Einladungen in den eigenen Wahlkreis gelten in Deutschland als besondere Vertrauensbeweise deutscher Kanzler. Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel also den französischen Präsidenten Francois Hollande auf Rügen empfängt, dann gilt dies als Zeichen neuer Nähe. Das Treffen mit Bootstour, Kreidefelsen, Abendessen und Stadtrundgang in Stralsund soll die anfänglichen Dissonanzen nach der Wahl des Sozialisten 2012 endgültig vergessen machen. Um in alten Bildern für das deutsch-französische Verhältnis zu bleiben: Der Motor stottert nicht mehr, er brummt leise und regelmäßig.
„Tatsächlich lässt sich eine neue Phase der deutsch-französischen Zusammenarbeit beschreiben“, meint Claire Demesmay, Frankreich-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Ohnehin hatte die Bildung der großen Koalition in Berlin Ende 2013 die Spannungen zwischen der sozialistischen Regierung in Paris und der konservativen Regierungschefin in Berlin erheblich abgebaut. Deshalb konnte auf einem als „privat“ eingestuften Besuch in aller Ruhe die ganze Themenpalette durchdiskutiert werden - von der Ukraine-Krise, über weitere EU-Integrationsschritte nach der Europawahl bis hin zu wirtschaftlichen Kooperationen beider Länder. Nach Angaben eines Hollande-Beraters wollen die beiden auch verabreden, wie sie nach dem 25. Mai das komplizierte Verfahren zur Besetzung einer ganzen Reihe europäischer Top-Positionen wie des neuen Kommissions- oder EU-Ratspräsidenten angehen wollen.
Viele Politiker betonen die reibungslose Abstimmung in der Ukraine-Krise - die im Gegensatz zu dem offenen deutsch-französischen Streit etwa bei Libyen und auch Syrien steht. „In der Außenpolitik zeigt das Beispiel Ukraine, dass es heute eine viel größere Übereinstimmung in der Analyse der Bedrohungen gibt“, meint Demesmay. Anders als bei Libyen und Syrien habe nun Deutschland eine Führungsrolle in einem außenpolitischen Thema inne. Das helfe. In Paris wird auch die - wenn auch nicht große - deutsche Hilfe für die französischen Einsätze in Mali und Zentralafrika betont.
„Das deutsch-französische Vorgehen in der Außen-, Europa- und Sicherheitspolitik ist in der Tat von einer völlig neuen Qualität“, sagt deshalb auch Europaminister Michael Roth (SPD) zu Reuters. Dies liege auch daran, dass die Chemie zwischen den Akteuren stimme, etwa zwischen den Außenministern Laurent Fabius und Frank-Walter Steinmeier. Dass beide das Weimarer Dreieck mit Polen intensiv pflegten, habe gerade im Fall Ukraine zur Einheit der 28 EU-Mitgliedstaaten beigetragen.
„Zweitens hat sich Hollande in der Wirtschaftspolitik klar auf Deutschland zubewegt“, meint Demesmay. „Dazu hat sein sozialdemokratisches ,Coming-Out’ Anfang des Jahres beigetragen und auch die Regierungsumbildung.“ In Berlin enthält man sich jeder offenen Kritik etwa an dem nach wie vor hohen Haushaltsdefizit in dem angeschlagenen Nachbarland. An den lobenden Worten ändert sich nicht einmal etwas im Europa-Wahlkampf, obwohl Union und SPD hier auch gegeneinander antreten. „Frankreich ist für Deutschland zu wichtig, als dass es zum kleinkarierten Wahlkampfstreit zwischen Union und SPD taugte“, meint Europaminister Roth.
Allerdings bleiben einige Differenzen. Französische Vorstöße, die Euro-Zone müsse aktiv für einen schwächeren Euro-Kurs sorgen, wurden in Deutschland wie früher reflexartig und mit dem Hinweis auf die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank (EZB) abgeschmettert (mehr hier). Bei den weiteren Integrationsschritten in der EU setzt Hollande stärker als Merkel auf ein Voranpreschen der Eurozone, will auch ein eigenes Eurozonen-Budget. Merkel bevorzugt EU-Vertragsänderungen und würde gerne wesentlich mehr Nicht-Euro-Staaten bei einer vertieften Zusammenarbeit mitnehmen.
Die von der französischen Regierung wegen einer möglichen Fusion der Konzerne Siemens und Alstom wiederbelebten Debatte über „Europäische Champions“ sieht man in Berlin ebenfalls zurückhaltend. „Hollande dürfte sich nur erneut eine blutige Nase bei dem Versuch holen, in die Wirtschaft reinzuregieren“, heißt es in Regierungskreisen in Berlin.
DGAP-Expertin Demesmay sieht die Debatte um Alstom ohnehin viel nüchterner: „Siemens hilft der französischen Regierung vor allem, ein besseres Angebot der Amerikaner zu bekommen. Paris wollte einfach ein zweites Angebot“, sagte sie (hier). Industriepolitisch wolle die Regierung Hollande gar keine Fusion von Großbetrieben, sondern eher eine verstärkte Zusammenarbeit in der Forschung.
Aber all das störe den Eindruck der Harmonie auf Rügen und in Stralsund nicht. „Deutschland und Frankreich sind sich viel näher als Polen, Großbritannien oder die USA - die Nähe erscheint umso größer, je größer die Differenzen mit den anderen Partner sind“, meint Demesmay.