Von Karl Marx stammt der Satz: Geschichte wiederholt sich – entweder als Tragödie oder als Farce. Die Tragödie fand am Wochenende in Brüssel statt: Der griechische Premier kapitulierte, weil seine Regierung keine Vorbereitungen für des Euro-Crash in Griechenland getroffen hatte. Am Mittwoch folgte im Parlament in Athen die Farce: Mit triefendem Pathos wurden alte Rechnungen beglichen und der Putsch durch die EU und durch Deutschland angeprangert.
Von all dem kann sich kein griechischer Bürger etwas kaufen. Der gescheiterte Finanzminister Yanis Varoufakis hatte seinem Volk versprochen, die Banken würden am Dienstag nach dem Referendum wieder öffnen. Tsipras hat einem Volk versprochen, die Banken würden nach Abschluss einer Vereinbarung mit der Troika wieder öffnen, er rechne mit einem Abschluss in einem Monat. Am Mittwoch hatte die EU-Kommission angekündigt, dass die Verhandlungen mindestens drei Monate dauern werden. Die Bild-Zeitung berichtet, dass die Bundesregierung weiter „heimlich“ an einem Grexit arbeite. In diesem Fall werden die Banken nach Einschätzung einer griechischen Bankers möglicherweise überhaupt nie mehr öffnen.
Konfrontiert mit der Gefahr einer akuten Liquiditätskrise wäre das griechische Parlament verpflichtet gewesen, eigene Prioritäten zu setzen. Es hätte darüber diskutieren müssen, wie es die EZB dazu bringen kann, ihren Pflichten anzukommen: Bloomberg meldet, dass die EZB die ELA-Kredite nur schrittweise erhöhen wird - auch wenn sich Athen unterwirft.
Hier geht es um eine unmittelbare Bedrohung. Tsipras hat sich mit Wirtschafts-Professoren umgeben: Die hätten ihm längst den Unterschied zwischen Liquidität und Solvenz erklären können. Auch ein gedemütigtes Land hat Rechte in der Euro-Zone. Die Regierenden brauchen allerdings ein Minimum an Sachverstand, um diese Rechte auch geltend machen zu können.
Statt lächerliche Fragen über abtrünnige Abgeordnete zu führen, hätte Tsipras einen Plan A und einen Plan B vorlegen und implementieren müssen, wie er verhindert, dass tausende Unternehmen zerstört und die Spareinlagen von Millionen Griechen ausgelöscht werden. Diese Gefahr ist real. Es ist gespenstisch zu beobachten, dass niemand diese Katastrophe kommen sieht.
Regierungen und Parlamente sind dazu da, von der Gemeinschaft Schaden abzuwenden und für eine gerechte Ordnung zu sorgen. Sie sind das Gegen-Programm zu Anarchie und Chaos. In der Euro-Zone herrscht längst die von oben betriebene Anarchie. In Griechenland wird das Chaos folgen.
Das Parlament in Athen hat sich nicht im Ansatz mit dem oktroyierten Troika-Programm beschäftigt. Es gab keine Debatte. Man kann davon ausgehen, dass die Abgeordneten die Gesetze nicht gelesen haben. Das kennen wir vom Deutschen Bundestag: Als der ESM beschlossen wurde, wussten die meisten Abgeordneten nicht, dass sie mit dem ESM entmachtet wurden. Nun soll der ESM zur Bad Bank der Euro-Zone umfunktioniert werden, damit Griechenland seine Kredite beim IWF und bei der EZB bedienen kann.
Hätten sich die Abgeordneten in Athen mit den Gesetzen beschäftigt, die sie jetzt verabschiedet haben, hätten sie ablehnen müssen. Und zwar aus formalen Gründen: Ein Parlament, das Gesetze vollzieht, die ihm von außen auferlegt werden, und die nachweislich noch mehr Schaden anrichten werden, ist keine Volksvertretung mehr, sondern ein Vollzugsorgan. Das Parlament hätte das Gesetz auch aus inhaltlichen Gründen ablehnen müssen: Dem Volk wird noch mehr Schaden zugefügt, weil die Forderungen der Gläubiger nichts anderes sind als die Fortsetzung eines gescheiterten Austeritätsprogramms. Die bisherigen Programme haben die Schulden in die Höhe getrieben und die Wirtschaft in die Knie gezwungen. Um solche Gesetze zu beschließen, braucht man keine Demokratie. Das geht in einer Diktatur viel besser.
Das griechische Parlament hätte auch aus prinzipiellen Gründen ablehnen müssen: Athen hat nichts in der Hand außer vagen Versprechungen seitens der EU. Spanien hat überraschend angekündigt, über den dritten Griechen-Bailout abstimmen zu lassen. Wenn die antideutsche Stimmung in Spanien weiter hochkocht und Mariano Rajoy zu der Erkenntnis gelangt, dass es opportun ist, dieser Stimmung nachzugeben und das Parlament in Madrid den Deal ablehnt, dann ist die 85 Prozent-Hürde gefallen, die nötig ist, um ein ESM-Programm zu genehmigen. Dann stehen die Griechen mit leeren Händen da und müssen die Steuererhöhungen und Rentenkürzungen durchsetzen, ohne Kredite zu bekommen.
Der slowakische Finanzminister Peter Kazimir hat nach dem Gipfel von Brüssel geschrieben: „Der Griechenland-Kompromiss, den wir heute morgen erreicht haben, ist hart für Athen, weil er das Resultat von ihrem ,Griechischen Frühling‘ ist.“ Gemeint ist die Tatsache, dass sich die Griechen erdreistet haben, eine andere Partei zu wählen als jene Parteien, die das Land seit Jahrzehnten in Grund und Boden gewirtschaftet haben. Frances Coppola hat auf dieses Eingeständnis auf Forbes kommentiert: „Als Europäerin schäme ich dafür, was getan wurde. Die Eurozone hat sich mehrere Schritte in Richtung des Totalitarismus bewegt.“
Es werden weitere Schritte folgen: Die Parlamente sind zu Farce geworden. Die Parteienherrschaft ist ungebrochen. Die Syriza hat den Wählern noch vor einer Woche geraten, gegen die Austerität zu stimmen. Nun stimmt ein ganzes Parlament gegen 60 Prozent der gesamten Wählerschaft eines Landes und tut exakt das Gegenteil dessen, was die Leute wollen. Der Deutsche Bundestag wird irgendeiner Erklärung zustimmen, von der kein Abgeordneter mehr überprüft, ob er damit anderen schadet: Den deutschen Steuerzahlern, weil sie weitere 80 Milliarden Euro ins Feuer jagen. Den Griechen, weil sie die Austerität ins die Verelendung schickt. Der europäischen Idee, weil die Euro-Zone zur Kampfzone der Völker gegeneinander degeneriert.
Auf diese Entwicklung haben die Rechtsextremen gewartet: Viele Beobachter in Griechenland erwarten ein Erstarken der Neo-Nazi-Partei Goldene Morgenröte. Die Selbstausschaltung spielt ihr in die Hände. In Frankreich braucht der Front National keinen Wahlkampf mehr zu führen. Wenn die Demokratie zur Diktatur mutiert, geschieht dies meist schleichend: Am Ende laufen die Verzweifelten, Hoffnungslosen und Gedemütigten zu jenen, die ihnen das Morgenrot einer ganz anderen Welt versprechen. Die Nazis haben das Parlament mit dem Begriff „Quatschbude“ diskreditiert.
Das gescheiterte Parlament war das Resultat einer gescheiterten Wirtschafts- und Geldpolitik. In den 1920er Jahren war das in Deutschland die Hyperinflation. 2015 wird in Griechenland die Auslöschung der Spareinlagen und die Zerstörung der Wirtschaft eine ähnliche Wirkung haben. Die Rechtsextremen brauchen nur zu warten: Irgendwann öffnet sich die geballte Faust und macht das Kreuzchen am Stimmzettel dort, wo die überzeugten Totalitären es haben wollen. Die Geschichte wiederholt sich. Nach der Farce ist wieder die Tragödie dran. Wir lernen nichts aus der Geschichte.