Informationen zur „Schuldenbremse“
Die „Schuldenbremse“ ist Bestandteil des sogenannten „Fiskalpaktes“ („Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ – VSKS) zusammen mit dem „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ (SWP), die beide am 31.01.2012 von allen EU-Staaten (außer Großbritannien und Tschechien) beschlossen wurden und am 01.01.2013 in Kraft traten. Im Prinzip geht es darum, absehbar die staatlichen Ausgaben nur noch aus den laufenden Einnahmen zu finanzieren, also von Jahr zu Jahr zu rechnen, mit nur noch ganz geringen „Überziehungsmöglichkeiten“, und die Staatsschuldenquote nach und nach auf 60 Prozent zurückzufahren (aktuell beläuft sich die durchschnittliche Staatsschuldenquote der EU auf 93 Prozent).
Überschreitungen dieser Defizit-Null-Grenze sind stark eingeengt. Ausnahmen wie „Konjunkturprobleme“ wurden auf Drängen der Bundesregierung herausgenommen (damit ist „Keynes“, also eine antizyklische Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch eine langfristige Ausgabenplanung beerdigt – dazu später). Jetzt geht ein Überziehen nur noch „bei außergewöhnlichen Ereignissen, die sich der Kontrolle der betroffenen Vertragspartei entziehen“. Es ist jetzt schon abzusehen, welches heillose Hickhack schon bei der Klärung dieser Sachlagen entsteht. Das Ganze ist ein außerordentlich kompliziertes Regelwerk, ergänzt durch weitere Zusatzgesetze – im Politsprech „Six-Pack“ und „Two-Pack“ genannt.
In Deutschland steht diese „Schuldenbremse“ schon seit 2009 sogar im Grundgesetz, hat bisher nur aufgrund der guten wirtschaftlichen Lage noch zu keiner Verwerfung geführt, aber auch, da die wirklich harten Auflagen richtig erst ab 2016 greifen. Es handelt sich um den umfangreichen Artikel 115 GG (Kreditaufnahmegrenzen), aus dem ich nur zum Verständnis hier die folgenden zwei zentralen Sätze zitiere: „Einnahmen und Ausgaben sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen.“ Und: „Im Falle von Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können diese Kreditobergrenzen auf Grund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden.“
Zusammen mit den vielen Automatismen bei den Sanktionen, wenn diese Regeln verletzt werden, ergibt sich hier eine weitgehende finanz- und steuerpolitische Selbstentmachtung der Parlamente und Regierungen. Kritisch ist weiter, dies hier schon als Vorgriff vorgetragen, dass meines Erachtens unabdingbare Voraussetzungen für ein Funktionieren einer „Schuldenbremse“ bisher unerledigt blieben, dass zum Beispiel die Einnahmeseite völlig außen vor bleibt, dass man zum Beispiel Steuergesetze nicht harmonisierte, Steueroasen in der EU bisher nicht wirksam ausschaltete und Steuerflucht bisher nicht wirklich bekämpft und natürlich auch die exorbitanten Handelsungleichgewichte in der EU noch nicht einmal zielführend problematisiert. Auch der Steuersenkungswettlauf kann munter weiterbetrieben werden. So fehlen schon einmal eine Reihe wirtschafts-, finanz- und steuerpolitische Voraussetzungen, damit eine EU-weite „Schuldenbremse“ überhaupt funktionieren kann.
Das Ganze ist vor allem auf Betreiben Merkels entstanden – u.a. auf der Basis „sanfter“ Erpressung gegenüber den Krisenstaaten („keine Schuldenbremse, kein Rettungsschirm“) – auf der Grundlage ihrer fast völligen, ökonomisch aber höchst umstrittenen Fixierung auf ihren „schwäbischen Schuldenbegriff“ (Schulden sind immer schädlich, bedeuten immer „über die Verhältnisse leben“) und der daraus abgeleiteten Notwendigkeit zu sparen, wenn es im Staatshaushalt einen negativen Saldo gibt, da die Ausgaben höher sind als die Einnahmen. Auf diese verhängnisvoll falsche („schwäbische Hausfrau“) und einseitige Betrachtung (völliges Ausblenden der Saldenbetrachtung, also der Einnahmeseite) komme ich noch zurück, weil sie – zusammen mit dem „Von-Jahr-zu-Jahr-Rechnen“ – die eigentliche staats- und wirtschaftspolitische Gefährlichkeit dieser Art von „Schuldenbremse“ begründet.
Achtung: Dabei bleibt völlig unwidersprochen, dass die in der EU, speziell in der Euro-Zone seit der Finanzkatastrophe 2007/09 rasant angestiegenen Schuldenberge, noch mehr die Gesamtschuldenlage der Weltwirtschaft (u.a. in China und in den „Schwellenländern“), eine Gefahr darstellen, der es zu begegnen gilt!
„Grexit“ als Riss in der Tarnung
Schlaglichtartig hat die aktuelle Griechenland-Entwicklung mit der Drohung eines „Grexit“ die meines Erachtens illusionäre und gefährliche Konstruktion der „Schuldenbremse“ bloßgelegt. So steht jetzt ein zentrales Instrument der Merkel’schen Euro-Politik zur Disposition, denn jetzt wurde das erste Mal auch in den Medien deutlich, mit welchen Summen wir, das heißt die deutschen Steuerzahler, mit im Boot sitzen. Es ist, je nach Rechnungsart, von 65-80 Milliarden Euro die Rede, wenn Griechenland aussteigt, ausgestiegen wird oder gar Pleite geht.
In dieser Summe sind die bisher aufgelaufenen Kosten von Finanz- und Euro-Krise nicht inbegriffen, wie die Rettung deutscher Banken (ca. 25 bis 30 Milliarden real geflossen und noch ca. 60 Milliarden Garantien), Wirtschaftsstützungs-Programme nach 2008/09 bzw. sich immer noch aufsummierende Minderbeträge in den Steuer- und Sozialkassen durch den Wirtschaftseinbruch (80–150 Milliarden Euro je nach Zählart und Zeithorizont), die der deutsche Bürger bzw. Steuerzahler bisher ebenfalls noch nicht richtig realisiert hat. Entgegen jahrelanger Propaganda von der „Euro-Rettung“ als Kredit-Geschäft wurde auf einmal klar: das kann uns richtig wehtun! Was zeigt uns das als Erstes: die fast bodenlose Leichtfertigkeit des „Grexit“-Geredes auch von sogenannten seriösen Politikern, Wissenschaftlern und Medien.
Stellen wir uns nur vor, von den 65 Milliarden bisher als Kredit verbuchter deutscher „Griechenland-Hilfe“ fielen nur 30 Milliarden Euro aus, tauchten also, wenn auch verfahrenstechnisch verzögert, als Schulden in unserem Haushalt auf, die Dank der „Schuldenbremse“ dann ja eingespart werden müssten – das wird ein Heulen und Zähneklappern bei uns geben. Und es ist völlig klar, wo dann bei uns gespart werden wird – Griechenland lässt grüßen! Auch die „Maastricht-Kriterien“ sind wieder in weite Ferne gerückt! Und das gilt ja nicht nur für uns, wenn auch die Medien fast ausschließlich die deutschen Zahlen kolportierten, sondern für alle Euro-Ländern, die mit Geld und Garantien für mindestens 130 Milliarden Euro auch noch in diesem (Griechenland)-Topf stecken.
Stellen wir uns nun also erweitert vor, dass ein solches Problem auch auf Frankreich und Italien zukäme, die auch mit zig Milliarden Euro garantieren. Dass dann die immer wieder auftauchenden aktuellen Aussagen von der „geringen Ansteckungsgefahr“, von der „Gelassenheit der Märkte“, von der „Verkraftbarkeit“ Makulatur sind, dürfte klar sein. Selten habe ich in der Politik und in der ökonomischen Diskussion ein solches Ausmaß an Traumtänzerei erlebt! Auch wenn wir einen Austritt oder Rauswurf oder ein „Rausstolpern“ Griechenlands aus dem Euro für sinnvoll und wünschenswert hielten, die „Schuldenbremse“ macht das unmöglich. Sie macht aber auch einen Schuldenschnitt oder Teilschuldenschnitt, der sicher geboten wäre (da sind sich ausnahmsweise fast alle Ökonomen einig), unglaublich schwierig. Dies ist eines der vielen euro-politischen Dilemmas, in die uns die übereilte und undurchdachte Euro-Sturzgeburt gebracht hat, und die wir mit der Hau-Ruck-Implementation der „Schuldenbremse“ rapide verschärft haben. (Viele andere daraus resultierende Dilemmas beschreibe ich in meinem Buch: „Rettet Europa, nicht nur die Banken“.)
Die ökonomisch und haushaltspolitisch verquere Schuldenbetrachtung und Schuldendiskussion in Deutschland
Der eventuelle „Grexit“ ist ja nur der aktuell offensichtlichste und brisanteste Punkt, bei dem uns die viel bejubelte „Schuldenbremse“ massive Probleme bereitet. Spannender ist langfristig, dass der zentrale Fokus und Glaubensgrundsatz der Konstruktion dieser „Schuldenbremse“ (Staatsschulden sind im Prinzip schlecht und grundsätzlich abzubauen bzw. zu verhindern, und das nur durch Sparen) es uns paradoxerweise unmöglich macht, mit Schulden ökonomisch sinnvoll umzugehen und dennoch das unabdingbar Notwendige zu tun, nämlich – da sind wir uns absolut einig – die gigantische Verschuldung der westlichen Ökonomien (privat, wirtschaftlich und staatlich) zurückzufahren.
Das hat etwas zu tun mit der ökonomisch und moralisch völlig verqueren Schuldendiskussion bei uns, in die uns das Merkel’sche Leitbild der „schwäbischen Hausfrau“ hineingeführt hat, diese schlichte, populistische Verhaltensregel für Privathaushalte, die Merkel und Schäuble aber völlig unzulässigerweise für das gesamte Wirtschaftsleben, einschließlich des staatlichen, verbindlich machen.
Hier nur Stichworte, was bei dieser „eigenartigen“ Betrachtung von Schulden, vor allem von Staatsschulden, neben den eingangs aufgezählten wirtschafts-, finanz- und steuerpolitisch ungelösten Vorbedingungen zusätzlich noch einseitig und verhängnisvoll ausgeblendet wird:
(a) Zu allererst wird völlig ausgeblendet, dass – nach der Aufhebung der Wertbindung des Geldes und der Freigabe der Wechselkurse – seit über dreißig Jahren das Diktat der übermächtigen neoliberalen Politik und Ökonomie alles tat, um die Geldmenge schrankenlos auszuweiten und ihrem ebenso schrankenlosen Agieren die Bremsklötze wegzuziehen. Das führte zur heutigen Übermacht des Finanzsektors und seiner Bewegungsgesetze über die Bewegungsgesetze der klassischen Produktionsökonomie, und zwar weltweit, globalisiert. Und es führte natürlich auch mittels „Elektronik-Banking“ im weitesten Sinne und „Shadow-Banking“ zu einer weitgehenden Entkoppelung der Buchgeldschöpfung der Banken bzw. Schattenbanken von der Geldpolitik der Zentralbanken. Das ist ein Teil der EZB-Problematik in der Währungsunion.
Die so ungebremst wachsende gigantische, nach profitabler Anlage gierende Geldmenge schuf sich (mit Hilfe der Politiker) ihre Anlagemöglichkeiten, in der Regel mit einem Finanzsystem, das wesentlich auf privaten, wirtschaftlichen und staatlichen Schulden aufbaut. Dagegen ist die „schwäbische Hausfrau“ eine geradezu possierliche Figur, aber keine finanzpolitische und ökonomische Handlungsanleitung. Dazu kam als gigantischer „Schuldenpush“ die Finanzkatastrophe 2007/09 und ihre Folgen, u.a. die Rettung des Finanzsystems zu Lasten der Steuerzahler – das vor allem ist Merkels „über die Verhältnisse leben“! Hier, bei der Bändigung der „Bestie Finanzkapital“ (Roubini), müsste sie ansetzen. Da hier ihr Reformeifer, den sie ständig von anderen einfordert, rasch versiegte, versucht man es nun mit Scheinlösungen, zum Beispiel der „Schuldenbremse“. (Dass unsere „wissenschaftlichen Ökonomen“ dieses Finanzmarkt-Karussell in Ursache und Wirkung bis heute kaum realisiert haben und unsere Studenten weiterhin mit teilweise falschem, auf alle Fälle sträflich lückenhaftem Wissen vollstopfen, merke ich hier nur an.)
Parallel zu der Mehrheit der Ökonomen denken und handeln auch die Politiker immer noch nach den alten Strickmustern der 50er-70er-Jahre-Ökonomie und ihre neoliberale „Weiterentwicklung“. Paradebeispiel für diese falsch orientierte Politik ist die bisherige „Euro-Rettungs-Politik“. Da man die Finanzwirtschaft in ihrer Dominanz und Wucht nicht sieht bzw. sehen will, kommt es zu dieser verhängnisvollen Verengung von Geld- und Finanzpolitik, Haushalts- und Schuldenpolitik auf den Merkel-Spruch von der „schwäbischen Hausfrau“, den ja auch der Schwabe Schäuble gerne von sich gibt, und zum Umlügen der Finanz- und Euro-Krise zu einer „Staatsschuldenkrise“, die dann diese schädlichen Rezepte politisch rechtfertigen soll.
(b) Neben dem Ausblenden der „Bestie Finanzkapital“ (Roubini) und der weltweiten Geldschwemme tritt also die ökonomisch und moralisch verengte Sicht von Schulden. Inzwischen hat sich bei uns eine Schuldendiskussion eingefräst, in der Schulden fast grundsätzlich als negativ gesehen werden und damit staatliches Sparen, d.h. Ausgabenkürzungen als einzige Strategie erscheinen. Dass diese Strategie nicht nur fehlerhafter Sicht entspringt, sondern auch als neoliberale und brutale Entstaatlichungs-Strategie betrieben wird, da die gewollte hemmungslose Freilassung der Finanzwirtschaft und des internationalen Großkapitals fordert, „die Märkte“ von möglichst vielen Staatsanteilen, Regelungen, Begrenzungen und Verantwortlichkeiten zu befreien, ist wohl nicht von der Hand zu weisen.
Hebel sind Privatisierungen, PPP-Projekte, Belastungsreduzierung der „arbeitslosen Einkommen“, Abbau sozialer Ausgaben und arbeitsrechtlicher Regelungen und so weiter. Wir erleben das seit einer Generation und ganz brutal und krass in der Politik der Troika in den sogenannten Krisenländern, die entweder ökonomisch unbedarft oder verlogen als erfolgreich zu bezeichnen Merkel und Schäuble nicht müde werden und inzwischen in geradezu erpresserischer Weise durchsetzen.
Diese fast antistaatliche Stoßrichtung wird auch darin deutlich, dass ausschließlich die Schulden der öffentlichen Gebietskörperschaften problematisiert und Privatschulden und die Verschuldungssituation der Wirtschaft kaum beachtet werden, obwohl diese Separierung volkswirtschaftlich/gesamtwirtschaftlich im Sinne der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung bzw. Kreislaufbetrachtung nicht sinnvoll ist. Von Ende 2007 bis Ende 2014 wuchs die weltweite Gesamtschuldenlast (soweit vom Finanzsystem erfasst) nominal um 57 Billionen Dollar auf insgesamt 200 Billionen Dollar, eine Steigerung in sieben Jahren um fast 45 Prozent, gemessen am BIP von 269 Prozent auf 286 Prozent. Auf der Liste der Gesamtschulden in Prozent des BIP stehen Japan, Irland und Singapur weltweit an der Spitze. Es folgen dann zwölf europäische(!) Länder.
Schulden als Krisenfaktor müssen also auch gesamtwirtschaftlich betrachtet werden, nicht nur haushaltspolitisch. Also auch die plötzliche Orwell’sche Sprachregelung des Umtaufens der Finanz- und Euro-Krise in eine „Staatsschuldenkrise“ belegt diese einseitige Strategie. Diese Sprachregelung in ihrer fast flächendeckenden Verwendung bis hin zur Bundesbank ist ein unglaublich prägnantes Beispiel für die stupide neoliberale Ideologisierung unserer politischen und ökonomischen Diskussion. Leider ist das aber keine semantische Geschmackssache, sondern führt zu fundamentalem und meines Erachtens verhängnisvolleren politischen Weichenstellungen. Halten wir als Grundfehler der Spardiskussion bei uns fest: Das Negieren (und damit natürlich auch die Nicht-Behandlung) der mächtigen Finanzwirtschaft sowie der expansiven Geldvermehrung und in der Folge die einseitige Fokussierung der Schuldenbetrachtung auf öffentliche Schulden, verbrämt mit fast moralisierenden Wertungen von Schulden überhaupt, vor allem in Deutschland.
(c) Die weiteren Verengungen der Schuldendiskussion, die aus diesen beiden grundsätzlichen Fehlern resultieren, sind dann gravierende Falschjustierungen in der ökonomisch-methodischen Betrachtung staatlicher Schulden: Da Schulden in der Regel als schädlich bewertet werden, misst man sie, um sie eingrenzen zu können, mechanisch als nominale Größe (Gesamtsumme) und als relative statistische Größe (Schulden im Verhältnis zum BIP – „Staatsschuldenquote“). Das führte in der Euro-Zone zu den sogenannten Maastricht-Kriterien (maximal 3 Prozent Überziehung der Einnahmen per anno, maximal 60 Prozent Anteil am BIP), verliert aber durch die hochgradige mathematische Aggregation, also Entfernung vom ökonomischen Realgeschehen, die finanzpolitisch drei bedeutsamen Fragen aus dem Blick.
Erstens: Wie groß und wie solide ist die Stärke der Wirtschaft in den Punkten: Kapitalausstattung, Betriebsstruktur, technischer Standard, Ausbildungsniveau, Modernität der technischen und organisatorischen Verfassung, Dynamik und Zukunftsfähigkeit, Exportabhängigkeit, Betriebsverfassung bzw. soziale Struktur des Arbeitsmarktes, Verfassung des Finanzsektors, Zuschnitt der staatlichen Wirtschafts- und speziell Marktpolitik im weitesten Sinne, also Justizverfassung allgemein, Wirtschaftsrecht, Steuerrecht, Kartellrecht – und so weiter?
Bei Bewertung dieser Elemente kann zum Beispiel ein Verschuldungsgrad von 80 Prozent des BIP (Staatsschuldenquote) für die eine Volkswirtschaft zu gefährlichen Belastungen und Fehlsteuerungen führen, während eine andere mühelos eine Staatsschuldenquote von 100 Prozent und mehr verträgt.
Es gibt im Grund nur zwei realwirtschaftliche Kriterien für „Überschuldung“: (1) Das Land erhält am Kapitalmarkt kein Geld mehr oder nur zu unerträglich hohen Zinsen, da sein Status als Schuldner als prekär eingeschätzt wird, oder (2) die Last der Zinsen und Tilgungen ist so hoch, dass das Land seine Aufgaben und seine notwendigen Investitionen nicht mehr hinreichend finanzieren kann. Beide Kriterien können zu sehr unterschiedlichen Verschuldungsgrenzen führen – auch dies als ein Einwand gegen die starren statistischen und damit oft ungerechten Grenzen der „Schuldenbremse“ (aber natürlich nicht als ein Freibrief für uferlose Staatsschulden!).
Zweitens: Schulden beim wem? Die Risikohaftigkeit staatlicher Schulden hängt ganz wesentlich auch davon ab, bei wem die öffentlichen Gebietskörperschaften die Schulden haben (Inland/Ausland, Struktur der Bonds, Charakter und Streuung der Kreditoren und so weiter). So trägt Japan zum Beispiel sein gigantisches Staatsdefizit von ca. 200 Prozent (und gesamtschuldnerisch 400 Prozent) auch deshalb ohne Erstickungsanfälle, weil ca. 90 Prozent dieser Schulden von japanischen Finanzinstituten und Privatanlegern gehalten werden. Das macht Japan gegen Spekulationen und „Wanderungsbewegungen“ des internationalen Kapitals weitgehend unempfindlich. (Aber natürlich ist eine solche Schuldenquote ungesund – ich will nur in diesem einen Punkt die „Elastizität der Gefährlichkeit“ von Staatsschulden illustrieren.)
Drittens: Und nun das Wichtigste: Schulden wofür? Dieser Aspekt geht in der aktuellen Schuldenpolitik völlig unter, zum Beispiel in geradezu zerstörerischer Weise in den Troika-Diktaten über die sogenannten Krisenländer. Hier ist die Merkel’sche „Schwäbische Hausfrau“ wirklich eine ökonomisch fast zerstörerische, populistische und ideologische Verblendung. Mache ich Schulden zum Beispiel nur für Wohltaten (zum Beispiel für Gefälligkeitssubventionen) oder für das Stopfen von Löchern, also ohne einen investiven Push, oder mache ich sie für sinnvolle und nötige Erhaltungs- und Zukunftsinvestitionen?
Die aktuelle Berauschung in Deutschland an der Schwarzen Null (zumal noch glücklichen wirtschaftlichen und finanzpolitischen Faktoren und einigen haushalterischen Tricks zu verdanken) angesichts eines immer deutlicher werdenden „Lebens von der Substanz“ ist ein gefährliches Spiel mit unserer Zukunft als Wirtschaftsnation – und im übrigen ein viel stärkerer Verstoß gegen die Generationsgerechtigkeit als die Schulden, denn diese werden auch in ihrer Saldenfunktion als „Vermögen“ bzw. „Guthaben“ weitervererbt, während Sparen auf Kosten der Substanz und notwendiger Zukunftsinvestitionen der nächsten Generation ein marodes Gemeinwesen und einen Kostenberg vererbt. (Zu der angeberischen deutschen Pose mit der Schwarzen Null, für die diese Regierung eigentlich gar nichts kann, nun eine weitere kleine Notiz, die auch unser arrogantes Verhalten in der aktuellen Griechenland-Diskussion arg in Frage stellt: Während bei uns landauf-landab der Easy-Money-Strategie von Draghi (nicht ganz grundlos) vorgeworfen wird, er wolle damit nur die faulen Banken und das unsolide Verhalten der südlichen Krisenländer schützen, bringt der so provozierte Wechselkursverlust des Euro allen Ländern, deren Handelsbilanzüberschüsse stark durch Leistungsverkehr außerhalb des Euro-Raums entstehen, hohe Gewinne, während Ländern, deren Handelsbilanzdefizit ebenfalls überwiegend im Handel mit Nicht-Euro-Ländern entsteht, hohe Verluste verbuchen müssen.
Nun raten Sie mal, wer der strahlende Gewinner dieser „Gratis-Gewinne“ ist: die Bundesrepublik! Und wer ist der Verlierer: ausgerechnet Griechenland und Spanien – und die Niederlande.)
Es gibt, das ist der böse ökonomische Pferdefuß in dem populistischen Gerede von der „schwäbischen Hausfrau“, keinen Wirtschaftsbetrieb, der in der Gründungsphase und im laufenden Geschäft ohne Kredite, also Schulden funktioniert. Es gibt in der Industrialisierungsgeschichte keine einzige für unsere Wirtschaft grundlegende Investition, die nicht der Staat (und dieser nicht mit Schulden) finanzieren musste, sei es Verkehrsinfrastruktur, Bildungswesen, Energieversorgung, Wohnungsbau, Forschungslandschaft und ähnliches. Also: Wer die Frage „Schulden wofür?“ dem krämerhaften Klammern an ein paar realwirtschaftlich oft wenig aussagekräftige Statistikzahlen opfert, zerstört die Zukunftsfähigkeit unseres Landes!
Beispiel ist der Super-Schuldenstaat USA: Abgesehen von den speziellen Bedingungen der „Schuldentragfähigkeit“ der USA ist festzustellen, dass deren immense Schulden unproblematischer wären, hätten sie diese statt für sinnlose Kriege für Infrastruktur, zum Beispiel in Verkehrswesen und in Bildung aufgehäuft – dann wäre dieser Schuldenberg inzwischen auch schon gesunken, da die US-Wirtschaft viel produktiver wäre. Das meine ich wenn ich sage: Ja, Schulden bremsen ist richtig, zumal Schulden immer auch ein Vehikel für die Vermögensumverteilung von unten nach oben sind, aber diese „Schuldenbremse“ mit ihren juristischen und statistischen Fixierungen ist auf eine geradezu abstruse Weise ökonomisch irrational!
Einige weitere volkswirtschaftliche Grundgegebenheiten
In der Kürze, die hier geboten ist, ein paar weitere volkswirtschaftliche Zusammenhänge, die aber die politik-zerstörerische Wirkung dieser „Schuldenbremse“ noch stärker verdeutlichen: Mit dem Zwang, alle Jahre öffentliche Ausgaben in der Regel mit den Einnahmen des gleichen Jahres zu tätigen (unter Nicht-Berücksichtigung der Konjunktur) wird neben der Schwierigkeit bis Unmöglichkeit, auch kurzfristig auf politische bzw. konjunkturelle „Notlagen“ reagieren zu können oder nur mit juristischen Klimmzügen (siehe den zit. Art. 115 GG), eine der vornehmsten Aufgaben der Politik, nämlich verantwortungsvoll zukunftsgerichtet zu handeln, also auch mehrjährig solide zu planen, fast unmöglich gemacht. Der ökonomische Grundfehler ist also, dass der langfristig rationale, effektive Einsatz der Ressourcen (was man u.a. formal früher „mittelfristige Finanzplanung“ nannte) kaum noch möglich ist. Und damit tritt das Gegenteil von verantwortungsvoller Finanzpolitik ein und von verantwortungsvoller, d.h. vergeudungshemmender Schuldenpolitik. Wir erleben das gerade an der Art, wie die „Schwarze Null“ bei uns herbeigezaubert wird und mit welchen langfristigen Kosten.
Das wird auch deutlich an der simplen volkswirtschaftlichen Kreislauf- und Gesamtrechnung: Wenn die Sparquote, d.h. die Ersparnis in Prozent des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte (der Rest ist Konsum) vom Staat nicht mehr oder nur noch minimal abgerufen wird für gesellschaftlich sinnvolle und notwendige Projekte, dann fließt dieses volkswirtschaftlich nutzbare Kapital in ausschließlich private bzw. privatwirtschaftliche Kanäle. Bei der Größenordnung dieser Summen in Deutschland (2800 Milliarden Euro Gesamtwirtschaftsleistung, davon ca. 9 Prozent privates Sparen gleich 220 Milliarden Euro per anno!), die dann ausschließlich und damit nach den Gesetzen der eher spekulativen Finanzindustrie großenteils in blasenbildende oder auch unproduktive Anlageformen oder ins Ausland wandern (mit dort nicht immer positiven Effekten für die dortige Wirtschaft), ist das ein äußerst wirkungsvoller Hebel.
Das bedeutet: Wenn der Kreditnehmer „Staat“ bzw. „öffentliche Körperschaften“ ausfällt, dann steigt die Verschuldung der Wirtschaft, vor allem in der Finanzwirtschaft, und über diese durch Wagniserhöhung bei den Privatanlegern auch bei vielen Privathaushalten; das sind aber eher Schulden, die in der Regel nicht deckungsgleich sind mit öffentlichen Interessen, vor allem nicht, wenn man sie, getrieben von einer hemmungslosen und uferlosen Finanzindustrie, zum Beispiel in PPP-Projekten entstehen lässt, wo sie letztlich über drastisch erhöhte Gebühren oder (spätere) Schuldenlasten wieder beim Steuerzahler landen. PPP ist also ein gigantisches Umverteilungsprogramm, das fast zwangsläufig zu einer Verteilungsklemme bei den Investitionen führt, die dann auch das Nichterledigen vieler notwendiger öffentlicher Aufgaben bedeutet, die nicht lukrativ sind, oder aber über erhöhte spätere Staatsausgaben und Gebühren lukrativ gemacht werden, was indirekt der Steuerzahler, direkt der Nutzer (z.B. Straßengebühren, Hallenbadeintritte) bezahlt.
Diese eher theoretischen und grundsätzlichen Betrachtungen zur Schädlichkeit der „Schuldenbremse“ (die ich im Übrigen in meinem Buch „Rettet Europa, nicht nur die Banken“ noch viel breiter und differenzierter ausführe – Seite 291ff) will ich nun etwas plastischer belegen anhand ganz praktischer politischer Probleme und Aufgaben, die wir in der Bundesrepublik vor uns haben. Ich resümiere hier aber schon einmal aufgrund der eingangs zitierten „Grexit“-Problematik und der bisherigen Kritik an der Konstruktion und ideologischen Ableitung der „Schuldenbremse“ eine erste Ablehnung: Ich vermute, dass dieses Vorzeigeprojekt Merkel’scher Euro-Rettungspolitik an den Realitäten, vor allem an den nach wie vor gravierenden Unterschieden in Produktionsstruktur, Leistungsfähigkeit, Produktivität, Forschung, Marksteuerung, Arbeits- und Sozialrecht, an den unterschiedlichen finanz-, geld- und wirtschaftspolitischen Institutionen in den einzelnen Ländern u.ä. scheitert.
Es ist dies, wie alle anderen aktuellen Maßnahmen (zum Beispiel die „Bankenunion“) der Versuch, ohne vorherige gründliche Harmonisierungsbemühungen bei den eben genannten Strukturelementen mit der Stahlharke einiger statistischer Kennzahlen die zerklüftete europäische Wirtschafts-Landschaft auf Linie zu bringen, da die Einheitswährung dies verlangt – es wird aber kein „japanischer Garten“ daraus, eher ein zerrupfter und letztlich unfruchtbarer Rübenacker!
Der grundsätzliche Fehler: Schulden werden nicht als Saldengröße aus Ausgaben und Einnahmen gesehen
Ich vertiefe hier noch einmal die Problematik der Ausblendung des volkswirtschaftlichen Grundtatbestandes, dass Haushaltsschulden immer eine Saldengröße sind: Der vehementeste „systemische“ Einwand gegen die „Schuldenbremse“ à la Merkel ist – neben dem schon kritisierten Zwang des „Von-Jahr-zu-Jahr-Rechnens“ –, dass sie und der ganze Chor der sogenannten „Sparer“ und „Reformer“ nur von Ausgabensenkungen sprechen, den Einnahmebereich aber fast völlig ausklammert bzw. Einnahme-Erhöhungen nur über ein in absehbarer Zeit völlig fragwürdiges Wirtschaftswachstum bzw. über ökonomisch und politisch absolut fragwürdige Privatisierungen erwartet. Und bei den kritischen Aussichten für eventuelles Wirtschaftswachstum in der EU, speziell in der Euro-Zone (wie sie der IWF jüngst auch für die Weltwirtschaft prognostizierte) sind die möglichen echten Gefährdungspotenziale für die Weltwirtschaft, wie sie in den USA, Japan oder auch China und den sogenannten Schwellenländern liegen, noch nicht mitbedacht.
Es ist der Politik unter Mithilfe von Ökonomen und weiten Teilen der veröffentlichen Meinung gelungen, Steuererhöhungen als Beitrag zum Schuldenabbau und als Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit und staatlichen Funktionsfähigkeit und Zukunftssicherheit völlig zu diffamieren, und zwar seit 30 Jahren mit immer demselben und empirisch äußerst luftigen Mantra: „Steuererhöhungen sind Gift für die Wirtschaft, für Arbeitsplätze, eigentlich für alles!“ Die Größe dieses politischen, medialen und wissenschaftlichen Chores – der aber mangels intellektueller Fundierung nur das besagte Basso continuo singt – stellt sich vor allem in Deutschland immer mehr als intellektuelles Klumpenrisiko heraus.
Es ist fast bizarr, wie die Politik und viele Medien bei uns einäugig das hohe Lied vom Sparen singen und dabei völlig unterschlagen, dass Haushaltsdefizite immer eine Saldengröße sind. Dabei weiß selbst Merkels „Schwäbische Hausfrau“, dass bei der Schuldentilgung auch eine Lohnerhöhung ihres Mannes sehr hilfreich sein kann! Dass eine konsequente Bekämpfung von Steuervermeidung und Steuerhinterziehung (als indirekte Steuererhöhung) bei fast allen europäischen Staaten bezüglich der Schuldenproblematik schon ganz real die „halbe Miete“ darstellt, sei hier nur zusätzlich erwähnt.
Ein Beispiel für diesen Grundtenor gegen Steuererhöhungen: „SPD und Grüne begehen einen alten Fehler linker Politik. Mit ihren Steuerplänen unterminieren sie die wirtschaftliche Entwicklung. Schon die Debatte über Steuererhöhungen ist in der gegenwärtig immer noch fragilen Lage der europäischen und der Welt-Wirtschaft hoch gefährlich. Wer jetzt eine Debatte über Steuererhöhungen führt, der ahnt gar nicht, dass er da mit einer brennenden Kerze in einem Keller voller Dynamit herumläuft.“ (So der in seiner schwäbischen Biederkeit häufig unglaublich populistische und demagogische Finanzminister Schäuble im SPIEGEL, Heft 22/2013, Seite 23).
Die Orwell’sche Begriffslüge „Staatsschuldenkrise“ ist das Etikett dieser Art von finanz- und geldpolitischer, medialer und wissenschaftlicher Vernebelung. Das geht bis hin zur deutschen Bundesbank: In ihrem „Bilanzstabilitätsbericht 2012“ legt sie in einem umfangreichen Kapitel „Staatsschulden bedrohen Finanzstabilität“ die Ursachen und die möglichen Entschuldungsstrategien dar, dabei wird mit keinem(!) Wort die Einnahmeseite angesprochen, außer der Möglichkeit, mehr Steuereinnahmen durch mehr Wirtschaftswachstum „zu generieren“ (Seite 17 ff). In diesem Zusammenhang plädiere ich dafür, den Begriff „Staatsschuldenkrise“ durch den viel wirklichkeitsnäheren und politisch korrekteren Begriff der „Staatsfinanzierungskrise“ zu ersetzen – ein Begriff, nach dem ich lange suchte, und den ich jetzt von dem ehemaligen Banker Bernd Lüthje übernehme.
Es geht um die Frage, wie der Staat finanzpolitisch so in die Lage versetzt wird, dass er seine Alltagsaufgaben und seine strukturpolitischen Zukunftsaufgaben bewältigen kann ohne steigende Schuldenberge und ohne steigende Auslieferung seiner Tätigkeit an die Profitgesetze der privaten Finanzwirtschaft.
Die in der „Schuldenbremse“ (ähnlich wie in den „Maastricht-Kriterien“) installierten im Wesentlichen zwei starren einheitlichen Indikatoren (jährliche Neuverschuldung bzw. Nicht-Neuverschuldung und Gesamtschuldenlast im Verhältnis zum BIP – Staatsschuldenquote) mit der Auflage, peu à peu einen ausgeglichenen Haushalt und darüber hinaus einen jährlichen Schuldenabbau zu erreichen (mindestens bis zur Staatsschuldenquote von 60 Prozent) negieren nicht nur die dramatischen Unterschiede der Euro-Wirtschaften, sondern sind, wenn bei vielen Ländern neben dem zu erzielenden ausgeglichenen Jahreshaushalt auch noch ein dramatischer Schuldenabbau betrieben werden soll (und das nur durch Sparen) nicht einmal mit den pausbäckigsten Wirtschaftsprognosen durchzuhalten.
Zur Beachtung: Da fast alle EU-Länder die im „Fiskalpakt“ und in den „Maastricht-Kriterien“, also im sogenannten „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ (SWP) und den zugehörigen Gesetzen (u.a. dem „Six-Pack“ und dem „Two-Pack“) geforderte Grenze der Staatsschuldenquote von 60 Prozent des BIP überschreiten (deutlich auch wir!), heißt das: Fast im ganzen EU-Raum dürfen absehbar nicht nur keine neuen Schulden mehr gemacht werden, sondern es müssen, wie eben schon erwähnt, auch noch in teils erheblichem Umfang alte Schulden abgebaut werden. Das geht nur, wenn wir uns alle mehr oder weniger „Austerity-Programmen“ ähnlich den jetzt den Krisenländern aufgezwungenen Sparprogrammen einschließlich einer fast totalen Privatisierung und Verschleuderung von Staats-(Volks-!)Vermögen unterwerfen. Dass das ökonomisch in die Katastrophe führt und sozial und politisch in Demokratien nicht durchzuhalten ist oder nur mit Zwangsmaßnahmen (die Merkel’sche „marktkonforme Demokratie“ scheint hier auf), leuchtet ein!
Jedenfalls führt diese „Schuldenbremse“ zu mehr, nicht zu weniger Schulden, da sie direkt Einnahmeerhöhungen zumindest praktisch-politisch mehr oder weniger ausklammert und kurz- und langfristig Wirtschaftsrezessionen bis hin zu Wirtschafts-Dauerkrisen befördert. Für den, der das bis hierhin immer noch nicht glaubt, hier meine folgende Liste dessen, was in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren dringlich zu tun – und zu finanzieren – ist.
13 praktische, dringliche und zwingende politische Zukunftsaufgaben, die mit der „Schuldenbremse“ nicht zu lösen sind
Ich glaube (auch ohne den realistischen(!) GAU von Forderungsausfällen bei der Euro-Rettung) also nicht daran, dass diese „Schuldenbremse“ funktioniert. Schon bei der ersten rezessiven Delle in der europäischen bzw. Weltwirtschaft wird das Makulatur. Selbst ein wirtschaftlich so potentes Land wie Deutschland wird dann vor der Wand stehen in naher Zukunft, zumal wir von den außenwirtschaftlichen Entwicklungen als Exportnation extrem abhängig sind und schon jetzt an einer dramatischen finanziellen Unterversorgung der staatlichen Gebietskörperschaften und Einrichtungen leiden. Zählen wir zu all dem bisher Kritisierten jetzt einmal auf, welche zusätzlichen(!) Finanzbedarfe und echten Reformen auch so ein im Grundstock modernes und solides Land wie Deutschland in den nächsten Jahren braucht. Es handelt sich hier nicht um Luxusausgaben, sondern um vor aller Augen entstandene Notwendigkeiten, wenn wir dem demokratischen und sozialen Auftrag unserer Verfassung gerecht werden wollen!
(1) Ein erster Ausgabenblock in Zig-Milliarden-Größe werden in den nächsten Jahren die u.a. durch jahrelanges falsches Sparen aufgelaufenen baulichen Sanierungsnotwendigkeiten sein bei Straßen, Brücken, Kanalisation, Schulgebäuden, Hallenbädern, anderen öffentlichen Gebäuden und Verkehrsinfrastrukturen (wie z.B. dem Nord-Ostsee-Kanal und bei der Bahn). Es handelt sich meistens um inzwischen gefährlich baufällige Betonbauten aus den 50er, 60er und 70er Jahren. Hierhin gehört – ebenfalls zusätzlich(!) – der dringend notwendige Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs und die Verkehrsentlastung der Ballungsräume generell.
(2) Ähnlich defizitär ist der soziale Wohnungsbau, in den in den nächsten Jahren ebenfalls Zig-Milliarden-Beträge investiert werden müssen, wenn das demokratische Grundrecht auf bezahlbares Wohnen realisiert werden soll. Allein in Hamburg fehlen nach neuesten Berechnungen des Senats bis 2020 ca. 90.000 Wohnungen! Aus dieser Klemme befreien uns keine profitgierigen Hedgefonds und internationalen Immobilienkonzerne. Es geht vor allem um familienfreundliche Sozialwohnungen, nicht um Luxuswohnungen, da ist also der Staat gefragt!
(3) Die Alterspyramide wird uns einen ebenfalls milliardenschweren Zusatzbedarf für menschenwürdige Behandlung und Unterbringung (und zwar in Deutschland, nicht in Polen oder anderswo!) abfordern. Dazu gehört auch, dass in diesem Bereich endlich das Personal und sein Einkommen aufgestockt werden müssen, und zwar nicht in jenen homöopathischen Dosen, die jetzt die GroKo verabreichte.
(4) Zum Punkt Alter gehört auch eine mangels hinreichender Rücklagen immer weiter auflaufende milliardenschwere Summe für die Altersversorgung der Beamten. Aber auch die Rentenversicherung wird in der Zukunft enorme Zuschüsse brauchen, vor allem, um Altersarmut aufgrund des u.a. Hartz-IV-induzierten gewaltigen Minilohnsektors zu verhindern. Der IWF hat vor kurzem den Zusatzbedarf Deutschlands für die Altenversorgung (Renten und Pensionen) bis 2050 auf 2000 Mrd. Euro hochgerechnet.
(5) In diesen Bereich der Alterssicherung fällt auch eine dramatisch steigende Belastung es Gesundheitssystems durch zunehmende Lebensdauer, durch ständig neue und teurere Behandlungsmöglichkeiten und wegen eines steigenden Krankenstandes durch gesundheitlich ruinöse Entwicklungen in unserer Gesellschaft (z.B. Arbeitsstress, falsche Ernährung, Bewegungsmangel). Noch gar nicht „im Fokus“ sind die bedrohlich anwachsenden Gesundheitsschäden bei unseren Kindern: Übergewicht, ADHS, Magersucht, Allergien, Störungen des Bewegungssystems durch Bewegungsmangel, neuerdings auch noch „Zucker“. Wenn man allerdings erfährt, dass wir in den Gesundheitsausgaben pro Kopf an 3.Stelle in der Welt stehen, an Wirksamkeit aber erst an 16. Stelle, dann wäre ein „Sparbeitrag“ sicher eine vernünftigere, kooperativere, gemeinnützigere Form der Organisation des Gesundheitswesens, in dem heute, u.a. durch neoliberale Privatisierungs-„Orgien“, das Profitprinzip einer der größten Kostentreiber ist. (Das gilt im Übrigen auch für die Alters- und Pflegeheim!) Auch die Krankenhäuser melden Milliarden-Defizite in Baulichkeiten, Infrastruktur und Personalausbau.
(6) Unser Bildungssystem braucht insgesamt neben der oben zitierten Sanierung der Gebäude einen weiteren deutlichen Ausbau von Schulen, Hochschulen, Berufsbildungseinrichtungen (auch im Interesse der Integration) und an KiTas einschließlich dem Ausbau eines pädagogischen(!) Ganztagsangebots (u.a. mit mehr Sport und Musik). Das bedeutet natürlich auch eine Ausweitung des Personals und eine gerechtere Bezahldung vor allem im „unteren“ Bildungssegment. (Deutschland hat von allen OECD-Ländern die größte Abhängigkeit des Schulerfolgs vom sozialen Status der Eltern, diese Ausgaben wären also zusätzlich ein wirklich wirksamer Beitrag zur Generationengerechtigkeit, zu besserer Inklusion und Integration!) Zu diesem Bereich gehört natürlich auch ein deutlicher Ausbau der Forschung in fast allen gesellschaftlich bedeutsamen Bereichen, denn Wissen ist unsere bedeutendste Ressource und unser wichtigster Baustein zu mehr „Wettbewerbsfähigkeit“ im Sinne von nachhaltiger Zukunftssicherung. Das gilt auch für die EU insgesamt. (Dazu müsste auch der EU-Haushalt dramatisch umgewichtet werden, zum Beispiel auf Kosten der rücksichtslosen Förderung industrieller Landwirtschaft – eh ein wichtiges Projekt!).
(7) In diesen weiten Bereich der sozialen Absicherung, der sozialen Fürsorge, der Daseinsvorsorge – im weitesten Sinne der Einlösung der materiellen Seite der verfassungsrechtlich garantierten Aufgabe, die Menschenwürde zu beachten, zu ermöglichen, nicht auszuhöhlen – gehört die Beendigung des Skandals, dass bei uns 20 Prozent der Kinder in unwürdigen Verhältnissen aufwachsen, unwürdig jedenfalls für eines der reichsten Industrieländer. Und ebenso unter das Rubrum „Menschenwürde“ fällt die endlich fällige entsprechende Um- und Ausgestaltung der Hartz-IV-Regelungen. Unabhängig von der Bewertung des Inhalts ist ein Gesetz, dass jährlich zigtausende Prozesse nach sich zieht, schlicht ein gigantischer Rechtspfusch, allerdings mit erheblichen negativen Auswirkungen auf den Rechtsanspruch auf Menschenwürde. Es sind sich eigentlich alle Fachleute einig, dass auch die Sätze spürbar angehoben werden müssen. Außerdem erschreckt das Ergebnis einer Untersuchung des „Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit“: Über 2 Millionen Bürger, die Anspruch auf Leistungen aus dem Hartz-IV-Regelungen haben, nehmen diese nicht in Anspruch.
Außer Dummheit sind alle anderen Gründe dafür, vor allem das Nichtverstehen der komplizierten Regelungen, und noch schlimmer: die Scham, vor allem angesichts der sozialen „Nackt-Auszieh-Regelungen“ und der oft rüden bis entwürdigenden Behandlung (ist leider so); nicht vertretbar – was allerdings kostet! So oder so: Ein Ernstnehmen des Menschenwürde-Artikels unserer Verfassung hat bei den hier angesprochenen Programmen erhebliche Ausgabensteigerungen zur Folge. (Dass Sozialdemokraten sich inzwischen von interessierter Seite, von einer vor allem an einem Wachstum des Geringverdienersektors interessierten Seite, haben einwickeln lassen, dass dieses Hartz-IV-Monstrum der wesentliche Beitrag zum „neuen Wirtschaftswunder“ (Gabriel) gewesen sei, sagt einiges über den Zustand der Führungsspitze dieser Partei.
(8) Weitere staatliche Zusatzbedarfe entstehen durch Restrukturierung von in den letzten Jahren unzulässig ausgebluteten Aufgabenbereichen, z.B. beim Verbraucherschutz, im gesamten Rechtssystem (einem der wesentlichsten Stützen eines funktionierenden demokratischen Staates!), bei der Polizei, bei der Feuerwehr und bei anderen öffentlichen Aufgaben (z.B. Parkpflege, Denkmalschutz, Jugendarbeit, Sportförderung – alles dies wird seit Jahren abgebaut). Dies wäre ebenfalls ein Beitrag zur „Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit“, nur in einem anderen Wettbewerb, als die Kanzlerin ihn sich vorstellt!
(9) Auch die unumgängliche Einführung von Mindestlöhnen wird die staatliche Ausgabenseite belasten.
(10) Zum weiten Gebiet der außenpolitischen Aktivitäten und Absicherungen gehören natürlich dramatisch steigende Notwendigkeiten des sozialen Ausgleichs zwischen den Weltregionen (Entwicklungspolitik, „Dritte Welt“) – auch im Interesse des Abbaus der Kriegs-, Katastrophen- und Armutswanderung! In diesen Bereich gehört auch die zunehmend schwierigere und teurer werdende Sicherung unserer Rohstoffversorgung. (Damit meine ich zuerst die langfristig unausweichlichen dramatischen Preissteigerungen auf den Rohstoffmärkten, auf die Deutschland stärker als viele andere Industrieländer angewiesen ist; ich meine die Pflege guter, kooperativer Beziehungen zu den Rohstofflieferanten. Ich meine nicht das Militär, obwohl wir da auch einen unkalkulierbaren Kostenblock vor uns haben, der noch dazu fast Jahr für Jahr unkontrolliert anfällt und interessanterweise von unseren politischen Sparkommissaren kaum beachtet wird!
(11) Außerdem werden zumindest auf absehbare Zeit Energiewende und Klimapolitik von uns enorme Investitionen erfordern (bei uns und weltweit), ehe sie ihre segensreiche Wirkung auch auf der Kostenseite entfalten können. Das gleiche gilt für eine nachhaltige Umweltpolitik (auch dies u.a. im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem). Zu den unkalkulierbaren Belastungen der „Atompolitik“ gehören die wahrscheinlich Zig-Milliarden für die Entsorgung bzw. Endlagerung des Atommülls einschließlich der „Sanierung“ der Atomkloake „Asse“, die verantwortungslose Politiker wohl auch letztlich zu Lasten der Steuerzahler organisieren werden; jedenfalls wird an vielen Ecken schon so „dran gedreht“ bis hart an die Grenze der Veruntreuung und Korruption! Beides – Energie- und Umweltpolitik – ist ja eh engstens verzahnt und wäre, wenn Frau Merkel diese von ihr selbst so deklarierte „Chefsache“ (ich erinnere an den Fototermin im Grönlandeis!) endlich wirklich in die Hand nähme, eine der Arbeitsplatz- und Wirtschaftsbelebungspfade (wenn auch inhaltlich ein ganz anderes Feld der „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ als diese stumpfsinnigen und gemeinschaftsfeindlichen neoliberalen „Strukturreformen“).
(12) Und schließlich, um an die Einleitungsbemerkungen anzuknüpfen und sie hier einzuordnen, werden die wirtschaftliche Stabilisierung Europas und die aktuelle Euro-Rettung uns langfristig zusätzliche Ausgaben abverlangen. Das gilt „positiv“ i.S. des unabdingbaren Umschwenkens auf mehr „Belebungs- und soziale Ausgleichspolitik“, „negativ“ i.S. des Gläubigerrisikos bei der „Eurorettung“. Denn es ist natürlich einzukalkulieren, dass ein Großteil der inzwischen und absehbar zu leistenden Kredite nicht mehr zurückerstattet werden (können) bzw. einer oder mehrerer weiterer Umschuldungen „zum Opfer fallen“. („Insgesamt bestehen vor allem aufgrund der Unsicherheiten bezüglich der Schuldenkrisen im Euro-Raum aber weiter erhebliche Risiken für die öffentlichen Finanzen“, Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Juni 2013, S. 23.) Die aktuelle Diskussion über einen „Grexit“ angesichts des Wahlsiegs von Tsipras hat die Unhaltbarkeit der Schuldenbremse grell beleuchtet, da sie diese ganze Diskussion als Traumtänzerei entlarvt. Mit der Schuldenbremse geht gar kein „Grexit“ – und wir bleiben innerhalb der Euro-Zone und seitens der Finanzmärkte hochgradig erpressbar.
(13) Ein weiter Punkt muss bedacht werden: Vorwärtsgewandt ist festzustellen, dass das ganze Konstrukt der „Schuldenbremse“ von dem fast irrationalen Optimismus getragen wird, es gäbe in Zukunft keine Rezessionen oder weltwirtschaftlichen Einbrüche mehr. Diese Illusion ist geradezu sträflich, da unser Wirtschaftssystem eine stete ruhige (Aufwärts)-Entwicklung nicht kennt. Bedenkt man zusätzlich noch die ja nicht unrealistische Gefahr einer neuen Weltwirtschaftskrise (eine leichte Rezession reicht ja schon für das Exportland Deutschland), z.B. durch die von Fachleuten prophezeite Krise in China, die Unwägbarkeiten der Entwicklung in den USA und Japan (und last but not least auch in der Euro-Zone!) – oder gar eine ebenfalls von vielen Fachleuten für möglich gehaltene nächste Finanzkrise, wird diese ganze Rechnung vollends illusionär.
Resümee: Was bedeutet das für uns und die Euro-Zone politisch?
Man muss sich diese Liste, die in ihrer Summierung wohl an die Billionengrenze geht, vor Augen führen, um zu begreifen, welches gigantische neoliberale staatliche „Entkräftungsprogramm“ und Enteignungsmanöver da notwendig ist, wenn wir diese Aufgaben bewältigen und dabei auch noch sparen wollen, dabei Steuererhöhungen bzw. eine Stärkung der staatlichen Einnahmeseite weiterhin jedoch ideologisch und/oder interessenpolitisch mehr oder weniger ausgeschlossen werden. Wir können ohne den Hauch von Polemik oder Prophetie sagen: Das geht nicht! Das geht nie und nimmer! Die zitierten Schuldenberge sind ja nicht nur aus Leichtsinn entstanden, sondern staatlicherseits zu einem Großteil Folge der Finanzkatastrophe 2007/09 und ihrer Auswirkungen, Folge einer verfehlten Euro-Rettungs-Politik, einer systematischen, vor allem steuerpolitischen Aushungerung der öffentlichen Gebietskörperschaften (auch durch eine ausufernde Steuerhinterziehung bzw. Steuervermeidung) sowie Folgen einer diese Entwicklungen stets im wahrsten Sinne des Wortes befeuernden ökonomisch unsinnig aufgeblasenen Finanzwirtschaft.
Und diese „Schuldenbremse“ geht schon gar nicht bei den jetzigen Krisenländern und den meisten anderen EU- bzw. Euro-Staaten, vor allem nicht bei denen aus dem Armenhaus, wie Bulgarien und Rumänien. Zu der jetzt schon offenbaren strukturellen Unterversorgung bei öffentlichen Investitionen und Aufgaben kommt ein – auch bei brutalstem Sparen an anderer Stelle – massiver Abbruch öffentlicher Investitionen auf uns zu, so dass EU-weite dramatische Dauer-Wirtschaftskrisen programmiert sind – mit den entsprechenden politischen Verwerfungen.
Kein Ökonom – ich betone: kein einziger – kann uns erklären, wie das anders funktionieren soll! Das gilt vor allem, da Länder und Kommunen nach der „Schuldenbremse“ viel früher als der Bund überhaupt keine Schulden mehr machen dürfen. Diese Gebietskörperschaften sind aber nicht nur am stärksten ausgeblutet, sondern tragen 60 Prozent aller öffentlichen Investitionen in Deutschland. Da lügen wir uns gerade kolossal was in die Tasche – und natürlich sind die sogenannten „wissenschaftlichen Ökonomen“ eifrig auch hier dabei! Es kommt noch hinzu, dass gründliche Ökonomen (die gibt es ja auch!) beim Durchspielen der äußerst komplizierten Berechnungsmodi der „Schuldenbremse“ feststellten, dass diese zu allem Übel auch noch prozyklisch wirkt.
Man kann es drehen wie man will: Es führt – neben produktiveren Investitionen und klügerer Struktur- und Bildungspolitik – bei der Bewältigung dieser Aufgaben ohne Anhäufung staatsgefährdender Schuldenberge kein Weg an Einnahmeerhöhungen vorbei, die nach Lage der welt- und europäischen Wirtschaft absehbar nicht oder kaum aus Wachstum entstehen können, sondern nur aus einer wenigstens teilweisen Rückgängigmachung der unsozialen neoliberalen steuerlichen Umverteilung des Zugewinns von unten nach oben und der Lasten von oben nach unten, wobei vor allem auch die häufig unproduktiven Subventionen und ganz besonders der Steuerbetrug und die Steuervermeidung in diese Strategie der Einbeziehung der Einnahmeseite beim „Bremsen der Schulden“ auf den Tisch gehören. Und das sollte EU- bzw. Euro-weit geschehen – das wäre mal ein lohnendes Spielfeld für die sogenannten „unabdingbaren Reformen“, Frau Merkel und Herr Schäuble!
Zum Schluss muss ich noch den demokratiefeindlichen Aspekt der „Schuldenbremse“ beleuchten, den ja unsere Statistik-Ökonomen und Tabellen-Haushälter nicht „auf der Pfanne“ haben oder der sie nicht interessiert: Dieses Gesetzeswerk („Fiskalpakt“ und „Schuldenbremse“) verlagert in gravierender Weise haushaltspolitische Entscheidungen in eher anonyme, technokratische, intransparente Gremien und Kontrollorgane und an zentrale europäische Instanzen; es verlagert politische Abwägungen und Entscheidungen in automatisierte Messzahlen-Konstrukte, die noch dazu in ihrer Wirkung, vor allem aber auch in ihrer rechnerischen Solidität äußerst umstritten sind. Es liefert zentrale finanz- und haushaltspolitische Entscheidungen einem fast unentwirrbaren Netz von Paragraphen und Vorschriften aus, das kaum ein „Haushälter“ (auch kein Brüsseler) solide überblicken kann, und es öffnet mit dieser „Pseudoverobjektivierung“ der Willkür Tür und Tor – ein juristisch zementiertes, neoliberales TINA-Programm!
Und es entzieht, wenn es bei der Fokussierung auf Sparen bleibt, alle öffentlich wichtigen, vor allem generationsübergreifend wichtigen Investitionsentscheidungen der von uns beeinflussbaren Politik und liefert sie der (potentiell spekulativen) Finanzwirtschaft aus – was auch heißt, der weitgehenden Nichterfüllung mit unerträglichen Folgen für unsere Zukunft! Oder will man genau das!?
Wir sollten, ja wir müssen die „Schuldenbremse“ in ihrer jetzigen Konstruktion im Interesse der Politik- und Zukunftsfähigkeit Europas schleunigst zur Disposition stellen! Dazu müssen wir handlungsleitend zuerst den verlogenen Begriff der „Staatsschuldenkrise“ durch den der „Staatsfinanzierungskrise“ (B. Lüthje) ersetzen!
„Ein Staat ohne Staatsschuld thut entweder zu wenig für seine Zukunft, oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ Lorenz von Stein, Lehrbuch der Finanzwissenschaften, 1871.
Aktuelle Nachbemerkung: Gerade, am 3. März 2015, beschloss die GroKo u.a., „klammen Kommunen“ mit einigen Milliarden Euro bei der überfälligen Sanierung öffentlicher Einrichtungen (zum Beispiel Straßen, Brücken, Schulgebäude) zu helfen. Diese Einmal(!)-Aktion verdeutlicht den von mir analysierten Notstand mehr als dass sie beruhigt. Seit Jahrzehnten werden u.a. die Kommunen finanziell ausgehungert – und damit die Axt an die Wurzeln der Demokratie gelegt, da dort, wo kein Geld mehr da ist, wo also politischer Entscheidungsspielraum nicht mehr vorhanden ist, das politische Interesse der Bürger zumindest bezüglich der Wahlen natürlich nachlässt. Außerdem verdeutlicht diese Aktion, dass „der Staat“ mangels Masse an Geld und Intellekt (und natürlich dank fast flächendeckender Lobby-Abhängigkeit) zunehmend nur noch Placebos produziert, denn auch diese Aktion ist a) lächerlich angesichts der Bedarfe, und b) nur dem aktuellen Glücksfall „sprudelnder Steuereinnahmen“, so der Pawlow’sche Journalistensprech, zu verdanken. Morgen wird der Sack schon wieder zugemacht, am Grundproblem der systemischen Unterfinanzierung der öffentlichen Körperschaften ändert sich nichts. Man nenne mir nur ein Gesetz der letzten Jahre, welches das Problem, das es lösen soll, wirklich gelöst hat oder löst.
Aktuellstes Beispiel ist die sog. „Mietpreisbremse“. Und als wenn es noch eines Beweises bedurfte, wie unsere Politiker richtungslos zwischen Wählerpopulismus, neoliberaler Verblendung („Steuererhöhungen sind Gift“) und Verfassungsauftrag hin und her eiern, folgt einen Tag nach dem oben zitierten Beschluss der GroKo das Hin und Her um den Soli und der Beschluss, das Kindergeld um 6 Euro (in Worten: sechs) zu erhöhen! Wahlverdrossenheit ändert man nicht mit formalen Mätzchen, sondern mit glaubwürdiger Politik für die Mehrheit der Bürger!
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Reinhard Crusius, geboren 1941 in Gütersloh; viele Jahre Arbeit als Schriftsetzer; Studium über Zweiten Bildungsweg in Hamburg; Diplom-Volkswirt, Dr. rer. pol.; Habilitation an der TU Berlin. Diverse Aufsätze, Rundfunkbeiträge und Veröffentlichungen.
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