Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Viele Ökonomen sagen, dass der desolate Zustand der französischen Wirtschaft dem FN die Wähler in die Arme getrieben hat. Stimmt das?
Heiner Flassbeck: Es herrscht ein desolater Zustand in der gesamten europäischen Wirtschaft. Und Frankreich steht mit anderen Ländern auf der schlechteren Seite. Wir haben in Europa seit 2011 eine Stagnation – auch in Deutschland. Das ist eine katastrophale Entwicklung, die natürlich radikale Parteien stärkt. Wenn die europäische Ebene versagt, stärkt dies den Nationalismus.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Sie haben ermittelt, dass Frankreich eine höhere Produktivität als Deutschland hat. Warum schlägt das nicht auf den Arbeitsmarkt durch?
Heiner Flassbeck: Das liegt an den niedrigen Löhnen in Deutschland. Die Währungsunion in Verbindung mit dem Lohn-Dumping in Deutschland hat dafür gesorgt, dass Frankreichs Wettbewerbsfähigkeit massiv gesunken ist. In Frankreich sind die Lohnstückkosten so gestiegen wie das in Europa vereinbarte Inflationsziel von zwei Prozent. In Deutschland sind sie hingegen weit darunter geblieben – ein klarer Verstoß gegen den Geist und den Sinn der Währungsunion. Das war eine Abwertung und eine künstliche Stärkung der deutschen Industrie.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wo liegen die Stärken und Schwächen der französischen Wirtschaft?
Heiner Flassbeck: Frankreich hat eine sehr gut aufgestellte Industrie, etwa im Energie-Sektor, in der Chemie und einigen anderen. Die Sparten, in denen Frankreich stark ist, sind nicht so spektakulär wie die Automobilindustrie – deswegen fällt es auf den ersten Blick nicht sofort auf. Das Problem ist, dass durch das Lohn-Dumping die Wettbewerbsfähigkeit um 15 bis 20 Prozent verlorengegangen ist. Das ist für den hochindustriellen Bereich tödlich. Das kann keine Wirtschaft unbeschadet überleben. Wenn daran nichts geändert wird, stirbt auf relativ kurze Sicht der Euro.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Der Verband der Familienunternehmer sieht auch ein Versagen der EU in der Euro-Krise. Sehen Sie das auch?
Heiner Flassbeck: Natürlich ist das ein Versagen der EU. Aber es ist Deutschland, das eine völlig falsche Wirtschaftspolitik diktiert. Da heißt es, die Löhne müssen gesenkt werden, es soll noch mehr gespart werden. Wenn Frankreich die Löhne senkt, wird – wie in Südeuropa – die Arbeitslosigkeit steigen. Das wird den radikalen Parteien noch mehr Zulauf bringen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist es nicht so, dass die französische Wirtschaft besser ist als ihr (deutscher) Ruf?
Heiner Flassbeck: Ja, eindeutig. Das liegt allein an der deutschen Deutung der Euro-Krise. Es liegt daran, dass Deutschland seine eigene Rolle verleugnet. Wenn in Deutschland die Löhne in den nächsten Jahren nicht viel stärker steigen, wird der deutsche Lohnanstieg durch einen Bruch der Eurozone und eine Abwertung der anderen Länder erzwungen.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Das Jacques-Delors-Institut fordert Strukturreformen à la Hartz IV. Kann das die Lösung sein?
Heiner Flassbeck: Auf gar keinen Fall. Dann würde etwas Ähnliches passieren, wie in Deutschland – und für Europa bedeutete es mehr Deflation. Das will wirklich niemand. Das Institut scheut sich, offen und ehrlich zu sagen, was schuld an der Misere ist: Das deutsche Lohn-Dumping.
Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist es nicht so, dass in Wahrheit Deutschland von der Lage in Frankreich profitiert?
Heiner Flassbeck: Natürlich. Deutschland profitiert von allen Ländern der Eurozone. Die Arbeitslosigkeit wurde erfolgreich exportiert. In Italien ist die Lage noch dramatischer. Zudem sind dort noch radikalere Kräfte in der Politik vertreten. Dort sind inzwischen sehr viele überzeugt, dass Deutschland die Schuld für die Krise trägt. Wenn nicht gegengesteuert wird, kann das sehr böse enden. In Frankreich sind 2017 Präsidentschaftswahlen. In Italien wird im Januar 2018 gewählt. Die Gefahr ist groß, dass dann radikale Kräfte an die Macht kommen. Dann ist der Euro tot und Deutschland verliert über Nacht seine Exportmärkte.