Der Präsident der österreichischen Wirtschaftskammer, Christoph Leitl, hat am späten Mittwochabend im ORF klare Worte gefunden, was er von den EU-Sanktionen hält - nämlich nichts. Leitl, der in Österreich mit Sicherheit nicht als skrupelloser Geschäftsmann gesehen wird, sondern eher als besonnener Interessensvertreter, verwies in einem für den ruhigen Mann außerordentlich engagierten Gespräch auf die langfristigen Folgen der Sanktionen gegen Russland: Sie schaden den Bürgern in Europa, weil das Vertrauen zu Russland zerstört werde. Dies könne man auch kurzfristig nicht wieder herstellen.
Am Ende des Interviews wagt Leitl sogar einen Tabubruch: Er spricht offen an, dass Angela Merkel die deutsche und damit die EU-Außenpolitik mit den Amerikanern abstimmt. Das ist im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise sehr ungewöhnlich: Bis jetzt haben alle offiziellen Repräsentanten stets versucht, die Sanktionen als Maßnahme zur Erhaltung von grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien zu begründen. Aus dem Interview wird jedoch klar, dass es sich um Interessenspolitik handelt. Leitl ist ein wichtiger Vertreter des österreichischen Establishments, sein Wort hat Gewicht: Die Wirtschaftskammer ist Teil der österreichischen Sozialpartnerschaft und steht traditionell unter dem Einfluss der konservativen ÖVP, die ironischerweise aktuell auch den Außenminister stellt.
Es ist bezeichnend für den Zustand der europäischen Außenpolitik: Die Erinnerung daran, dass sich Außenpolitik eines Landes ausschließlich an den Interessen der Bürger zu orientieren habe, kommt nicht vom deutschen oder österreichischen Außenminister, sondern von einem führender Vertreter der Wirtschaft. Die EU hat trotz der Bedenken am Freitag verschärfte Sanktionen gegen Russland beschlossen.
Das Gespräch zwischen ORF-Moderator Armin Wolf und dem Präsidenten der Wirtschaftskammer Österreich (WKO) im Wortlaut (mit leichten sprachlichen Glättungen, Video am Anfang des Artikels).
Armin Wolf: Und Präsident Leitl ist jetzt bei mir im Studio. Guten Abend. Vielen Dank fürs Kommen.
Christoph Leitl: Schönen, guten Abend, Herr Wolf.
Armin Wolf: Herr Präsident Leitl, würden Sie Wladimir Putin heute nochmal so freundschaftlich empfangen wie da vor drei Monaten? (siehe Video am Ende des Artikels mit einem sehr geistreichen Putin)
Christoph Leitl: Ich habe ihm auch damals die Ernsthaftigkeit vor Augen geführt, dass Wirtschaft auf Vertrauen basiert. Auch die Relation von Ländern baut auf Vertrauen auf und nicht auf Misstrauen. Und ich begrüße dieses Vorgehen von Putin in keiner Weise und habe das auch damals schon zum Ausdruck gebracht.
Armin Wolf: Aber den Eindruck hatte man damals gar nicht. Der ehemalige tschechische Außenminister Schwarzenberg fühlt sich von Putins Vorgehen in der Ukraine an 1938/39 erinnert. In der Wirtschaftskammer hat er stehenden Applaus bekommen. War das nicht im Rückblick ziemlich peinlich damals?
Christoph Leitl: Na schauen Sie, der stehende Applaus ist dadurch entstanden, dass die russischen Offiziellen in der ersten Reihe aufgestanden sind und applaudiert haben und die Restlichen aus Höflichkeit gefolgt sind. Das würde ich nicht überbewerten. Aber wenn Karel Schwarzenberg an 1938 erinnert, erinnere ich an 1914. Hundert Jahre blicken wir zurück. Jeder greift sich auf den Kopf und sagt: Wie hat nur diese unheilvolle Eigendynamik solche Auswirkungen haben können? Warum hat es hier keine vernünftigen Stimmen gegeben, die gesagt haben, suchen wir nach einer Lösung, bevor das große Schlachten beginnt?
Armin Wolf: Gut, jetzt gibt es da viele Menschen, die sagen, suchen wir nach einer Lösung. Unter anderem auch Sie. Jetzt haben Sie die Sanktionen gegen Russland heute wörtlich „unsinnig“ genannt...Das heißt ja, die Regierungschefs der EU beschließen da seit Monaten unsinnige Maßnahmen.
Christoph Leitl: Schauen Sie: Ich war gerade in der Schweiz, habe gestern mit dem Schweizer Wirtschaftsminister gesprochen, der sehr skeptisch zu den Sanktionen steht. Und heute der Schweizer Bundespräsident, als Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der offen bezweifelt hat, ob es sinnvoll ist, in dieser fragilen Situation noch mit wirtschaftlichen Sanktionen zu kommen. Also mehr kann man sich wirklich nicht unterstützt fühlen.
Armin Wolf: Gut, das war jetzt ein bisschen anders. Der OECD-Vorsitzende hat heute gesagt, er bezweifelt, dass es sinnvoll ist, jetzt die Sanktionen zu verschärfen. Man soll einmal abwarten, wie das jetzt weitergeht in, in der Ukraine. Sie sagen...
Christoph Leitl: Er hat gesagt: Setzen wir auf eine diplomatische Lösung. Und ich bin auch der Meinung, es ist das eine politische Krise, die mit politischen Mitteln gelöst werden muss und nicht, indem man die Wirtschaft, die ja die Menschen zu verbinden soll, ihnen nützen, ihnen zu dienen, dem Frieden einen Beitrag zu liefern hat, gegenseitig einsetzt als Kampfinstrument.
Armin Wolf: Mit welchen politischen Mitteln würden Sie denn die Krise lösen?
Christoph Leitl: Indem man sich zusammensetzt.
Armin Wolf: Mit wem?
Christoph Leitl: Die Beteiligten. Die Beteiligten sollen sich zusammensetzen. Putin hat sieben Punkte vorgeschlagen. Die Europäische Union hat ihre Vorstellungen. Nur einmal in Minsk zusammenkommen ist zu wenig. Man muss sich ständig zusammensetzen, muss sagen: Was wollen wir wirtschaftlich - große Freihandelszone - was wollen wir im Land selbst, mit Autonomie für die Minderheit. Es ist ein europäische Wert, dass man auch Minderheiten schützt, ihnen Autonomie, vielleicht sogar Autarkie gibt. Und schließlich eine sicherheitspolitische Lösung, die keine Bedrohung Russlands ist, sprich Nato-Beitritt.
Armin Wolf: Also kein Nato-Beitritt?
Christoph Leitl: Kein Nato-Beitritt.
Armin Wolf: Jetzt sagen aber die Rebellen in der Ostukraine, das haben sie heute wieder bekräftigt, sei wollen eine Abspaltung von der Ostukraine.
Christoph Leitl: Am Beginn von Gesprächen vertritt jeder seinen Standpunkt. Am Schluss stehen vernünftige Kompromisse. Dazwischen aber muss das Gespräch sein und das ist unabdingbar. Wo kommt man weiter? Wenn man sich wechselseitig bedroht? Oder wenn man miteinander das Gespräch sucht?
Armin Wolf: Ganz ehrlich, das weiß ich nicht. Es gibt ja ein Beispiel schon vor einem halben Jahr: die Krim. Die gehört jetzt zu Russland. Das erkennt niemand auf der Welt an, außer in ein paar russischen Satelliten. Ist das ein Beispiel dafür, dass es mit Gesprächen mit Putin so gut geht?
Christoph Leitl: Die Gespräche sind ohne Alternative. Was haben Sie für eine Alternative? Wenn wir weiter uns mit Sanktionen und Drohungen hineinsteigern, ich bezweifle, ob das den Herrn Putin irgendwo berührt. Ganz im Gegenteil. Es facht den Nationalismus an, es führt tiefer ins Problem hinein und nicht aus dem Problem heraus.
Armin Wolf: Weiß das Angela Merkel nicht?
Christoph Leitl: Angela Merkel hat zu schauen, dass die 28 (EU-Staaten)– und da gibt es unterschiedliche Meinungen – zu einer Linie finden und hat hinter sich auch noch Länder, die möglicherweise auch Einfluss ausüben...
Armin Wolf: Das verstehe ich nicht ganz...
Christoph Leitl: Naja, blicken Sie über den Teich hinüber, dann wissen Sie es.
Armin Wolf: Also Sie glauben, Angela Merkel agiert im Interesse der USA?
Christoph Leitl: Nein, aber in Abstimmung mit den USA.
Armin Wolf: Und riskiert deswegen einen Krieg in Europa oder einen Wirtschaftskrieg? Oder?
Christoph Leitl: Nein, nein, sie ist sicherlich guten Glaubens, dass man mit dem (Einsatz von Sanktionen) aus dem Problem rauskommt. Ich bezweifle das massiv. Und kann nur wiederholen, (was) die Schweizer (sagen), die wirklich eine kluge, jahrhundertelange Neutralitätspolitik verfolgt haben, sich auf der Welt ein bisschen auskennen. Wenn die sagen, bitte jetzt Vorsicht, jetzt auf Diplomatie, jetzt auf Verhandlungen setzen, dann nehme ich das sehr, sehr ernst. Da kann mir niemand unterstellen, das macht er aus wirtschaftlichem Interesse, sondern das sind die Schweizer, die politische Erfahrung haben.
Armin Wolf: Warum sind Sie eigentlich so sehr gegen Sanktionen? Sozialminister Hundstorfer, mit dem Sie sich ja an sich gut verstehen, hat heute gesagt: Die Auswirkungen sind nicht so dramatisch, wie sie immer dargestellt werden...
Christoph Leitl: Da gebe ich ihm durchaus recht. Ich habe auch nie dramatisiert. Ich habe nur gesagt, wir müssen vorbeugend einige Dinge machen. Neue Märkte suchen, betroffenen Menschen in den Betrieben helfen, Betrieben, die in die Schieflage geraten, helfen. Ich habe nie gesagt, es ist heute dramatisch. Wir werden heuer etwa 500 Millionen Euro Umsatz verlieren. Das macht für die öffentlichen Kassen 200 Millionen weniger Einnahmen aus. Auch nicht dramatisch. Viel Geld, aber nicht dramatisch. Wissen Sie, was wirklich dramatisch ist? Dass jetzt das gute Vertrauen, das aufgebaut worden ist, zwischen Russen und Österreichern, dass dieses Hinausgehen Österreichs, nach dem Motto „Geht hinaus, sucht Eure Märkte“ - das ist ein Riesen-Markt, da werden wir alle miteinander Erfolg haben - (dass das alles) jetzt durch Misstrauen, durch Vergiftung des Klimas und durch Verunsicherung abgelöst wird. Und ich glaube, das lässt sich, selbst wenn morgen die Sanktionen beendet werden, lasst sich das nicht mehr umgehend bewerkstelligen und bereinigen, sondern hat lang andauernde und nachhaltige Wirkung.
Armin Wolf: Aber Herr Leitl, ist dafür nicht Herr Putin verantwortlich? Der hat sich im 21. Jahrhundert einfach einen Teil eines fremden Landes einverleibt.
Christoph Leitl: Das ist unbestritten. Unbestritten ist aber auch, dass Fehler von allen Seiten in der Ukraine selbst auch von der Europäischen Union und von den Amerikanern gemacht worden sind.
Armin Wolf: Und ganz kurz noch, wir müssen das Thema schon abschließen: Welche Fehler hat die Europäische Union gemacht?
Christoph Leitl: Dass sie lange Jahre mit Putin nicht auf Augenhöhe verhandelt hat, sondern versucht hat, Fakten zu schaffen, die ihn in seiner Empfindsamkeit sehr gestört haben.
Armin Wolf: Danke...