Beim Besuch von Shark Island wird Paul Hendrick Samuel (39) emotional. Auf der Halbinsel am Stadtrand von Lüderitz im Süden Namibias stand einst das erste deutsche Konzentrationslager. Während des Völkermords (1904 – 1908) unter deutscher Kolonialherrschaft wurden hier Schätzungen zufolge bis zu 4.000 Menschen der Volksgruppen Nama und Ovaherero brutal ermordet. Auch Samuel vermutet, dass seine Vorfahren hier begraben liegen.
Sorge um die Zerstörung der Genozid-Gedenkstätte
Nun befürchten die Nachfahren der Opfer des Genozids, dass die KZ-Gedenkstätte unwiderruflich beschädigt wird. Namibias Hafenbehörde Namport plant den Ausbau des Hafens, der direkt an Shark Island grenzt, um mehr Kapazität für Exporte von grünem Wasserstoff, Gas und Öl zu schaffen. Zu den Plänen gehört eine 700 Meter lange Landzunge, die im Osten an Shark Island angrenzt. Auf der Westseite der Halbinsel soll ein Tiefseehafen entstehen, dessen Wendekreis nur etwa einen Kilometer vor Shark Island endet.
Für die Nama und Ovaherero sind diese Pläne eine schwere Belastung. "Warum gerade hier?", fragt Sima Luipert, die Sprecherin des Verbands der Traditionellen Vorsteher der Nama (NTLA). Die Gedenkstätte, die trotz des Widerstands der Nachfahren derzeit als Campingplatz genutzt wird, dürfe nicht weiter beschädigt werden, fordert Luipert.
Menschliche Überreste im Hafenbecken vermutet
Das internationale Forschungskollektiv Forensic Architecture hat zusammen mit forensischen Archäologen der Staffordshire Universität eine digitale Raumanalyse des ehemaligen Konzentrationslagers erstellt und neue Beweise für die Völkermordverbrechen entdeckt. Die vor wenigen Wochen veröffentlichten Ergebnisse legen nahe, dass Überreste der KZ-Opfer nicht nur in unmarkierten Massengräbern auf der Halbinsel, sondern auch auf dem Meeresboden um die Insel liegen könnten.
Der Aus- und Neubau birgt ein „unmittelbares Risiko“, die „Insel als Ort von historischer Bedeutung … irreversibel zu entweihen“, heißt es in dem Bericht. Zudem werde der Hafenlärm die Gedenkstätte dauerhaft beeinträchtigen. „Unsere Recherchen zeigen, dass mindestens eine Begräbnisstätte ehemaliger Insassen von Shark Island mit hoher Wahrscheinlichkeit auf dem Infrastrukturpfad liegt, der letztlich dem grünen Wasserstoff-Projekt dienen wird“, schreiben die Forscher. Sie beziehen sich auf das von der Bundesregierung unterstützte Projekt des Konsortiums Hyphen Hydrogen Energy, an dem das deutsche Energieunternehmen Enertrag beteiligt ist.
Strategisches Projekt zur globalen Wasserstoffproduktion
Die Bucht von Lüderitz soll als Zentrum für die weltweite Produktion von grünem Wasserstoff dienen. Auf einer Fläche von 15.000 Hektar im angrenzenden Tsau-//Khaeb-Nationalpark plant Hyphen, etwa 6.000 Hektar Solaranlagen und 600 Windturbinen für eine große Entsalzungs- und Elektrolyseanlage zu errichten. Nach Produktionsbeginn 2028 soll die Anlage ab 2030 jährlich zwei Millionen Tonnen grünen Wasserstoff produzieren.
Die Bundesregierung hat erklärt, das 10-Milliarden-Dollar-Projekt als „strategisches Auslandsprojekt“ einzustufen und hofft, große Mengen in Form von Ammoniak im Rahmen einer „Klima- und Energiekooperation“ mit Namibia zu importieren. Wirtschaftsminister Robert Habeck traf 2022 in Windhuk konkrete Vereinbarungen dazu.
Grüner Wasserstoff ist entscheidend für Deutschlands klimafreundlichen Umbau der Wirtschaft. Er soll die Grundlage für klimaneutrale Verfahren in der Stahl- und Chemieindustrie sowie im Schiffs- und Schwerlastverkehr bilden. Der Bedarf ist enorm. Laut einer Ende Juli vorgelegten Strategie erwartet die Bundesregierung 2030 einen Bedarf an Wasserstoff und Derivaten von 95 bis 130 Terawattstunden. Ein Großteil muss mittel- und langfristig durch Importe aus dem Ausland gedeckt werden.
Unternehmen sieht keine Gefährdung der KZ-Gedenkstätte
Die Bedenken hinsichtlich Shark Island sind dem Wirtschaftsministerium bekannt. „Der Standort wurde ausschließlich von der namibischen Regierung ausgewählt, da er im internationalen Vergleich hervorragende Wind- und Sonnenbedingungen bietet“, erklärt eine Sprecherin des Ministeriums. Vor einer endgültigen Genehmigung des Projekts müssen die Ergebnisse einer Standortanalyse auf Umwelt- und Sozialverträglichkeit abgewartet werden, die derzeit durchgeführt wird. Abgesehen von Shark Island könnte der Schutz des Tsau-//Khaeb-Nationalparks, der als einer der wichtigsten Orte für Biodiversität gilt, ein weiterer kritischer Punkt sein. „Solange diese Untersuchungen nicht abgeschlossen sind, kann keine endgültige Aussage getroffen werden“, so die Sprecherin.
Hyphen-Chef Marco Raffinetti betont, er sehe keine negativen Auswirkungen auf Shark Island aufgrund des erhöhten Schiffsverkehrs durch den Neubau des Tiefseehafens. Einen alternativen Standort sehe er aus zahlreichen technischen Gründen nicht.
Wirtschafts-Staatssekretär Michael Kellner und Entwicklungs-Staatssekretär Jochen Flasbarth nehmen diese Woche an einem globalen Gipfel für grünen Wasserstoff in Afrika vom 3. bis 5. September in Windhuk teil. Anschließend plant Flasbarth, nach Lüderitz zu reisen und zum Gedenken an die Opfer auf Shark Island einen Kranz niederzulegen. Dabei soll auch ein Austausch mit der Zivilbevölkerung stattfinden.
Erinnerungskultur versus wirtschaftliches Wachstum
Der Sonderbeauftragte für grünen Wasserstoff im Präsidialamt, James Mnyupe, betont: Für die namibische Regierung hat die wirtschaftliche Entwicklung des Landes Vorrang. Namibia ist mehr als doppelt so groß wie Deutschland, hat jedoch nur drei Millionen Einwohner und kämpft mit einer Arbeitslosenquote von rund 20 Prozent.
Das Wasserstoffprojekt, das Namibia ein jährliches Einkommenspotenzial von zwei Millionen Euro bieten würde, bezeichnet Mnyupe als „bahnbrechend“. Zudem verspricht Hyphen in der Bauphase bis zu 15.000 Arbeitsplätze und nach Inbetriebnahme 3.000 dauerhafte Stellen. Zu den Bedenken der Nachfahren der KZ-Opfer sagt Mnyupe: „Wir müssen abwägen, was wichtiger ist.“
Die Nachfahren der Opfer sehen das anders. „Wirtschaftswachstum ist wichtig, aber nicht wichtiger als unser Kulturerbe“, sagt Luipert und fügt hinzu: „Man würde ja auch kein Großprojekt in Auschwitz umsetzen.“