Die Europäische Union, oder EWG nach früherer Bezeichnung, war einmal das Versprechen dauerhaften Wohlstands in Nord und Süd, Ost und West. Die Nivellierung der Unterschiede war ein wichtiges Motiv. Dann kam der Euro mit denselben Versprechungen, nur noch etwas lauter. Tatsächlich wuchsen dann die ärmeren Regionen schneller als die reichen. Doch das Wachstum war auf Pump, nachdem sich im Schatten des Euro die Zinssätze für Kredite total nach unten angeglichen hatten und die Banken im Norden das dortige Sparkapital nach Süden transferierten. Dennoch sah die Politik das Versprechen gleichmäßigen Wohlstands schon auf dem besten Wege der Einlösung.
Was weniger bemerkt wurde: Die ärmeren Länder des Südens, die eine Tradition wiederholter Währungsabwertungen hatten, um ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Märkten zu behaupten, waren nun an den Einheitsaußenkurs des Euros gefesselt und der nahm auf ihre Wettbewerbsschwäche sehr wenig Rücksicht, da er vom exportstarken Norden, besonders von Deutschlands enormen Exportüberschüssen, hochgehalten wurde. Mit der internationalen Finanzkrise verschwand plötzlich das Wachstum auf Pump und drehte sich der Angleichungstrend um. Der Euro macht nun alles schlimmer, weil der Wachstumspfad durch Abwertung für den kriselnden Süden versperrt ist und weil ohne Abwertung eigentlich notwendige Strukturreformen noch weniger durchführbar sind. Das Ergebnis ist eine Dauerkrise im Süden der EU mit unerträglich hoher Arbeitslosigkeit und wenig Aussicht auf Besserung. Damit stellt sich die Frage, wie lange die Krisenländer den Euro aushalten können. Wie viel Armut verträgt Europa und der Euro?
Die Perspektiven werden zusätzlich verdunkelt, weil das Wirtschaftswachstum in der gesamten Welt viel schwächer als früher ist (Abb. 18752). Im neuen Weltwirtschaftsausblick warnt der Internationale Währungsfonds (IWF) vor einer dauerhaften Weltwachstumskrise. Die Wachstumsmöglichkeiten hätten sowohl in den reichen Ländern als auch in aufstrebenden Ländern abgenommen und drückten die tatsächlichen Wachstumsraten. Längerfristig rechnet der IWF bei den Industrieländern mit einer nur leichten Zunahme beim Potenzialwachstum von jährlich durchschnittlich 1,3 Prozent im Zeitraum 2008 bis 2014 auf 1,6 Prozent in der Periode 2015 bis 2020. Das liegt deutlich unter den 2,25 Prozent, die noch in den Jahren 2001 bis 2007 ermittelt worden waren. In den Schwellenländern soll nach IWF-Prognose das Potenzialwachstum von im Durchschnitt 6,5 Prozent im Jahr in der Periode 2008 bis 2014 auf nur noch 5,2 Prozent in 2015 bis 2020 zurückgehen.
Im Auftrag des Europäischen Parlaments haben die Ökonomen Zsolt Darvas und Olga Tschekassin vom Bruegel Institut im vergangenen Herbst in einer Studie untersucht, wie sich das Leben der Menschen in Griechenland und anderen Staaten der Europäischen Union durch die Schuldenkrise verändert hat. Die Zahlen kamen von der Europäischen Statistikbehörde Eurostat. Die untersucht jedes Jahr mit Umfragen, wie viele Menschen in Europa in Armut und sozial ausgegrenzt leben. Nach der Definition von Eurostat trifft das auf Menschen zu, wenn sie mindestens vier von insgesamt neun Armutskriterien erfüllt. Die Kriterien decken Grundbedürfnisse ab, etwa, ob jemand seine Miete bezahlen, seine Wohnung ausreichend heizen und genügend Proteine zu sich nehmen kann, ob er oder sie mindestens eine Woche pro Jahr in den Urlaub fahren kann oder ein Telefon besitzt.
Nach dieser Definition leben in der EU 123 Millionen Menschen oder rund 24,5 Prozent in Armut und sozialer Ausgrenzung. Die Quote ist seit fast zehn Jahren nahezu stabil und hat sich auch während der Wirtschaftskrise nur leicht verändert; sie lag 2005 bereits bei 25,7 Prozent. Doch verbirgt der Wert für die EU, wie negativ sich das Bild in Südeuropa - auch als Folge der Einsparungen in den Staatshaushalten - entwickelt hat und wie viel größer dort die Armut geworden ist. In Spanien gelten inzwischen 12,6 Millionen Menschen als arm oder sozial ausgegrenzt, mehr als 2,2 Millionen mehr als noch 2007. In Italien ist diese Zahl allein in drei Jahren um 2,7 Millionen auf 17,3 Millionen gestiegen und in Griechenland ist sie in nur drei Jahren Krise um fast eine Million auf 3,9 Millionen hochgesprungen. Über 36 Prozent der Griechen gelten inzwischen als arm oder sozial ausgegrenzt (Abb. 18741).
Vor allem die Zahl der unter-18-Jährigen Armen und sozial Ausgegrenzten ist in Griechenland (über 38 Prozent!), Spanien, Italien und Zypern deutlich gestiegen - und parallel dazu die Jugendarbeitslosigkeit (Abb. 18753) - und schafft das Risiko einer "verlorenen Generation" (Abb. 18742).
Der Anteil der Kinder, die in Haushalten aufwachsen, in denen kein Elternteil arbeitet, hat sich in Spanien und Italien seit 2008 ungefähr verdoppelt und in Griechenland mehr als verdreifacht (Abb. 18744). Dabei haben Kinder, deren Eltern arbeitslos sind, ein höheres Risiko, später selber arbeitslos zu werden und generell ein niedriges Bildungsniveau erreichen.
Zwischen 2008 und 2013 hat die EU schon 3,5 Millionen Arbeitsplätze verloren (Abb. 18745).
Die Studie soll in der Intention der politischen Auftraggeber nicht zuletzt die von Deutschland und anderen Nord-Ländern geforderte Sparpolitik für den Aufwuchs an Armut im Süden verantwortlich machen. Doch sie zeigt gerade mit der Situation der Bezahlung im öffentlichen Dienst, wie sehr dieser in den Krisenländern nicht nur überbesetzt (vor allem im Vergleich zu Deutschland, Abb. 15798), sondern verglichen mit der übrigen Wirtschaft des jeweiligen Landes auch überentlohnt ist (Abb. 18743). Eine andere Grafik in der Studie zeigt, wie überbesetzt beispielsweise in Griechenland und Spanien das Apothekergewerbe ist und wie dies die Gesundheitskosten hochtreiben muß (Abb. 18746). Deutlicher hätte man die Einspar- und Reformnotwendigkeiten in diesen Sektoren kaum vorführen können. Auch erwähnt die Studie mit keinem Wort die wegen der Bindung an den Euro fehlende Wettbewerbsfähigkeit der Krisenländer, die hauptverantwortlich für die Arbeitslosigkeit gemacht werden sollte.
Es dürfte vermutet werden müssen, daß ein solches Ausmaß an beständiger Armut nicht dauerhaft verkraftbar ist, ohne daß die Kohärenz der Gesellschaften schwer beschädigt wird und Unruhen zu erwarten sind.
Joachim Jahnke, geboren 1939, promovierte in Rechts- und Staatswissenschaften mit Anschluss-Studium an französischer Verwaltungshochschule (ENA), Mitarbeit im Kabinett Vizepräsident EU-Kommission, Bundeswirtschaftsministerium zuletzt als Ministerialdirigent und Stellvertretender Leiter der Außenwirtschaftsabteilung. Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London, zuletzt bis Ende 2002 als Mitglied des Vorstands und Stellvertretender Präsident. Seit 2005 Herausgeber des „Infoportals“ mit kritischen Analysen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung (globalisierungskritisch). Autor von 10 Büchern zu diesem Thema, davon zuletzt „Euro – Die unmöglich Währung“, „Ich sage nur China ..“ und „Es war einmal eine Soziale Marktwirtschaft“. Seine gesellschaftskritischen Analysen beruhen auf fundierter und langjähriger Insider-Erfahrung.
Sein Buch über das Ende der sozialen Marktwirtschaft (275 Seiten mit 176 grafischen Darstellungen) kann unter der ISBN 9783735715401 überall im Buch- und Versandhandel für 15,50 Euro bestellt werden, bei Amazon hier.