Das Ausbeuten von Arbeitern beschränkt sich beim IT-Riesen Amazon nicht nur auf die berüchtigten Arbeitsverhältnisse der Lagerarbeiter in den großen Logistik-Zentren. Vielmehr hat das Experimentieren, wie weit über die Grenzen man Mitarbeiter mittels permanenter Zeit-Überwachung und Leistungskontrolle treiben kann bei dem Konzern offenbar auch in der Firmenzentrale Methode. Auch die Projektmitarbeiter und Entwickler in Seattle stehen unter enormem Effizienz-Druck, so ein aktueller Bericht der NYT.
Mehr als 100 aktuelle und frühere Mitarbeiter haben in Interviews über die Arbeitsbedingungen berichtet. Mitglieder der Führungsebene erleben demnach dieselben Zustände wie Chefs der Personalabteilung, Marketing-Leute, Verkaufs-Spezialisten und Ingenieure. „Ich habe fast jeden meiner Kollegen an seinem Schreibtisch weinen sehen“, zitiert die NYT einen Marketing-Mitarbeiter namens Bo Olson.
Amazon habe schnell erkannt, dass sich individuelle Performance durch die richtige Datenüberwachung permanent messen und bewerten lässt. Durch die enormen Datenmengen sei der Konzern die Speerspitze dessen, was Technologie aus modernen Büros macht: Flinker und produktiver, aber auch rauer und unerbittlicher, so die NYT.
Amazon verfügt bei der Überwachung der Mitarbeiter-Leistung über einen starken Hebel: Der endlose Fluss ultradetaillierter Echtzeit-Daten ermöglicht dem Unternehmen, fast alles was seine Kunden tun zu messen – und damit den Erfolg der Mitarbeiter zu bewerten: Die Daten können Ihnen nicht nur sagen, was Kunden Einkaufswagen setzen, sondern auch, wenn etwa Ingenieure Seiten bauen, die nicht schnell genug laden.
Doch nicht nur die Daten geben Aufschluss über die Performance der Mitarbeiter. Diese werden demnach zusätzlich angehalten, sich gegenseitig möglichst heftig zu kritisieren und sich gegenseitig zu denunzieren.
Ein besonders kritisiertes Mittel ist dabei das interne Programm „Anytime Feedback“, ein Werkzeug mit der alle Mitarbeiter dazu angehalten werden, sich per Mausklick jederzeit gegenseitig zu bewerten – oder bei ihrem Chef anzuschwärzen. Das Programm enthält laut NYT Beispielsätze wie „ich war besorgt über seine mangelnde Flexibilität und seine offenen Beschwerden selbst über kleinste Aufgaben“.
Ein Amazon-Sprecher verteidigte das Denunzier-Werkzeug als zusätzlichen Weg für Feedback. Die meisten Kommentare seien demnach positiv.
Hingegen bezeichneten viele Mitarbeiter das Werkzeug vielmehr als Quell von Intrigen und üblen Machenschaften. Sie beschrieben heimliche Pakte mit Kollegen, um eine bestimmte Person gemeinsam zu „begraben“, oder um sich gegenseitig großzügig zu loben.
Viele Mitarbeiter fühlten sich demnach durch negative Kommentare von nicht identifizierten Kollegen sabotiert. In einigen Fällen würde die Kritik sogar direkt in die Leistungsbeurteilungen kopiert. Zahlreiche Anekdoten über so entstandene negative Bewertungen nach Krankheiten oder Fehlgeburten zeichnen in dem Bericht das Bild eines Unternehmens, indem es eine große Schwäche darstellt, keine 80 Stunden-Wochen zu schaffen - ob wegen Krebs, Familie oder was auch immer spiele dabei keine Rolle.
Si soll eine Mitarbeiterin etwa am Tag nach einer Fehlgeburt von ihrem Chef zu einer Geschäftsreise gedrängt worden sein, weil „die Arbeit trotzdem erledigt werden muss“. In einem anderen Fall haben Kollegen eine frisch gebackene Mutter so lange angeschwärzt, weil sie früher als andere nach Hause gehe, bis sie auf die interne Abschussliste kam. Die Bosse wissen, wer die Kommentare sendet, sagen den Betroffenen in der Regel jedoch nicht von wem sie stammen.
Das Denunzier-Tool ist auch deshalb besonders heikel, da es mit einem System einhergeht, bei dem es jährliche Entlassungs-Quoten zu erfüllen gilt: Allen Teammitgliedern ist ein Rang zugeordnet - und jedes Jahr werden diejenigen am unteren Ende der Hackordnung „beseitigt“. Daher ist es zu jeder Zeit im Interesse aller Beteiligten, alle anderen zu übertreffen - jeder gegen jeden.
Das System führt zu enormen Fluktuationsraten: Im Schnitt bleiben die Mitarbeiter nur rund ein Jahr bei Amazon, was zu einem jährlich steigenden Bedarf an neuen Mitarbeitern führt: Allein 4500 offene Stellen gebe es derzeit in Seattle.
Geht es nach Amazon-Chef Jeff Bezos, gibt es das Denunzier-Werkzeug bald in vielen weiteren Büros. Er ist einer der ersten Investoren eines Personalsoftwareunternehmen namens Workday , das ein ähnliches Produkt namens Collaborative Anytime Feedback herstellt. Ihr Versprechen: Die jährliche Leistungsbeurteilung in ein tagtägliches Ereignis verwandeln.
Gleichzeitig zeigt sich Bezos in einer Mail an die Mitarbeiter über den Artikel der NYT entrüstet: Das sei nicht der Konzern, den er kennt: Sollte es tatsächlich solche Vorfälle geben wie in dem Artikel berichtet, so mögen die Mitarbeiter dies bitte künftig umgehend bei Bezos persönlich petzen melden.
Video unten: Eine Mitarbeiterin in einem Anwerbe-Video für Amazon: „Entweder passt du hier rein oder eben nicht“: