Premierminister Recep Tayyip Erdoğan übt scharfe Kritik an den Staatsanwälten, die Ermittlungen gegen das Konsortium zum Bau des neuen Flughafens in Istanbul aufgenommen haben. In einer Rede vor Anhängern seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) zeigt er sich überzeugt von einer angeblichen verschwörerischen Parteinahme der Ermittler und deutet ihr Engagement als Ausdruck von mangelnden Verantwortungsbewusstsein für die Türkei.
„Jene Ingenieure, die den Bau des Flughafens vorantreiben, bekamen ein gerichtliches Mahnverfahren“, beklagte der Premier vor seinen Anhängern. „Warum? Weil sie (gemeint sind die ermittelnden Staatsanwälte, Anm. d. Red.) nicht wollen, dass sie den Flughafen fertig bauen! Ich frage diese böswilligen Staatsanwälte: Wo ist eure Vaterlandsliebe geblieben?“
Den Anlass zu Erdoğans Philippika gegen die Vertreter der Rechtsprechung bildet der zweite Teil der Ermittlungen im Korruptionsskandal: Im ersten Teil richteten sich die Ermittlungen gegen Mitglieder von Erdoğans Kabinett. Der zweite Teil stellt eine Ausweitung des Skandals auf Teile der staatsnahen Wirtschaft dar, insbesondere der mit öffentlichen Aufträgen bedachten Bauwirtschaft.
Der Bau des Flughafens ist jedoch nur ein Beispiel unter mehreren. Ebenfalls im Fokus der Ermittlungen steht der Bau einer Hochgeschwindigkeits-Trasse durch Limak-Colin-Cengiz.
Die Verantwortung für den Bau des Flughafens liegt bei einem Konsortium bestehend aus den Firmen Cengiz Insaat, Kolin, Limak, Mapa und Kalyon. Dieses Konsortium gewann den 22 Milliarden Euro schweren Auftrag für den Flughafen. Die entscheidende Frage ist nun, ob sich das Konsortium mithilfe der Beeinflussung der türkischen Regierung einen Wettbewerbsvorteil verschafft hat. Dieser bestünde in einem deutlich über dem Marktpreis liegenden Kostenvoranschlag.
Exakt an dieser Stelle setzt die Verteidigung der beteiligten Firmen an. Cengiz-Chef Mehmet Cengiz bezeichnet die Vorwürfe der Vorteilsnahme als substanzlos, da die Bauprojekte unterhalb der Marktpreise ausgehandelt worden seien. Außerdem weisen die Vorstände von Cengiz, Limak und Kolin darauf hin, dass sie bisher keine offizielle Anklage-Schrift erhalten hätten.
Die ermittelnden Staatsanwälte hingegen belegen ihren Verdacht mit einer Abschrift eines Telefongespräches zwischen dem Multi-Milliardär und beteiligten Investor Ahmet Ağaoğlu. Dieser bezeichnete Erdoğan nach derzeitigen Stand der Ermittlungen als den „Oberboss“. Ağaoğlu selbst wollte sich nach Angaben der Financial Times nicht zu den Vorfällen äußern. Ağaoğlu gehörte zu den im ersten Teil des Skandals festgenommenen Geschäftsmännern, wurde dann aber freigelassen.
Analysten sehen die Wurzel des Korruptionsproblems in einer Art verdeckten Zentralismus der Auftragsvergabe. Die türkische Regierung hat verfügt, dass jeder öffentliche Bauauftrag in der Türkei von einer Baubehörde mit Namen Toki zu prüfen ist. Diese untersteht direkt dem Premierminister. Somit ist Erdoğan Herr aller staatlichen Bauvorhaben.
„Das ganze System läuft so: Wenn die gemeinde Istanbul meint, dass hier nicht gebaut werden kann, dann überstimmt Ankara sie einfach! Aus Sicht eines Bauherrn ergibt es also viel mehr Sinn, sich direkt an die zentrale Autorität zu wenden“, so Refet Gurkaynak, Volkswirt der Bilkent Universität in Ankara. Die Strategie der Regierung liege darin, statt einer tiefgreifenden Strukturreform zur Stabilisierung der türkischen Volkswirtschaft die Zahl der öffentlichen Aufträge drastisch zu erhöhen.
Tatsächlich hat Erdoğan nach Angaben der türkischen Statistik-Behörde Turkstat die Vergabe öffentlicher Bauaufträge in den letzten fünf Jahren massiv ausgeweitet. Dies führte zu einem Anstieg von 51 Prozent der Arbeitsplätze in der Bauwirtschaft.
Hinzu kommt die angeblich mangelnde Transparenz der Baubehörde Toki. „Toki ist eine Black Box“, so Aykut Erdogdu, Parlamentsmitglied der größten Oppositionsfraktion CHP. In einem von ihm verfassten Bericht beklagt er die Intransparenz zwischen Toki und deren Vertragspartnern.
Sollte sich der Verdacht der Staatsanwälte bestätigen und der Auftrag unter rechtswidrigen Bedingungen zustande gekommen sein, dann gliche die Struktur der derzeitigen Situation einem Teufelskreis. Denn der türkische Premier verwendet just die vermeintlichen Erfolge seiner Konjunkturpolitik als Argument gegen die Anschuldigungen von Korruption. Damit besteht für die türkische Regierung der Anreiz, noch mehr kostspielige und intransparente Projekte zu finanzieren, deren eventuell flüchtiger Erfolg von Investoren befürchtet wird.
Mit Blick auf das zehn Jahre andauernde stabile Wirtschaftswachstum, das wesentlich von der Expansion der Bauwirtschaft getrieben wird, sagt Erdoğan in seiner Rede: „Meine Brüder, könnte eine korrupte Regierung so etwas leisten?“