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Auswandern in die Schweiz: Die Sehnsucht nach dem besseren Deutschland

Immer mehr Deutsche denken daran, das Land zu verlassen – besonders oft AfD-Wähler. Das bevorzugte Ziel: die Schweiz. Was offenbart dieser Trend über das Selbstbild der Ausreisewilligen?
19.05.2025 07:41
Lesezeit: 2 min
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Auswandern in die Schweiz: Die Sehnsucht nach dem besseren Deutschland
Ein Jugendlicher schwenkt eine Schweiz-Fahne (Foto: dpa). Foto: Samuel Golay

Abschied von der Heimat: Warum viele Deutsche Richtung Schweiz blicken

Auswandern. Alles zurücklassen, dem Vorgesetzten "Lass mich in Ruhe" sagen und irgendwo neu beginnen – ein verbreiteter Wunsch. Laut einer YouGov-Erhebung im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur kann sich über die Hälfte der Deutschen grundsätzlich vorstellen, ins Ausland zu gehen. Dabei geht es nicht bloß um Flucht vor dem grauen Winter – also vor dem Wetterelend der Heimat. Vielmehr scheint ein tiefsitzendes Unbehagen gegenüber dem eigenen Land mitzuschwingen.

Auf die Frage "Angenommen, Sie wären beruflich, privat und finanziell völlig unabhängig: Können Sie sich grundsätzlich vorstellen, Deutschland zu verlassen und ins Ausland zu gehen?" sagten 31 Prozent "auf jeden Fall", 27 Prozent "wahrscheinlich". 22 Prozent entschieden sich für "wahrscheinlich nicht", 15 Prozent für "auf keinen Fall". Unter AfD-Wählern ist die Quote besonders hoch: 55 Prozent wollen "auf jeden Fall", 24 Prozent "wahrscheinlich" auswandern.

Schweiz besonders häufig genannt

Der unterschwellige Frust scheint zuzunehmen: Von denjenigen, die grundsätzlich oder vielleicht ans Auswandern denken, haben 36 Prozent in letzter Zeit häufiger über einen Abschied aus Deutschland nachgedacht. Diese 36 Prozent nennen zu 61 Prozent die Migrationslage als Beweggrund. 41 Prozent sehen die wirtschaftliche Flaute als Grund, 29 Prozent die erstarkende AfD. Eine russische Bedrohung wird von 22 Prozent genannt, 12 Prozent befürchten durch Trumps Rückkehr einen Rückzug der USA als Schutzmacht Europas.

Als neue Heimat werden besonders die Schweiz und Österreich genannt (30 und 23 Prozent), danach Spanien und Kanada (22 und 17 Prozent). "Diese Staaten stehen seit den 90ern an der Spitze der Auswanderungsziele – ebenso wie die USA und Australien", erklärt Simone Blaschka, Migrationshistorikerin und Direktorin des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven. Bei der Schweiz und Österreich wirke auch die gemeinsame Sprache sowie politische Nähe.

Rückblick auf vertraute Zustände

Vor allem AfD- und FDP-Wähler zieht es in die Schweiz. Der deutsche Soziologe Oliver Nachtwey lebt dort, er unterrichtet an der Universität Basel. Er stellt fest: "Die Schweiz ist zwar vergleichsweise konservativ, aber nicht konservativer als Deutschland. Und sie hat anteilig deutlich mehr Migranten. Über 40 Prozent der Bevölkerung haben Migrationshintergrund, etwa jeder Vierte ist Ausländer." Wer also wegen Migration aus Deutschland wegwolle, finde hier kaum ein homogeneres Umfeld. "Was Migration betrifft, ist die Schweiz viel vielfältiger."

Professor Nachtwey vermutet daher, dass die Ausreisewilligen in der Schweiz eher etwas anderes suchen: eine Art Deutschland der 80er oder 90er Jahre – eine Zeit, in der laut Rückschau die Dinge noch funktionierten und die öffentliche Ordnung intakt war. Bei Infrastrukturfragen sei die Schweiz Deutschland tatsächlich überlegen: "Hier fragt man, ob der Zug drei oder vier Minuten zu spät ist – nicht, ob er überhaupt kommt. Brücken werden hier nicht jahrelang gesperrt wie in Nordrhein-Westfalen. Deshalb denke ich, dass die Flucht auch mit der Sehnsucht nach einer verlorenen Ordnung zu tun hat."

Individuelle Konsequenz aus kollektiver Enttäuschung

Eine Verbesserung durch Investitionen in Infrastruktur oder eine stärkere Wirtschaft erwarten viele vom eigenen Staat offenbar nicht mehr. "Die persönliche Antwort auf dieses als kollektives Scheitern empfundene Problem ist dann der individuelle Rückzug", meint Nachtwey.

Blaschka betont, dass wirtschaftliche Schieflagen – wie die derzeitige Rezession – historisch gesehen stets der häufigste Grund zur Auswanderung waren. Damit eine Bewegung entstehe, müsse es jedoch über mehrere Jahre deutlich bergab gehen – erst dann reagierten Menschen mit Ausreise. "Man sieht erst eine Weile tatenlos zu, wie sich der Niedergang fortsetzt – etwa bei der Autoindustrie – und entscheidet irgendwann: Für mich ist das nicht mehr machbar, ich sehe hier keine Perspektive mehr."

Unmut über politische Entwicklungen war historisch seltener ein Antrieb. "In den 20er Jahren allerdings sind auch konservative Militärs nach Südamerika ausgewandert, weil sie die demokratische Richtung Deutschlands ablehnten", sagt Blaschka. Ex-Außenminister Joschka Fischer (77) kann sich übrigens nicht vorstellen, Deutschland jemals zu verlassen – selbst im Fall einer Regierungsbeteiligung der AfD. "Ich bin in diesem Land zuhause, ich bin hier eingeboren", sagt der Grünen-Politiker der Deutschen Presse-Agentur. Er bleibe.

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