viele Programme geschrieben, noch viele Computer mit beträchtlichen Kapazitäten entwickelt und Stolpersteine von Microsoft überwunden werden. Vor allem müssen IT-Unternehmen entstehen, die tatsächlich aus eigener Kraft IT-Systeme entwickeln, die die Ansprüche der Kunden vollständig erfüllen.

Die Digitalisierung ist vergleichbar mit einer Ideologie, die das Paradies auf Erden verspricht. Man ist an die Wunderwelt erinnert, die die frühen Kommunisten schaffen wollten. Dass der Kommunismus zu einer der schrecklichsten Diktaturen mutierte, erklärt sich aus dem Umstand, dass Wunder schwer zu produzieren sind und die Wunderwelt der Kommunisten nur möglich gewesen wäre, wenn sich die Menschen geändert hätten. Nachdem niemand dazu bereit ist, musste man eine Zwangsherrschaft installieren.

Der Katechismus der Klimawandel-Religion heißt „Green Deal“

Die nähere Betrachtung der Digitalisierung hat Erinnerungen an die kommunistische Diktatur wachgerufen, doch auch ein anderes, großes Gespenst, das aktuell die Menschheit peinigt, weist ähnliche Züge auf.

Allgemein hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass ein dramatischer und die Menschheit gefährdender Klimawandel stattfindet und korrigierende Maßnahmen notwendig sind. Der Klimawandel wurde zur strafenden Gottheit hochstilisiert, die man besänftigen müsse. Auch mit dieser Aufgabe wurden entsprechende Institutionen betraut. In erster Linie ist die EU-Kommission mit der Bekämpfung des Klimawandels beschäftigt. Der Tempel der Gottheit Klimawandel steht somit in Brüssel und als Hohepriesterin agiert die Präsidentin Ursula von der Leyen, die auch unter der Bezeichnung „Green Deal“ einen Katechismus des Klimawandels formuliert hat und ständig weiterentwickelt.

Das Werk ist ein Kompendium von Verhaltensregeln, die vorgeben, wie sich die Menschen ändern müssen, damit auf der Erde ein angenehmes, lebensfreundliches Klima herrscht. Da auch dieser Versuch, den Menschen zu ändern, wie üblich nicht auf begeisterte Zustimmung stößt, produziert die EU-Kommission eine Vielzahl von Vorschriften, deren Einhaltung mit drastischen Strafen erzwungen wird. Und wieder ist man an das Schicksal des Kommunismus erinnert.

Die Apostel des Klimawandels waren allerdings viel geschickter als die kommunistischen Diktatoren. Es wurde und wird eine einfache Formel geboten: Wer den CO2-Ausstoß reduziert, leistet einen positiven Beitrag. Und so fühlt sich jede oder jeder bei der Benützung eines Fahrrads als Retter der Menschheit. Die Montage eines Photovoltaik-Panels auf dem Dach bekommt eine globale Dimension und die beträchtlichen Kosten eines Elektro-Autos verwandeln sich in eine willig dargebrachte Opfergabe an die Gottheit Klimawandel.

Alle Elemente der kultischen Handlungen, die primitiven Völkern die Beruhigung verschafften, dass sie nun gegen das Böse ausreichend gefeit seien, finden sich wieder. Und wie vor Jahrtausenden ekstatische Tänze und Schreie keine Blitze und Überschwemmungen verhindert haben, werden auch die aktuellen symbolischen Handlungen nicht ihr Ziel erreichen. Man wird im übertragenen Sinn Blitzableiter und Hochwasserdämme auch gegen den Klimawandel brauchen, die aber offenbar noch nicht entwickelt wurden.

Die Zeitgenossen werden aktuell von vier großen Dämonen geplagt. Von den hohen Zinsen, die die Inflation bekämpfen sollen, aber die Preise zusätzlich in die Höhe treiben, von der aufwändigen Digitalisierung, die eine paradiesische Zukunft verheißt, aber für Mühsal sorgt, von den Opfern gegen den Klimawandel und vom vierten Dämon, der Änderung der Ernährung.

Wie in Urzeiten: Was ist essbar, was muss man meiden?

Man kann sich nicht mehr unbekümmert zum Frühstück setzen. Schon trifft einen der Vorwurf, dass man gerade dabei ist, mit dem Eigelb das schlechte Cholesterin LDL zu konsumieren. Auch wird man daran erinnert, dass Eier die Lieblingsspeise der Viren sind. Doch mit dieser Attacke auf die eigene Gesundheit ist es nicht getan. Jetzt beginnt der Tag, der mit einer nicht enden wollenden Reihe von Ängsten gepflastert ist.

Nimmt man auch ja nicht zu viel Fleisch zu sich? Alle Sorten sind problematisch, doch das Schwein ist besonders zu meiden, weil es nur nach Stunden verdaut ist. Man muss nicht auf Fleisch zur Gänze verzichten, sagt die innere, von vielen Ernährungsweisen geschulte Stimme, doch muss mehr Gemüse her. Wo ist der wundersame Broccoli? Ist dafür gesorgt, dass Blumenkohl und Artischocke ihre legendären Wirkungen entfalten können? Und kommt heute noch ein Hering oder ein Lachs auf den Tisch? Der Kopf brummt. Die vielen Weisheiten der Ernährungsweisen sind kaum zu bewältigen, auch kann man nie sicher sein, dass die Empfehlungen auch tatsächlich stimmen.

Diese Ungewissheit hat Folgen. Viele zimmern sich aus den vielen Diäten eine eigene Überzeugung zurecht, die mit einem heiligen Eifer verteidigt wird. Leicht kommt es da zu lautstarken Auseinandersetzungen mit Andersgläubigen, die die eigene Wahrheit anzweifeln und eine andere Wahrheit vertreten. Und so entstehen auch in diesem Bereich Religionskriege, die in der Familie und im Freundeskreis ausgetragen werden. Wie auch immer die Gespenster heißen mögen, man landet sehr rasch im atavistischen Verhalten.

Das aufgeklärte Zeitalter und die wissensbasierte Gesellschaft werden immer noch vom Kleinhirn gesteuert, das vor Jahrmillionen entstanden ist. Das Großhirn ist auch deutlich weniger dicht und kompakt als das Kleinhirn. Aber eines Tages wird auch das Großhirn festgefügt und seiner selbst sicher sein. In Jahrmillionen.

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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