Politik

Europa vor dem Zerfall? Ex-Premier Letta warnt vor fatalem Fehler der EU

Europa droht, zum Museum zu verkommen – oder zum Spielball von Trump und China. Italiens Ex-Premier Letta rechnet ab und warnt vor dem wirtschaftlichen Absturz.
02.07.2025 05:58
Lesezeit: 5 min
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Europa vor dem Zerfall? Ex-Premier Letta warnt vor fatalem Fehler der EU
Ex-Premier Letta schlägt Alarm: Europa verspielt seine Zukunft. (Foto: dpa/AFP | Eric Piermont) Foto: Eric Piermont

Die EU steuert auf eine gefährliche Zerreißprobe zu

Er sagt es selbst: Er könnte einfach nur die Erfolgsgeschichte erzählen. Die Geschichte, dass Europa – mit ihm selbst in zentraler Rolle – endlich seine wirtschaftlichen Probleme erkannt hat und die politische Führung zum Handeln bereit ist. Doch genau das ist nicht die einzige Geschichte, die Enrico Letta, Italiens Ex-Premierminister und seit Jahren Berater der EU-Staats- und Regierungschefs, erzählt. Stattdessen spricht das italienische Schwergewicht im Interview mit der Wirtschaftszeitung Børsen offen über eine tiefe Sorge – ein Schreckensszenario für das Europa, das sein politisches Herzblut ist.

Er warnt davor, dass der äußere Druck auf Europa – sei es durch den Ukraine-Krieg, die Notwendigkeit massiver Aufrüstung, den Zollstreit mit den USA oder Spannungen innerhalb der NATO – die wirtschaftlichen Reformen verdrängen könnte. Dabei sei genau diese wirtschaftliche Stärkung der EU „die Grundvoraussetzung für Europas Zukunft“.

„Ich mache mir große Sorgen, dass die EU und die politische Führung Europas gezwungen werden, so viel Zeit mit den weltweiten Unruhen zu verbringen, dass es unsere gesamte Energie aufsaugt“, sagt er: „Normalerweise kann Europa immer nur eine Krise gleichzeitig bewältigen. Das darf diesmal nicht passieren – das wäre ein fataler Fehler mit enormen Folgen.“ Der Handelskrieg mit den USA und die Aufrüstung seien laut Letta Paradebeispiele für diese Sorge. „Natürlich sind das extrem wichtige Themen, und die EU muss sich darum kümmern. Aber es sind Krisen, die enorm viel Aufmerksamkeit fordern – es ist ein reines Defensivspiel, bei dem wir unglaublich viel Energie aufwenden, nur um den Status quo zu verteidigen“, sagt Letta: „Europa darf nicht defensiv bleiben. Wir müssen offensiv agieren, wettbewerbsfähiger werden, wieder gewinnen. Darauf müssen wir uns konzentrieren – auch in diesen verrückten Zeiten.“

Europa darf kein Museum werden

Über Jahrzehnte hat Europa an Boden verloren – bei Produktivität, neuer Technologie, der Entstehung von globalen Spitzenunternehmen. Trotzdem war die Debatte um Europas Wettbewerbsfähigkeit lange kein Thema für die Titelseiten. Zwei Berichte haben das geändert: Am bekanntesten ist die Analyse von Ex-EZB-Chef Mario Draghi, der im Herbst die wirtschaftlichen Herausforderungen des Kontinents in drastischen Worten beschrieben hat. Auch der Bericht von Enrico Letta, den er im April an die 27 EU-Staats- und Regierungschefs übergab, beeinflusst die europäische Debatte und das politische Programm der Kommission maßgeblich.

Für den 58-jährigen Letta – heute Dekan der wirtschaftsnahen IE University in Madrid und Präsident des Jacques Delors Institute in Paris – steht enorm viel auf dem Spiel. Bleiben die Reformen aus, werde das „unsere Sozialsysteme zerstören, die das Herzstück des europäischen Gesellschaftsmodells sind“. „Unsere Wohlfahrtsstaaten funktionieren nur bei ordentlichem Wirtschaftswachstum – sonst bröckeln sie, weil sich immer mehr Staaten das nicht mehr leisten können“, warnt Letta: „Kommt es so, führt das zu sozialer Unruhe, politischer Instabilität – und wir werden, wie in Italien, Frankreich oder Ostdeutschland, eine neue Welle des Hasses erleben.“

Hass gegen wen – oder was?

„Hass gegen Globalisierung, Moderne, gegen die EU als Institution. Die nationalistischen Kräfte sehen wir bereits, und sie werden noch stärker, wenn Europa wirtschaftlich weiter zurückfällt. Dann ist nicht sicher, dass Großbritannien das letzte Land bleibt, das die Union verlässt.“ Harte Worte? „Ja – aber genau darum geht es. Ich fürchte, Europa wird auseinandergerissen, wenn wir jetzt nicht handeln“, sagt Letta: „Europa darf kein Mix aus Museum und Disneyland werden. Das wäre völlig inakzeptabel.“

Als Enrico Letta – im Interview mit der Wirtschaftszeitung „Børsen“ in Kopenhagen zur sogenannten „dänischen Draghi-Analyse“ – Europas Lage beschreibt, sagt er: „Es gibt zwei Arten europäischer Länder“, so Letta: „Die, die klein sind – und die, die nicht wissen, dass sie klein sind.“ Das sei zentral für das Selbstverständnis Europas. „Wir alle sind klein verglichen mit den Giganten USA und China. Nur gemeinsam können wir auf deren Niveau kommen“, so Letta: „Die Mitgliedsstaaten müssen begreifen, dass Streit innerhalb der EU nur Trump, Wall Street und China nützt.“ Das stärkste Werkzeug liege längst vor – der EU-Binnenmarkt für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen. Doch dieser sei „auf die Ökonomie des 20. Jahrhunderts zugeschnitten“. Jetzt müsse man das Instrument erweitern – mit Respekt für die Nationalstaaten –, um Europa bei Investitionen, Energie, Forschung, Innovation und Verteidigung zu einen. Besonders Bildung und Forschung liegen Letta am Herzen. „Stellen Sie sich vor, wir haben keinen gesamteuropäischen Studienabschluss – dabei würde das Studierenden und Forschern mehr Mobilität bringen, Unternehmen das Recruiting erleichtern und Hochschulen die Zusammenarbeit“, sagt Letta: „Das ist verrückt, wenn wir von Wissen und Innovation leben wollen.“

Auch beim Zugang zu Kapital sieht Letta Defizite. Die EU plant deshalb eine „Spar- und Investitionsunion“, um mehr risikofreudiges Kapital bereitzustellen. „Unsere Märkte sind kaum fähig, Risiko zu tragen. Ohne bessere Verknüpfung von Forschung und Kapital kann Europa nicht gewinnen“, warnt er. Zudem müsse sich die EU-Gesetzgebung ändern. Heute gibt es Richtlinien, die national interpretiert werden, und Verordnungen, die unmittelbar gelten. „Wenn wir Erfolg wollen, müssen wir aufhören, Richtlinien zu erlassen, die nationale Spielräume lassen. Nur so schaffen wir einheitliche Regeln auf den wichtigsten Feldern“, so Letta. Er sieht für die dänische EU-Ratspräsidentschaft eine „historische Chance“: „Das ist die wichtigste Präsidentschaft in Dänemarks über 50 Jahren EU-Mitgliedschaft. Ich kann gar nicht genug betonen, wie groß eure Verantwortung ist“, sagt Letta: „Dänemark ist angesehen, innovativ, versteht den Binnenmarkt – ihr seid klein, das macht euch glaubwürdig. Nutzt diese Chance als Gamechanger.“ Auch Dänemarks traditionell skeptische Haltung zur EU sei nun von Vorteil: „Ihr wart immer distanziert. Jetzt spürt eure Regierung, was die EU wert ist – nicht zuletzt wegen Trump und Grönland. Ihr seid die richtigen Anführer zur richtigen Zeit.“ Soll Dänemark jetzt auch den Euro einführen? „Es wäre falsch, wenn ich das kommentiere. Das entscheidet allein euer Volk“, sagt Letta.

Trumps Druckmittel

Trotz Lettas Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit räumt er ein: Über Europa schweben schwere Fragen – nicht zuletzt wegen Donald Trump. Die NATO-Staaten beschlossen vergangene Woche, 3,5 Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung und weitere 1,5 Prozent für Sicherheit auszugeben. Spanien kritisierte die Ziele scharf. Letta hält die Kritik für berechtigt – sie gelte auch für Italien und Frankreich. „Ich kenne Italien, Frankreich und Spanien sehr genau. Sie können diese NATO-Ziele unmöglich erfüllen. Das ist völlig unrealistisch“, sagt er: „Unsere Volkswirtschaften sind massiv unter Druck. Wenn wir die NATO-Pläne umsetzen, wäre das ökonomisch zerstörerisch.“ Das heißt, es wird nicht passieren? „Nein, das ist komplett unrealistisch.“ Trump wird das als Vorwand nutzen, die NATO zu verlassen? „Ehrlich gesagt, diese Erpressung von Trump ist unerträglich. Wir haben uns schon viel zu viel gefallen lassen. Er benimmt sich wie ein Rüpel, der glaubt, er kontrolliert die Welt“, sagt Letta: „Er will uns nur zwingen, Unmengen Geld für US-Waffen auszugeben. Das wäre dumm. Wir müssen eine eigene Verteidigungsindustrie aufbauen. Erst dann sollten wir massiv investieren.“ Auch auf Trumps Drohungen mit Strafzöllen müsse die EU hart reagieren. „Wir müssen kontern, auch wenn es uns selbst schadet.“ Bringt das nicht allen Schaden? „Natürlich ist das ein Dilemma. Aber Passivität schwächt uns nur. Trump muss wissen, dass es einen Preis hat – Europa bleibt eine entscheidende Wirtschaftsmacht“, sagt Letta: „Aber das ist nicht das Wichtigste. Das ist reine negative Energie. Europas Zukunft entscheidet sich an den notwendigen Wirtschafts- und Binnenmarktreformen.“ Bremsen rechte Parteien diese Reformen? „Das Risiko ist real. Deshalb mache ich konkrete Vorschläge – für Investitionen und Wachstum“, sagt Letta: „Wir dürfen nicht mit der EU-Flagge wedeln und sie über die nationalen Symbole stellen. Entscheidend ist, Wohlstand für Bürger und Unternehmen zu schaffen – darauf können sich hoffentlich alle einigen.“

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