Politik

Die Europäer müssen die EU reformieren, sonst wird sie scheitern

Lesezeit: 5 min
21.06.2016 00:34
Ob die Briten für oder gegen den Austritt aus der EU stimmen, spielt im Grunde keine Rolle: Es wird sich für Großbritannien wie für die EU nur wenig ändern. Die Aufregung in Brüssel ist in erster Linie der Eitelkeit geschuldet: Der Brexit wäre eine Blamage - nicht mehr. Der größte Fehler, den die EU machen könnte, wäre weiterzumachen wie bisher.

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Großbritannien kann aus mehreren Gründen gelassen sein: Das Land ist nicht in der Euro-Zone. Das britische Pfund hat sich daher auch schon bisher unabhängig vom Euro entwickelt. Die Schwankungen werden auf jeden Fall zunehmen. Bleibt das Vereinigte Königreich in der EU, dürfte vorerst der Kurs steigen, bei einem Brexit ist mit einem Rückgang zu rechnen. Längerfristig wird aber die Schwäche der EU den Euro weiterhin drücken und die Flucht in die Nachbarwährungen, wie in den Schweizer Franken, in die Schwedische Krone und bei einem Brexit auch in das englische Pfund verstärken. Die Kurse diese Währungen befinden sich unter einem ständigen Aufwertungsdruck.

Die Sorgen, dass die Londoner City ihre Position als Weltfinanzzentrum verlieren könnte, wurden schon bei der Einführung des Euro geäußert. Zur Jahrtausendwende hoffte man in Paris und in Frankfurt, London vom Thron stoßen zu können. London ist unbestritten auf Platz 1 vor New York, Frankfurt rangiert im Global Financial Centres Index auf Platz 9, Paris unter „ferner liefen“. Daran wird sich auch bei einem Austritt aus der EU nichts ändern.

Großbritannien hat im Gegensatz zu den meisten EU-Staaten eine funktionsfähige Armee und spielt in der NATO eine entscheidende Rolle. Die NATO ist für die Sicherheit der EU entscheidend und nicht umgekehrt. Die Befürchtung, dass sich die Lage für die zu Großbritannien gehörende Mittelmeerhalbinsel Gibraltar durch einen Brexit ändern könnte, ist ebenfalls unbegründet.

Verschiedentlich wurde geäußert, dass durch der Brexit die Grenze zwischen dem zum Vereinigten Königreich gehörenden Nordirland und dem EU-treuen Irland zur Problemzone werden könnte. Diese Annahme ist schwer nachvollziehbar. Der ohnehin etwas brüchige Friede zwischen England und Irland ist nach dem jahrhundertelangen Blutvergießen ohne Zutun der EU erreicht worden.

Die britischen Argumente, die zur Forderung nach dem Austritt geführt haben, sind deckungsgleich mit der in der gesamten Union geäußerten Kritik an der EU.

Vor allem wird die Flut von Regulierungen abgelehnt, die alle Bereiche des Wirtschaftslebens lähmen. Betont wird, dass diese Tendenz seit der Finanzkrise 2008 extrem zugenommen hat: Die EU-Kommission hat umfangreiche Rechte bekommen, die sie zur Schaffung zahlloser Vorschriften nutzt, deren Umsetzung sie auch mit extrem hohen Strafen erzwingen kann. Das EU-Parlament und die im EU-Rat vertretenen Regierungen der Mitgliedsländer haben der EU-Kommission diese Macht eingeräumt, weil im Parlament und im Rat Entscheidungen oft jahrelang nicht zustande kommen. Nur: Die Sinnhaftigkeit zahlreicher Bestimmungen wird nicht nur in London in Frage gestellt, die Empörung, dass sich die Bürger gegen die vielfach als Schikanen empfunden Regeln nicht wehren könne, ist in der gesamten EU zu beobachten.

Kritisiert wird zudem, dass der viel zitierte Binnenmarkt nur mangelhaft entwickelt sei: Die angestrebte Freizügigkeit werde durch zahlreiche nationale Bestimmungen behindert, beklagt man in London. Mit diesem Ansatz befindet man sich ebenfalls in großer und guter Gesellschaft. Allerdings auch mit dem Widerspruch: Zum einen wird die Beseitigung der Behinderungen des freien Wirtschaftens gefordert, aber gleichzeitig die Stärkung der Souveränität der Mitgliedsländer verlangt. Die Problematik zeigt sich besonders bei der Besteuerung der Gewinne, die von den einzelnen Mitgliedstaaten autonom gestaltet wird und für größere Verwerfungen sorgt. Eine Vereinheitlichung wird vehement von Großbritannien abgelehnt. Da gilt der Satz „The inland revenue (die Einkommensteuer) is part of our identity.“

Von der Freizügigkeit, die das Kernelement des Binnenmarkts bildet, will man in London auch im Bereich des Arbeitsmarkts nichts wissen. Der Zuzug von Arbeitskräften aus den EU-Mitgliedstaaten im Osten soll nach den Wünschen der britischen Regierung bei Bedarf beschränkt werden. Tatsächlich haben die EU-Spitzen im Rahmen der Bemühungen, den Austritt Großbritanniens zu verhindern, schon Konzessionen zugestanden. Viele Unternehmen lehnen diese Entwicklung ab, weil sie ohne Zuwanderung zahlreiche Stellen nicht besetzen können. Auf der anderen Seite wird beklagt, dass mehrheitlich Personen nach Großbritannien streben, die nur eine geringe Qualifikation aufweisen. Die Abwehr „billiger Arbeitskräfte“ aus dem Osten ist ein in der EU weit verbreitetes Anliegen.

Die Errichtung von Zollmauern durch die verbleibende EU nach einem Brexit würde vor allem der EU schaden. Die britischen Exporte umfassten 2015 460 Milliarden US-Dollar, womit allerdings in den vergangenen fünf Jahren ein Rückgang um 11 Prozent hingenommen werden musste. Die Importe übertrafen mit 625 Milliarden US-Dollar die Exporte um 165 Milliarden US-Dollar, obwohl auch die Einfuhren in den vergangenen fünf Jahren um 12,8 Prozent gefallen sind.

Etwa die Hälfte des Handelsbilanzdefizits ergibt sich aus dem Handel mit den anderen EU-Staaten. Dieser Umstand wird üblicherweise als Wettbewerbsnachteil der britischen Wirtschaft beklagt, erweist sich aber in der Brexit-Debatte als Vorteil: Die Lieferanten aus den anderen EU-Staaten werden sich heftig gegen den Aufbau von Handelsbarrieren gegenüber einem nicht mehr EU-Mitglied Großbritannien wehren, da niemand diesen Absatzmarkt verlieren möchte. Die britische Exportwirtschaft, die zu mehr als 50 Prozent von Lieferungen nach Kontinentaleuropa abhängt, wird daher von sich aus gar nicht so laut protestieren müssen, wenn etwa in der EU daran gedacht wird, gegenüber dem abtrünnigen Land Zollmauern zu errichten.

Man wird sich sehr rasch der bilateralen Verträge mit der Schweiz und der Vereinbarungen mit Norwegen, Island und Liechtenstein im Rahmen des „Europäischen Wirtschaftsraums - EWR“ erinnern. Die Freihandelsregelungen des EWR sind im Zusammenhang mit Großbritannien von besonderer Bedeutung. Der EWR verband ursprünglich die Mitglieder der Freihandelszone EFTA, zu der auch Großbritannien vor dem EU-Beitritt im Jahr 1973 gehörte, in einer offenen Konstruktion mit der EU. Da aber die meisten EFTA-Staaten EU-Mitglieder wurden, spielte der EWR in der Folge keine besondere Rolle mehr. Die Schweiz als ehemaliges EFTA-Mitglied wurde zudem auch nicht Mitglied des EWR. Nun könnte der EWR im Falle des Brexit eine Renaissance erleben.

Die Zeichen stehen auf Beschwichtigung. Vorerst hofft man in Brüssel, dass die Briten für einen Verbleib in der EU votieren. Ist dies der Fall, bricht in Brüssel Jubel aus. Kommt es zum Brexit, wird man sich rasch um ein Arrangement bemühen und hoffen, dass keine Nachahmer die Gemeinschaft verlassen.

Vor allem ist aber erschreckenderweise nicht damit zu rechnen, dass die EU reagiert: Die Kritik aus London ist ein Weckruf, der deutlich macht, dass die Gemeinschaft in ihrer bisherigen Form scheitern muss. Derzeit wird scheinbar immer mehr Macht in Brüssel konzentriert, ohne dass die EU-Kommission zu einer tatsächlichen europäischen Regierung ausgebaut wird und eine europäische Politik betreiben kann. Somit beschränkt sich diese vermeintliche Macht darauf, Vorschriften zu produzieren und durchzusetzen, die Europa lähmen und die Mitgliedstaaten in der Entwicklung eigener Strategien behindern. Dies gilt für alle 28 Mitgliedstaaten und im Besonderen für die 19 Euro-Staaten.

Die „Gemeinschaft sui generis“ stellt sich ständig selbst in Frage. Folglich muss innerhalb der EU endlich eine Entscheidung fallen: Handelt es sich um einen Staatenbund, dann muss, wie das die Brexit-Anhänger fordern, die Souveränität der Mitgliedstaaten gestärkt und die Macht der EU-Kommission, aber auch des EU-Parlaments abgebaut werden. Dann reduziert sich die EU auf eine Freihandelszone unabhängiger Staaten. Oder: Man bekennt sich zur Union, dann wird die EU zu einem Bundesstaat nach dem Vorbild der USA, Deutschlands oder Österreichs mit einer Zentralregierung und genau abgegrenzten Aufgaben der Mitgliedstaaten.

Zwei Thesen haben sich endgültig als falsch erwiesen:

  • Die EU kann nicht als Gemeinschaft „sui generis“ – eigenen Wesens – existieren und weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat sein. Genau dieser Balance-Akt wird aber versucht.
  • Die EU entwickelt sich nicht, wie das oft behauptet wurde, von allein, organisch, schrittweise zu einem integrierten Europa. Im Gegenteil. Je größer der zeitliche Abstand zum Gründungsakt der Europäischen Gemeinschaft im März 1957 in Rom wird, umso stärker wächst die Tendenz zur Desintegration. Dies hat sich überdeutlich in den vergangenen Monaten nicht nur an der Brexit-Debatte gezeigt. Die Union war auch nicht in der Lage eine gemeinsame Lösung in der Flüchtlingsfrage zu finden.

Der Nationalismus, also die Desintegration ist auf dem Vormarsch und kann nur gestoppt werden, wenn den Bürgern eine klare, nachvollziehbare Struktur präsentiert wird, in der sich jeder wiederfindet. Eine Gemeinschaft, die eine lateinische Leerformel wie „sui generis“ – eigenen Wesens – als Grundlage hat, stellt sich selbst ständig in Frage.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF. 

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Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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