Politik

Deutschland befindet sich in der größten Rentenkrise seit dem Zweiten Weltkrieg

Hinter dem Fachkräftemangel wächst eine Rentenlücke, die Deutschlands Wohlstand und Europas Stabilität bedroht. Ein Topökonom warnt vor der größten Pensionskrise seit dem Zweiten Weltkrieg und erklärt, warum das System ohne rasche Reformen kippen kann.
22.12.2025 10:00
Aktualisiert: 22.12.2025 11:00
Lesezeit: 8 min
Deutschland befindet sich in der größten Rentenkrise seit dem Zweiten Weltkrieg
Rentenkrise in Deutschland: Warum die nächste Generation zahlen soll. (Foto: dpa) Foto: Kay Nietfeld

Fachkräftemangel als Symptom einer historischen Schieflage

Es dauert nicht lange, wenn man durch Berlins Straßen geht, bis es sichtbar wird. In den Fenstern von Cafés und Geschäften hängen kleine Schilder mit den Worten: „Mitarbeiter gesucht.“ Und diese Schilder stehen für etwas ausgesprochen Ernstes. Deutschland geht die Zahl der arbeitsfähigen Hände aus. Europa kämpft in diesen Jahren mit einer rasch alternden Bevölkerung, die den Arbeitsmarkt schneller verlässt, als neue Arbeitskräfte nachrücken. Deutschland gehört zu den Ländern, die davon am stärksten betroffen sind. Nach offiziellen Statistiken wird im Jahr 2036 ein Drittel aller heute beschäftigten Deutschen im Ruhestand sein. Das hat gravierende Folgen für Europas größte Volkswirtschaft und für Dänemarks engsten Partner.

Einer, der diese Entwicklung eng begleitet, ist Jörg Asmussen. Der frühere Staatssekretär im deutschen Finanzministerium und ehemalige Direktor im EZB-Direktorium unter Mario Draghi ist heute Hauptgeschäftsführer des GDV, der Deutschlands 460 Renten und Versicherungsunternehmen vertritt. In seinem Büro im Berliner Finanzviertel sprechen unsere Bonnier-Kollegen vom dänischen Wirtschaftsportal Borsen mit Jörg Asmussen über das wachsende schwarze Loch, zu dem Deutschlands und Europas Rentensysteme geworden sind. „Deutschland hat eine der am schnellsten alternden Bevölkerungen Europas, und diese Entwicklung setzt sich fort. Das setzt das Rentensystem, das Gesundheitswesen, aber auch den Arbeitsmarkt und die deutsche Wirtschaft insgesamt stark unter Druck“, sagt er.

Größte Belastungsprobe seit dem Zweiten Weltkrieg

Der Anspruch auf Rente ist seit Jahrzehnten ein Grundpfeiler europäischer Politik. Er ist in einem Ausmaß verankert, dass er sogar in der Säule sozialer Rechte der EU festgeschrieben ist. In sehr vielen europäischen Ländern macht die staatliche Rente den weitaus größten Teil des Einkommens älterer Bürger aus. Das zeigen Zahlen der OECD. Auch wenn die Systeme von Land zu Land unterschiedlich sind, teilen sie eine zentrale Herausforderung. Eine alternde Bevölkerung macht es zunehmend schwieriger, die Rentenrechnung aufgehen zu lassen. Neben Deutschland ist das in Ländern wie Frankreich, Italien, Österreich und Spanien spürbar.

Anders in Dänemark: Seit der Schlüter-Regierung in den späten achtziger Jahren gibt es in Dänemark die Tradition, fürs Alter über betriebliche Altersvorsorge zu sparen. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen dabei jeden Monat einen Betrag ein. „Wir können nicht dauerhaft auf einem Bein stehen, das staatliche Rente heißt. Das ist schlicht nicht tragfähig“, sagt Jörg Asmussen, Hauptgeschäftsführer, GDV. Viele ergänzen zudem mit eigenen Ersparnissen und Aktiendepots. Gleichzeitig wurde das Renteneintrittsalter fortlaufend erhöht, im Gleichschritt mit steigender Lebenserwartung und wachsender Zahl Älterer. Aus diesem Grund wird Dänemark immer wieder als eines der Länder mit den besten Rentensystemen der Welt bewertet. Deutschland landete in der jüngsten Messung des Mercer Institute dagegen auf einem ernüchternden 21. Platz.

Hauptgrund ist, dass die Deutschen sich fast ausschließlich auf die staatliche Rente verlassen statt auf private Vorsorge. Wenn die Erwerbsbevölkerung schrumpft und die Zahl der Rentner wächst, wird es schwierig, die Rechnung zu schließen. Im Jahr 1960 kam in Deutschland etwa ein Rentner auf sechs Erwerbstätige. Heute sind es nur noch rund zwei Erwerbstätige je Rentner. Das bedeutet auch, dass ein Drittel der Steuereinnahmen des Landes dafür verwendet werden muss, das wachsende Loch im deutschen Rentensystem zu stopfen.

Hinzu kommt, dass die deutsche Wirtschaft seit mehreren Jahren Gegenwind hat. Nach dem Verlust billiger russischer Energie und durch wachsenden Druck chinesischer Wettbewerber hat Deutschland sowohl in der Auto- als auch in der Maschinenbauindustrie Terrain verloren. Beide Branchen waren lange das Rückgrat des deutschen Exports. Zusammen erzeugt das massiven Druck auf Europas größte Volkswirtschaft. Und auf das weltweit älteste Rentensystem, das Kriege und Krisen überstanden hat, das aber nun vor seiner größten Belastungsprobe seit dem Zweiten Weltkrieg steht, so Jörg Asmussen. „Historisch lag der Fokus immer stark auf der staatlichen Rente statt auf privater Vorsorge. Aber mit den demografischen Aussichten, die wir sehen, wäre es sehr riskant zu glauben, dass wir uns weiter auf das Öffentliche stützen können“, sagt er.

Jeder Fünfte im Risiko von Altersarmut

Dass die Deutschen nicht in ähnlichem Maß wie die Dänen fürs Alter sparen, hängt laut Jörg Asmussen auch damit zusammen, dass betriebliche Altersvorsorge deutlich weniger verbreitet ist als in Dänemark, wo sie fester Bestandteil von Tarifverträgen ist. Es hängt jedoch in hohem Maß auch mit fehlendem Wissen und mangelndem finanziellen Spielraum zusammen. „Erstens gibt es eine Gruppe in der Gesellschaft, die sich schlicht nicht leisten kann zu sparen“, sagt Jörg Asmussen und fährt fort: „Zweitens gibt es viele, die eigentlich sparen könnten, aber nicht wissen, dass sie es tun sollten. In Deutschland ist das finanzielle Verständnis sehr gering, und viele glauben fälschlich, dass die staatliche Rente ihrem bisherigen Einkommen entspricht.“

Neue Zahlen der deutschen Rentenversicherung zeigen, dass 61 Prozent der Rentner in Deutschland weniger als 1.200 Euro pro Monat ausbezahlt bekommen. Inflation und steigende Ausgaben haben die Lage nicht verbessert. 2024 lebte jeder fünfte Deutsche über 65 Jahre in einem Risiko von Armut. Das zeigen Zahlen von Eurostat. Und es wird erwartet, dass dieser Anteil weiter wächst. Vergleichbare Zahlen für Dänemark zeigen, dass dort jeder neunte Ältere im Risiko lebte, in Armut zu geraten.

Die Entwicklung trifft besonders Frauen, weil Rentenmodelle historisch an Deutschlands schwere Industrie gekoppelt waren, in der weniger Frauen arbeiten. In den Sektoren, die heute in Deutschland wachsen, insbesondere im Dienstleistungs- und Gesundheitssektor, in dem viele Frauen arbeiten, ist betriebliche Altersvorsorge deutlich weniger verbreitet. Das bedeutet auch, dass zwar fast 50 Prozent der beschäftigten Deutschen irgendeine Form von betrieblicher Altersvorsorge haben, dass diese aber stark bei Beschäftigten in der Industrie konzentriert ist. Damit liegt sie überwiegend bei Männern. „Die Entwicklung ist in den letzten Jahren ins Stocken geraten. Und während Beschäftigung in Richtung Dienstleistungssektor wandert, in dem mehr Frauen arbeiten, wächst die Rentenlücke weiter“, sagt Asmussen.

Die Lage in Deutschland kann in vielerlei Hinsicht als Vorwarnung verstanden werden für das, was mehreren europäischen Ländern noch bevorsteht. Die deutsche Regierung hat es deshalb zu einer Priorität gemacht, das Land aus der eskalierenden Krise herauszuführen und ein Beispiel für andere Länder zu setzen. Doch die Rentendebatte ist politisches Minenfeld. Mehrere Machthaber in Europa haben sich bei ähnlichen Vorhaben bereits die Finger verbrannt. Ein viel diskutiertes Beispiel ist die Entscheidung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, das Rentenalter 2023 von 62 auf 64 Jahre anzuheben. Das löste massive Wut und einen historischen Massenstreik aus. Die neue französische Regierung zog den Vorschlag wieder zurück, schreibt The Economist.

In Deutschland ist jeder zweite Wähler über 50 Jahre alt. Kanzler Friedrich Merz steht deshalb auch in der Kritik, ältere Wähler zu bevorzugen. Er hat versprochen, nicht bei der staatlichen Rente zu kürzen und das Rentenalter nicht über die geplante Anhebung auf 67 Jahre bis 2029 hinaus zu erhöhen.

Erst vor zwei Wochen verabschiedete der Deutsche Bundestag ein neues Rentengesetz. Es hält das Rentenalter fest und garantiert, dass die durchschnittlichen Rentenzahlungen nicht unter 48 Prozent des Durchschnittslohns fallen. Das stößt auf scharfe Kritik von Ökonomen und jüngeren Generationen. Sie werfen der Regierung vor, die Rechnung an die nächste Generation weiterzureichen.

10 Euro Depot

Um mehr junge Menschen dazu zu bringen, mit der Altersvorsorge zu beginnen, plant die deutsche Regierung die Einführung eines sogenannten 10 Euro Rentendepots für Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren. Dabei erhalten Eltern 10 Euro im Monat vom Staat. Dieses Geld können sie im Namen ihrer Kinder in einen monatlichen Aktiensparplan investieren. Die Mittel sollen zweckgebunden bleiben, bis die Kinder das Rentenalter erreichen. Friedrich Merz stellte den Vorschlag im August in einem Video auf YouTube vor. In diesem Zusammenhang warnte er junge Menschen, im Alter auf die staatliche Rente zu setzen. „Die Idee ist gut, weil sie bei der jungen Generation ein größeres Bewusstsein dafür schafft, eine Rente zu verwalten. Aber 10 Euro reichen für sich genommen nicht aus. Es muss möglich sein, das mit zusätzlichen Beiträgen etwa von Familienmitgliedern zu ergänzen“, sagt Jörg Asmussen.

Deutschland ist allerdings ein konservatives Volk, das Sicherheit hoch bewertet, insbesondere finanzielle Sicherheit. Deshalb gibt es eine deutlich stärkere Tradition, Geld auf dem Sparbuch zu parken statt in Aktien. Das bremst auch die Verbreitung aktienbasierter Renten, wie eine neue Untersuchung des GDV feststellt. Das kann besonders ungünstig sein. Ein sehr großer Teil der Rente in Ländern wie Dänemark stammt aus den Erträgen der Investitionen, in die das Vermögen angelegt wird. Der Zins auf dem Bankkonto ist dagegen fast immer niedriger.

Nur ein Weg nach vorn

Nach Einschätzung von Jörg Asmussen gibt es einen klaren Weg aus Deutschlands Rentenkrise. Das Land muss weg von der Abhängigkeit von der staatlichen Rente. Es muss private Vorsorge und betriebliche Altersvorsorge deutlich stärker ausbauen, wie man es aus Dänemark kennt. Der GDV drängt daher auf die Ausweitung betrieblicher Altersvorsorge. Die Organisation verfolgt zudem gezielt das Ziel, über die Notwendigkeit privater Altersvorsorge aufzuklären.

Vor allem verlangt dies einen Bruch mit Gewohnheiten und Erwartungen in der deutschen Bevölkerung, meint Jörg Asmussen. Dänemark sei dabei ein naheliegender Orientierungspunkt. Eine Velliv Studie aus dem Jahr 2023 zeigt, dass knapp die Hälfte der Dänen daran zweifelt, ob die staatliche Rente 2030 überhaupt noch in ihrer heutigen Form existieren wird. Und das ist kein unvernünftiger Gedanke. „Für diejenigen, die ein bestimmtes Alter erreicht haben, wird es schwer, noch mit großem Sparen zu beginnen. Aber für die nächste Generation sind private Ersparnisse der Weg nach vorn. Wir können nicht dauerhaft auf einem Bein stehen, das staatliche Rente heißt. Das ist schlicht nicht tragfähig“, sagt Jörg Asmussen.

Deutschlands Rentenuhr tickt und die Politik schaut weg

Für Deutschland ist die Rentenfrage längst keine Randdebatte mehr, sondern ein Stabilitätsfaktor für den Arbeitsmarkt, für öffentliche Finanzen und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wenn die Zahl der Beitragszahler sinkt und die Zahl der Rentenbezieher steigt, verschärft sich der Zielkonflikt zwischen Leistungsversprechen und Finanzierbarkeit. Gleichzeitig erhöht der Fachkräftemangel den Druck auf Wachstum und Steueraufkommen. Das verstärkt das Risiko, dass Deutschland zum ökonomischen Engpassfaktor in Europa wird.

Die deutsche Rentenkrise ist Ergebnis von Demografie, Strukturwandel und politischer Vorsicht. Ohne breitere kapitalgedeckte Vorsorge und ohne mehr Erwerbsbeteiligung wird die Lücke größer. Der Vergleich mit Dänemark zeigt, dass Reformen möglich sind. Deutschland steht jedoch vor der Aufgabe, sie gegen den demografischen Zeitdruck und gegen die politische Logik einer älteren Wählerschaft durchzusetzen.

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