Am 24. August 2015 benötigten ETF-Anleger starke Nerven. ETF-Anteile verloren an diesem Tag an der New Yorker Börse kurzzeitig mehr Wert als die Indizes, die sie abbildeten. Etwa kam es zu ETF-Kursstürzen von bis zu 50 Prozent, wie das Fachmedium etf.com berichtete.
Der S&P 500 war hingegen bloß um 4 Prozent eingebrochen. Es handelte sich um einen sogenannten Flash-Crash. „Man spricht von einem Flash-Crash bei ETFs, wenn es zu einem plötzlichen und drastischen Rückgang der ETF-Preise kommt, gefolgt von einem schnellen Anstieg – dies kann in einer kurzen Zeitspanne, zum Teil Minuten geschehen“, erklärt die Finanzprofessorin Stefanie Hehn von der Hochschule Ludwigshafen gegenüber DWN.
Die Ursachen könnten vielfältig sein, etwa Liquiditätsprobleme, unerwartete ad-hoc Nachrichten oder der algorithmische Handel. Dann könnten die Börsenpreise der ETF-Anteile erheblich von ihrem inneren Wert abweichen, erklärt die Kapitalmarktexpertin. „Die schnelle Abfolge von Handelsaktivitäten und die Volatilität können zu extremen Preisbewegungen führen, dies jedoch in der Regel nur temporär.“
Keine Gefahr für langfristige Anleger
Hehn sieht zwar ein gewisses Risiko für Privatanleger, aber gibt dennoch Entwarnung. Langfristige Buy-and-Hold-Anleger seien nicht tangiert, „da der Markt- und der Preisfeststellungsmechanismus nach der Marktverwerfung innerhalb kürzester Zeit wieder die Überreaktionen und Preisabschläge verschwinden lässt.“ Wer also die Kursturbulenzen aussitzt und ETF-Anteile nicht verkauft, muss keine Verluste fürchten.
Gefährdet sind vor allem ETFs, deren Vermögenswerte weniger liquide sind als die ETF-Anteile selbst, etwa ein ETF auf hochverzinste Unternehmensanleihen. Solche Wertpapiere können in einem Crash nicht oder kaum mehr gehandelt werden, während der ETF weiter gehandelt wird.
Das kann zu Unsicherheit darüber führen, wie viel ein ETF-Anteil zu einem bestimmten Zeitpunkt wert ist. Wenn die Vermögenswerte des ETF gänzlich oder zumindest zeitweise illiquide würden, „kann es zu erheblichen Abweichungen zwischen dem ETF-Preis und dem Nettoinventarwert (NAV) kommen“, erklärt Stefanie Hehn. Der NAV meint den Gesamtwert des Fondsvermögens (einschließlich Schulden) und wird in der Regel einmal täglich vom ETF-Anbieter veröffentlicht.
Ursache für die Diskrepanz zwischen dem Börsenkurs und dem NAV sind die Zwischenhändler. ETF-Anteile werden von spezialisierten Zwischenhändlern an die Börse gebracht, die auch Ankaufspreise für die Anteile stellen. Das unterscheidet ETFs von normalen Fonds, bei denen Anleger die Anteile nur einmal täglich zu einem festen Preis an die Fondsgesellschaft zurückgeben können.
Ein Anleger kauft dabei einen ETF-Anteil von einem Broker, der diesen von einem sogenannten Market-Maker bezieht. Der Market-Maker kauft die Anteile wiederum bei einem Authorized Participant (AP). „Market Maker sind Händler, die kontinuierlich Kauf- und Verkaufsangebote für ETF-Anteile bereitstellen“, erklärt Stefanie Hehn. Die APs sind spezielle Zwischenhändler, die vom ETF-Anbieter autorisiert sind, mit diesem zu handeln. Bei den APs handelt es sich häufig um große Finanzinstitute oder spezialisierte Market-Maker.
ETF kauft Wertpapiere in der Regel nicht selbst
Der AP bekommt die ETF-Anteile vom ETF-Anbieter im Tausch gegen Wertpapierkörbe (auch Creation Units genannt). Diese Wertpapierkörbe enthalten die Vermögenswerte, die der ETF verwaltet. Bei einem ETF auf den MSCI World könnten etwa Aktien von Apple oder Microsoft enthalten sein. Der ETF-Anbieter kauft die Wertpapiere aus dem Index also nicht selbst, sondern erhält diese vom AP.
Das hat den Vorteil, dass dem ETF in der Regel keine Verluste in einem Flashcrash entstehen können. Normalerweise tragen Market-Maker und der AP das Hauptpreisrisiko, erklärt Stefanie Hehn. Fällt der ETF-Kurs in einer Marktkrise und viele Anleger geben Anteile zurück, müssen die Zwischenhändler Anteile an den ETF-Anbieter zurückreichen. Dabei können den Zwischenhändlern Verluste entstehen, wenn die Kurse von ETF-Anteilen zwischen dem Ankauf und dem Verkauf weiter fallen sollten.
Die Zwischenhändler kaufen daher in Zeiten erhöhter Volatilität ETF-Anteile zu besonders geringen Preisen auf. Sie verlangen also besonders hohe Risikoabschläge. „Dadurch fällt der gestellte Börsenkurs ceteris paribus stärker als der zugrunde liegende Index“, erklärt Stefanie Hehn.
Der ETF-Anbieter kann das Preisrisiko weitgehend auf die Zwischenhändler abwälzen, weil er die Wertpapiere nicht selbst zu Geld machen muss, sondern bloß Wertpapierkörbe für ETF-Anteile ausgibt. Der Tausch von Wertpapierkörben ist laut der Bundesbank die Regel, wie es im Monatsbericht vom Oktober 2018 heißt. AP und der ETF-Anbieter würden bloß „in selteneren Fällen“ Barmittel gegen ETF-Anteile tauschen.
Außerdem würden sich viele ETF-Anbieter vorbehalten, im Stressfall von der Barzahlung auf den Wertpapiertausch umzustellen. Manche Anbieter würden sogar den APs vorschreiben, wie viele Anteile insgesamt und pro AP täglich zurückgegeben werden dürften. „Dies ermöglicht dem Anbieter einen längeren Zeitraum für den Verkauf von Wertpapieren“, schreibt die Bundesbank.
ETF-Handel könnte im Extremfall stoppen
Laut der Bundesbank könnte in einem Extremfall der Handel mit ETF-Anteilen ganz zum Erliegen kommen. Häufig würden weniger als fünf APs den Handel gleichzeitig besorgen. „Bei Nischenprodukten sind sogar noch weniger aktive APs vorhanden.“ Die Zahl hänge unter anderem vom Referenzindex ab: Bei komplexeren und illiquideren Indizes könnten bloß wenige APs die nötige Expertise über den Markt besitzen.
Würden alle APs den Handel einstellen, könnten Anleger Anteile aber an den ETF-Anbieter direkt zurückgeben. Dieser Prozess sei durch eine Richtlinie der Europäischen Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde ESMA geregelt. Der ETF würde also zu einem normalen, nicht an der Börse gehandelten Investmentfonds umfunktioniert. Anleger würden vom ETF-Anbieter ausbezahlt.
Die Bundesbank sieht vor allem ETFs auf illiquide Vermögenswerte als riskanter an, etwa ETFs mit Unternehmensanleihen oder Schwellenländer-Papieren. Gleichwohl traf es im Flash-Crash 2015 sogar ETFs, die sehr liquide Wertpapiere enthielten. Etwa verlor ein ETF auf den gleichgewichteten S&P 500 zwischenzeitlich 42 Prozent, aber erholte sich innerhalb kurzer Zeit wieder, wie das Fachmedium etf.com berichtet.
Branchenexperten sahen gegenüber der Süddeutschen Zeitung den Fehler nicht bei den ETFs, sondern in Handelsbeschränkungen der New Yorker Börse an jenem Tag. In den ersten Handelsminuten sei ein großer Teil der Aktien vom Handel ausgenommen gewesen, weil es zuvor in Asien zu Kursturbulenzen gekommen sei.
Das habe es den Market-Makern erschwert, Anteilspreise für die ETFs zu berechnen. „Für die Market-Maker war es eine Herausforderung, Preise zu stellen, da viele Wertpapiere, die sich in den ETF-Aktienkörben befanden, von der US-Börse vom Handel ausgesetzt wurden“, erklärte Marino Valensise vom Fondshaus Barings.
Viele Market-Maker hätten sich daraufhin vom Handel zurückgezogen oder die Ankaufspreise für ETF-Anteile gesenkt. „ETF sind nicht das Problem. Sie haben nur die Probleme an der US-Börse sichtbar gemacht“, erklärte Eric Wiegand von der Deutschen Bank. „An europäischen Börsen wie Xetra in Frankfurt oder der Stuttgarter Börse konnten wir diese extremen Preisverwerfungen bisher nicht erkennen. Daraus lässt sich durchaus schließen, dass der Handel in Europa technisch besser organisiert ist.“
Stefanie Hehn rät daher zu Vorsichtsmaßnahmen. „Grundsätzlich sollten Anleger, und auch ETF-Anleger, stets auf eine sorgfältige Überwachung der Märkte, die Verwendung von Limit-Orders anstelle von Market-Orders und die Diversifizierung des Portfolios achten, um das Risiko zu streuen”, erklärt sie. Zudem helfe eine langfristige, ausgewogene Strategie. Anleger sollten also in ETFs investieren, die breit streuen und liquide Wertpapiere enthalten, etwa auf Indizes wie den MSCI World oder den FTSE All-World.