Politökonom Mark Blyth befürchtet strukturelle Inflation
Vergessen Sie die Zeit der stabilen Preise: Die niedrige Inflation vor der Pandemie war ein historischer Ausnahmezustand. Der neue Normalzustand heißt strukturelle Teuerung – und sie wird nicht durch Geldpolitik gebändigt. Zu diesem Schluss kommt der Politökonom Mark Blyth von der Brown University in New York.
Er argumentiert, dass nicht übermäßige Geldmengen oder staatliche Ausgaben, sondern anhaltende Angebotsschocks für den Preisdruck verantwortlich sind. Diese entstehen durch eine Mischung aus geopolitischen Umbrüchen, Klimakrisen und einer Rückabwicklung der Globalisierung. Gemeinsam mit dem Ökonomen Nicolò Fraccaroli arbeitet Blyth derzeit am Buch „Inflation: Ein Leitfaden für Nutzer und Verlierer“.
Neue Ära der Angebotsschocks
Die Inflation der 1970er-Jahre wird laut Blyth oft falsch verstanden. Damals wie heute seien es mehrere überlagerte Angebotsschocks gewesen – etwa Ölkrisen, der Vietnamkrieg und verändertes Konsumverhalten durch den Eintritt neuer gesellschaftlicher Gruppen in den Arbeitsmarkt –, die den Preisanstieg antrieben. Auch die jüngsten Preiswellen während der Pandemie seien nicht durch Geldtransfers ausgelöst worden. Vielmehr habe der Zusammenbruch globaler Lieferketten den Auslöser geliefert. Die Inflation sei in nahezu allen Ländern gestiegen – unabhängig von der Fiskalpolitik. Das zeige, dass klassische geldmengenbasierte Erklärungen nicht mehr greifen.
Laut Blyth war das „Inflationswunder“ zwischen 1987 und 2007 historisch einmalig. Möglich wurde es durch stabile Energiepreise, billige Importe aus China und ein massives globales Arbeitskräfteangebot. Doch diese Ära sei vorbei: Handelskonflikte, Reindustrialisierung und geopolitische Fragmentierung erzeugten heute anhaltenden Aufwärtsdruck auf die Preise. Trumps US-Zölle bezeichnet Blyth als „politisch konstruierten Angebotsschock“. Die Welt müsse sich auf dauerhaft höhere Preisniveaus einstellen.
Strukturelle Inflation? Deutschland unter Druck
Für Deutschland hat dieser Wandel tiefgreifende Folgen. Die exportabhängige Volkswirtschaft profitiert traditionell von globalen Lieferketten und stabilem Welthandel. Strukturveränderungen wie Deglobalisierung, geopolitische Spannungen und protektionistische Maßnahmen setzen die deutsche Industrie unter Druck – besonders in den Bereichen Maschinenbau, Chemie und Automobil. Gleichzeitig belastet die Inflation besonders einkommensschwache Haushalte. Die Gefahr einer dauerhaften Spaltung zwischen Inflationsgewinnern und -verlierern nimmt zu.
Mehr als nur Geldpolitik
Besonders kritisch sieht Blyth die Rolle der Zentralbanken. Höhere Zinsen hätten zuletzt kaum Wirkung gezeigt, die Inflation sei vor allem durch die Stabilisierung der Energieversorgung zurückgegangen – ein Erfolg der Angebotspolitik, nicht der Geldpolitik. Zugleich belaste eine restriktive Zinspolitik die unteren Einkommensgruppen überproportional. Reiche Haushalte würden durch höhere Sparzinsen sogar profitieren. „Inflation ist ein Verteilungskampf“, sagt Blyth.
Er plädiert für neue politische Instrumente: staatlich organisierte Vorräte, stärkere Lieferketten, gezielte Preiskontrollen und direkte Entlastungen statt Zinswaffen. Als Beispiel nennt er Spanien, wo kostenlose Nahverkehrstickets eingeführt wurden. Auch die automatische Inflationsanpassung der Löhne in Belgien oder temporäre Preisdeckel in Frankreich und Schottland seien Belege für kreative Lösungsansätze – wenn auch mit unterschiedlichen Erfolgen. Blyth warnt vor dogmatischen Ansätzen. Preiskontrollen funktionierten in vielen Bereichen längst – etwa in der Pharma- und Finanzwirtschaft. Entscheidend sei, die Instrumente intelligent und differenziert einzusetzen. „Die Welt hat sich verändert – jetzt muss sich auch die Wirtschaftspolitik verändern“, so sein Fazit.