Christoph Trost von der dpa liefert einen sehr aufschlussreichen Korrespondenten-Bericht aus Wildbad Kreuth:
Die Kanzlerin muss gewusst haben, dass es kein einfacher Termin werden würde. Dass es auf der Klausur der CSU-Landtagsfraktion in Wildbad Kreuth anders zur Sache gehen würde als bei den Bundestagsabgeordneten zwei Wochen zuvor. Aber gleich so?
Tatsächlich tritt der Streit zwischen CSU und Kanzlerin über die Flüchtlingspolitik am Mittwoch so offen zutage wie selten zuvor. Merkel erteilt der Forderung nach einer Obergrenze für Flüchtlinge erneut eine Abfuhr - und wird mit Kritik überschüttet. Finanzminister Markus Söder etwa sagt nach Teilnehmerangaben: «Die Lage ist aus dem Ruder gelaufen.» Die Grenzen offen zu lassen, sei ein «schwerer Fehler». Ein Abgeordneter mahnt, man könne nicht auf Dauer gegen die Mehrheit der Bevölkerung regieren. Und andere CSU-Politiker berichten von Menschen, die sagten, sie könnten Merkel nun nicht mehr wählen.
Nicht nur der Schnee draußen vor der Tür, auch der Ärger in der CSU türmt sich inzwischen viel höher auf als noch vor zwei Wochen. Der Zorn ist immens unter den Abgeordneten. Deutlich wie nie fordern sie endlich einen sofortigen Kurswechsel in der Flüchtlingspolitik, eine Obergrenze für die Zuwanderung: «Für das Jahr 2016 liegt für uns die verträgliche Obergrenze bei 200 000», heißt es in einem Papier, das die Fraktion vor Merkels Ankunft einstimmig beschlossen hat. Eine Gruppe von Abgeordneten hat zudem einen langen, deutlichen Brief an die Kanzlerin geschrieben. Die Handlungsfähigkeit der Politik müsse dringend wiederhergestellt werden, heißt es darin unter anderem.
Auch Parteichef Horst Seehofer hat den Druck vorab noch einmal erhöht - und von Merkel einen Kurswechsel binnen weniger Wochen verlangt. Er will sich nicht länger «abspeisen» lassen und ist fest entschlossen, notfalls gegen den Bund zu klagen. Seehofer warnte die Abgeordneten sogar schon: «Es können schwere Entscheidungen auf uns zukommen.»
Merkel aber lehnt die CSU-Forderung nach einem schnellen Kurswechsel samt Festlegung einer nationalen Obergrenze weiter klar ab: «Worin wir uns einig sind, ist, dass wir die Zahl der ankommenden Flüchtlinge spürbar und nachhaltig reduzieren wollen», sagt sie - betont dann aber, hier sollte man bei den Fluchtursachen ansetzen und eine europäische Lösung finden. Vor den Abgeordneten betont sie, sie könne nicht gleichzeitig international verhandeln und parallel dazu nationale Maßnahmen ergreifen. Über einen «Plan B» spreche sie nicht.
Dass es zu einer wirksamen europäischen Lösung kommt, das glauben in der CSU-Fraktion indes nur noch wenige. Eine solche Lösung zu finden sei jedenfalls in kurzer Zeit nicht möglich, betont Fraktionschef Thomas Kreuzer. Deshalb brauche es eine nationale Obergrenze.
Weil niemand an ein schnelles Einlenken der Kanzlerin glaubt, wird unter den Abgeordneten in Kreuth lebhaft diskutiert - freilich nicht in großer Runde. Etwa darüber, was mit den «schweren Entscheidungen» gemeint sein könnte, von denen Seehofer gesprochen hat. Die zentrale Frage: Was tun, wenn Merkel nicht einlenkt? Sogar über die völlige Eskalation wird gesprochen: den Austritt aus der Berliner Koalition, ein mögliches bundesweites Antreten der CSU. Doch zumindest bei diesen Punkten sind sich die allermeisten einig: Kommt nicht infrage.
Denn das ist das Dilemma, in dem die CSU steckt, und das sich auch nicht auflösen lässt: Sie hat keinen direkten Hebel, um Merkel zur Kehrtwende zu zwingen. Die CSU hängt auf Gedeih und Verderb mit drin in der Koalition. Würde das Bündnis platzen, würde es zu Neuwahlen kommen - die Union müsste mit einem desaströsen Ergebnis rechnen.
Der CSU bleibt deshalb nichts anderes, als den Druck auf Merkel immer weiter zu erhöhen. Wobei für viele Christsoziale längst zweitrangig ist, ob Merkel Kanzlerin bleibt oder jemand anderes das Ruder übernimmt. Viele Abgeordnete sagen inzwischen, wenn Merkel ihre Politik nicht korrigieren wolle, müsse sie ihr Amt abgeben.
Seehofer selbst packt die gesamte Stimmung in einen diplomatisch formulierten Satz, den er Merkel schon vor zwei Wochen gesagt habe: «Wir wollen mit Dir eine Lösung - die Betonung liegt aber auf: Wir wollen eine Lösung. Das ist entscheidend.» Am deutlichsten wird Bildungsstaatssekretär Georg Eisenreich. Er sagt zu Merkel nach Teilnehmerangaben: «Wenn es nicht in absehbarer Zeit eine andere Flüchtlingspolitik gibt, dann gibt es bald eine andere Kanzlerin.»