Politik

Neues Gesetz: Bundestag nimmt Arbeitern in Deutschland ein Grundrecht

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Heribert Hirte hat in einer bemerkenswerten Stellungnahme begründet, warum er gegen das neue Gewerkschaftsgesetz gestimmt hat: Die Arbeiter verlieren mit der Regelung ihr Recht, sich jene Gewerkschaft auszusuchen, die ihre Rechte am besten vertritt. Es wäre eine Überraschung, wenn das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht hält.
22.05.2015 18:21
Lesezeit: 3 min

Zur Plenarsitzung vom 22.05.2015 - TOP 27 „Gesetz zur Tarifeinheit" hat der CDU-Abgeordnete Heribert Hirte eine persönliche Erklärung nach § 31 GO-BT abgegeben. Darin begründet er, warum er gegen das neue Gesetz zur Tarifeinheit gestimmt hat.

Die Erklärung im Wortlaut:

Als Mitglied des Rechtsausschusses fühle ich mich persönlich in besonderer Weise in der Verantwortung, die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen bei meinen Entscheidungen zu be­rücksichtigen.

Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes postuliert eine Koalitionsfreiheit, die nur durch gleich­ wertige Verfassungsgüter eingeschränkt werden kann. Koalitionsfreiheit heißt dabei aber nicht nur, kollektiv seine Arbeitsbedingungen auszuhandeln, sondern gerade auch frei ent­scheiden zu können, wer dies für einen tut - und wer gerade nicht. Auch bedeutet Art. 9 Abs. 3 GG nicht nur, sich zu entsprechenden Koalitionen zusammenschließen zu können, sondern auch gerade in Koalitionen, die nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch in der Lage sind, für die Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen einzutreten!

Beide diese wesentlichen Bestandteile von Art. 9 Abs. 3 GG werden durch das Tarifein­heitsgesetz aber konterkariert. Sollte in einem Betrieb mehr als eine Gewerkschaft Tarif­verträge - natürlich jeweils nur für ihre Mitglieder - ausgehandelt haben, die sich vom Inhalt her „überlappen", so soll dies nach § 4a TVG-neu dazu führen, dass lediglich die (überlappenden) Normen anwendbar sind, die von der „Mehrheitsgewerkschaft" ausge­handelt wurden. Damit sind in diesem Bereich Verhandlungen über solche Gegenstände für die „Minderheitsgewerkschaft" tabu: Bei einem umfassenden Tarifvertrag der „Mehr­heitsgewerkschaft„ ergibt sich überhaupt kein weiteres Betätigungsfeld. Der „Minderheits­gewerkschaft" bleibt nach § 4a Abs. 4 TVG-neu lediglich die Möglichkeit, die überlappen­ den Normen des „Mehrheitstarifvertrags" nachzuzeichnen - und damit zu akzeptieren, was sie selbst nicht ausgehandelt hat. Damit ist faktisch das erste der oben genannten Ele­mente der Koalitionsfreiheit ausgeschaltet.

Möchte man als einzelner Arbeitnehmer noch Einfluss auf seine Arbeitsbedingungen neh­men - was faktisch in großen Betrieben nur über die Einflussnahme auf den Tarifvertrag möglich ist - bleibt lediglich die Mitgliedschaft in der „Mehrheitsgewerkschaft". Somit ist auch die Wahl der Gewerkschaft faktisch für den Einzelnen nicht mehr frei, kann doch über die „Minderheitsgewerkschaft" nicht mehr auf die Arbeits- und Wirtschaftsbedingun­gen effektiv eingewirkt werden.

Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der vorgelegte Entwurf gerade nicht den Status quo ante (z.B. BAG v. 20.3.1991 - 4 AZR 455/90) wiederherstellen möchte, der von einem Spezialitätsprinzip getragen war und nur einen Tarifvertrag pro Berufsgruppe vorsah. Viel­ mehr schränkt das Tarifeinheitsgesetz den Art. 9 Abs. 3 GG noch stärker als diese früher geltende und für verfassungsgemäß gehaltene Rechtsprechung ein. Mir ist dabei natürlich bewusst, dass die künftige Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nicht vorhersehbar ist. Zu berücksichtigen ist natürlich, dass sich auch Rechtsprechung entwickelt und somit nicht leicht aus heutigen Entscheidungen auf zukünftige geschlossen werden kann. Aber sowohl die Arbeits- wie auch die Verfassungsgerichtsbarkeit hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten im Rahmen eines langfristigen Prozesses den Individualfreiheiten kontinuier­lich ein größeres Gewicht beigemessen. Dass die in der Tat unvorhersehbare Judikatur des Bundesverfassungsgerichts zu einem Grundrechtsverständnis der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückkehren könnte, erscheint somit wenig wahrscheinlich.

Diese Beurteilung des Gesetzentwurfs als verfassungswidrig steht in einem Spannungsverhältnis dazu, dass es nach unserer Einschätzung in der Tat Maßnahmen gegeben hätte, die in verfassungsgemäßer Weise das mit dem Gesetzentwurf verfolgte Ziel hätten erreichen können. Zu nennen sind wie in zahlreichen anderen europäischen Ländern insbesondere Ankündigungsfristen, Schlichtungsverfahren oder die Koordination von Streikzeiten. Dies kann bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die bei der Einschränkung von Grundrechten vorzunehmen ist, nicht unberücksichtigt bleiben.

Völlig unberücksichtigt geblieben sind die schuldrechtlichen Beziehungen (Verträge bzw. öffentlich-rechtliche Schuldverhältnisse) zu Drittbetroffenen, die durch Streiks mittelbar beeinträchtigt werden. Während es hier im Fernverkehr der Eisenbahnen und im Luftverkehr klare Regelwerke gibt, herrscht im Bereich der (vor allem öffentlich-rechtlich organi­sierten) kommunalen Daseinsvorsorge ein unüberschaubarer Flickenteppich vor, der Dritte in zahlreichen Fällen (Kindergärten, ÖPNV, Frachtverkehr) einseitig belastet, andererseits aber in die von den Arbeitsgerichten vorgenommene Verhältnismäßigkeitsprüfung eines Streiks bisher nicht sicher einbezogen wird.

Die kleinen Gewerkschaften wollen schnell und mit vielen Klagen gegen das Tarifeinheitsgesetz vorgehen. „Wir werden Klage beim Verfassungsgericht einreichen, sobald die Tarifeinheit im Gesetzblatt steht" sagte der Chef des Marburger Bundes, Rudolf Henke, der in Düsseldorf erscheinenden Rheinischen Post. Der Beamtenbund kündigte für Juli eine Klage an.

„Ich rechne fest damit, dass eine Vielzahl an Klageschriften beim Verfassungsgericht eingehen wird", sagte Klaus Dauderstädt, Chef des Beamtenbunds. Man werde sich mit anderen Gewerkschaften wie demMarburger Bund und der Vereinigung Cockpit abstimmen: „Am Ende wird es aber getrennte Klagen geben." Für die Pilotenvereinigung Cockpit wird der ehemalige Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) die Klageschrift ausarbeiten, erfuhr die Zeitung von der Gewerkschaft.

Das umstrittene Gesetz zur Tarifeinheit hatte am Freitag die letzte Hürde im Bundestag genommen. Mit dem Gesetz soll die Macht kleiner Spartengewerkschaften eingedämmt werden. Wenn zwei Gewerkschaften in einem Betrieb dieselben Arbeitnehmergruppen vertreten, gilt künftig nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern in dem Betrieb.

Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Misserfolg bei Putins Wirtschaftsforum in St. Petersburg: Die marode Kriegswirtschaft interessiert kaum jemanden
23.06.2025

Das Wirtschaftsforum in St. Petersburg sollte Russlands wirtschaftliche Stärke demonstrieren. Stattdessen offenbarte es die dramatische...

DWN
Politik
Politik Zwangslizenzen: EU hebelt den Patentschutz im Namen der Sicherheit aus
23.06.2025

Die EU will künftig zentral über die Vergabe von Zwangslizenzen entscheiden – ein tiefer Eingriff in das Patentrecht, der die...

DWN
Technologie
Technologie Umfrage: Zwei Drittel für europäischen Atom-Schutzschirm
23.06.2025

Eine Forsa-Umfrage zeigt, dass eine deutliche Mehrheit der Deutschen den Aufbau eines europäischen nuklearen Schutzschildes befürworten....

DWN
Finanzen
Finanzen US-Börsen: Internationale Anleger kehren der Wall Street den Rücken
23.06.2025

Ölpreise steigen, geopolitische Risiken nehmen zu – und Europas Aktienmärkte wirken plötzlich attraktiv. Während die US-Börsen ins...

DWN
Politik
Politik Personalmangel im öffentlichen Dienst - DGB fordert mehr Personal
23.06.2025

Milliardeninvestitionen sollen in Deutschland die Konjunktur ankurbeln. Doch Personalmangel in Behörden könnte den ehrgeizigen Plänen...

DWN
Politik
Politik Iran-Israel-Krieg: Internet überflutet mit Desinformation
23.06.2025

Falsche Videos, manipulierte Bilder, inszenierte Explosionen: Der Konflikt zwischen Iran und Israel spielt sich längst auch im Netz ab –...

DWN
Politik
Politik Aus Angst vor Trump: China lässt den Iran im Stich
23.06.2025

Chinas harsche Kritik an den US-Angriffen auf Iran täuscht über Pekings wahres Kalkül hinweg. Im Hintergrund geht es um knallharte...

DWN
Politik
Politik US-Angriff auf den Iran: Die Märkte bleiben erstaunlich ruhig
23.06.2025

Trotz der Angriffe auf iranische Atomanlagen bleiben die globalen Märkte ruhig. Doch die Straße von Hormus bleibt ein geopolitischer...