Politik

Wegen Merkel-Plan: Türkei kann Menschenrechte mit Füssen treten

Die alternativlose Flüchtlingspolitik von Angela Merkel führt dazu, dass die Türkei die Menschenrechte nicht mehr achtet. Nach dem Sturm auf die Zeitung Zaman müsste die EU den Gipfel mit Erdogan eigentlich absagen. Doch stattdessen erklärt sich Deutschland als nicht zuständig für Menschenrechte.
05.03.2016 14:53
Lesezeit: 3 min

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Mit dem Sturm auf die Zeitung Zaman hat die Türkei die Pressefreiheit abgeschafft. Die türkische Polizei ist in Istanbul erneut mit großer Härte gegen Unterstützer der regierungskritischen Zeitung "Zaman" vorgegangen.

Die Polizei setzte am Samstagnachmittag Tränengas, Wasserwerfer und Gummigeschosse gegen rund 500 Menschen ein, die sich aus Solidarität mit der Zeitung vor deren Redaktionsgebäude versammelt hatten, wie ein AFP-Reporter berichtete. Die Justiz hatte am Freitag die Zeitung der Gülen-Bewegung unter Zwangsverwaltung gestellt.

Bereits in der Nacht hatte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt und war gewaltsam in das Gebäude eingedrungen (Video am Anfang des Artikels). Eine derart rabiate Vorgehensweise gegen ein Medium ist selbst für die Türkei ungewöhnlich. Im Grunde müsste die EU ihren Gipfel mit der Türkei absagen - und damit gegen die Umwandlung der Türkei in einen islamistischen Polizeistaat protestieren.

Doch Angela Merkel, der letzte Hoffnung der türkische Präsident Erdogan ist, steht mit dem Rücken zur Wand: Sie will Erdogan nicht verärgern und schweigt daher zu den Menschenrechtsverletzungen. Mit dem alternativlosen Plan, dass die Türkei die EU retten soll, weil diese nicht fähig ist, ihre Grenzen zu schützen und die Flüchtlinge zu verteilen, hat sich Merkel völlig in die Anhängigkeit von Erdogan begeben. Sie schweigt seit Monaten zum Bürgerkrieg Erdogans gegen die Kurden. Sie hat keinen Kommentar zu den Angriffen Erdogans auf die Kurden in Syrien. Sie äußert sich nicht zu den Verbindungen der Türkei mit der Terror-Miliz IS. Die Türkei hat einen außenpolitischen Freibrief und setzt als Nato-Mitglied nun offenbar auch die moralischen Standards des Militär-Bündnisses.

So ist der Verfall nicht mehr aufzuhalten: Die Bundesregierung hat sich kurzerhand als nicht mehr zuständig in Fragen der Menschenrechte erklärt: Thomas de Maizière der sagte der Passauer Neuen Presse mit Blick auf den innenpolitischen Kurs des türkischen Präsidenten: «Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein.» Das Interview wurde natürlich vor dem Angriff auf die Zaman geführt. Doch das Mindeste, was man von de Maizière hätte erwarten können, ist, dass er diese Aussage nach dem Sturm auf die Zaman in einem gesonderten Statement zurücknimmt.

Stattdessen bietet ein weiterer Merkel-Vertrauter der Türkei 7 Milliarden Euro pro Jahr (!) aus europäischen Steuergeldern, damit sie der EU die Flüchtlinge und Migranten vom Hals hält. Was mit diesen Menschen in einem offenkundig autoritären Staat geschieht, braucht uns offenbar nicht zu interessieren. Auch hier gilt offenbar: «Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein.»

Diese Einstellung rückte verbale Proteste gegen den Sturm auf die Zaman in den Bereich der Belletristik: Norbert Röttgen kritisierte die türkische Regierung immerhin und sagte, die Regierung in Ankara wünsche sich «das Schweigen Europas zu der Verletzung von Menschenrechten. Der Schein trügt und Europa wird nicht schweigen, und die Repression in der Türkei wird dauerhaft keinen Erfolg haben.»

Doch im Fall der Menschenrechte ist die Zukunft irrelevant. Hier zählt die Gegenwart, weil Menschen konkret zu Schaden kommen. Amnesty International schildert die Realität im aktuellen Jahresbericht, der unter anderem auf die schweren Kämpfe zwischen türkischen Sicherheitskräften und kurdischen Rebellen eingeht. Demnach häuften sich Fälle von «exzessiver Polizeigewalt» und Misshandlungen in Gewahrsam.

Kritisch sieht Amnesty auch das Vorgehen der türkischen Behörden infolge des Aktionsplans, den Ankara zur Begrenzung des Flüchtlingsandrangs mit der EU geschlossen hat. So hätten nach der Vereinbarung willkürliche Festnahmen und Abschiebungen von Flüchtlingen zugenommen, heißt es.

Die Türkei hat rund 2,3 Millionen registrierte Flüchtlinge aus dem Nachbarland Syrien sowie weitere 250.000 Menschen unter anderem aus Afghanistan und dem Irak aufgenommen. Nach Angaben von Amnesty wurden im September 2015 mindestens 200 hauptsächlich syrische Flüchtlinge, die versucht hatten, nach Griechenland zu gelangen, an verschiedenen Orten in der Türkei ohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten, manche von ihnen in geheimen Gefängnissen.

Viele seien «unter eklatanter Verletzung des Völkerrechts genötigt» worden, ihrer Rückkehr nach Syrien und in den Irak zuzustimmen, erklärte die Menschenrechtsorganisation in ihrem Jahresbericht.

Laut Amnesty nahmen Berichte über «exzessive Gewaltanwendung» der türkischen Sicherheitskräfte bei Demonstrationen 2015 dramatisch zu. Tödliche Gewalt sei etwa bei bewaffneten Zusammenstößen mit der Jugendorganisation der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) eingesetzt worden.

Nachdem die Kämpfe zwischen der PKK und Regierungstruppen im Juli 2015 wieder begonnen hatten, gab es Amnesty zufolge eine «Welle von Festnahmen». Bis Ende August sollen rund 2000 Menschen wegen mutmaßlicher Verbindungen zur PKK festgenommen worden sein, heißt es in dem Jahresbericht, mehr als 260 kamen demnach in Untersuchungshaft.

Amnesty kritisiert weiter, Medien seien «beispiellosen Repressalien» ausgesetzt gewesen und die Meinungsfreiheit auch im Internet erheblich eingeschränkt worden. Die Regierung in Ankara ging demnach gezielt gegen Medienunternehmen und digitale Netzwerke vor und nahm einzelne kritische Journalisten ins Visier, diese seien bedroht und von häufig unbekannten Tätern körperlich angegriffen worden.

Journalisten von Massenmedien wurden laut Amnesty entlassen, wenn sie regierungskritische Berichte veröffentlichten. Nachrichtenseiten im Internet, darunter dutzende kurdische Websites, wurden demnach blockiert. Die Polizei habe Journalisten «schikaniert und attackiert», die über den vorwiegend kurdischen Südosten des Landes berichten wollten, erklärte die Menschenrechtsorganisation.

Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz sei weiter untergraben worden, monierte Amnesty. So seien 2015 erneut zahlreiche Richter und Staatsanwälte «politisch motiviert» ernannt oder versetzt worden.

Es habe «zahllose unfaire Strafverfahren» gegen politisch aktive Bürger, Journalisten und andere Regierungskritiker gegeben. Nach wie vor werde das Recht auf Versammlungsfreiheit verletzt. Die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen seien nur selten zur Rechenschaft gezogen worden, kritisierte die Organisation.

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