Wie der Rest der Welt, so schauen auch die Israelis auf die herzzerreißenden Bilder der an einen Strand in der Türkei angeschwemmten Leiche eines Flüchtlingsjungen, und auf jene Bilder von tausenden Menschen, die um ihr Leben rennen. Für die Israelis wirft das Geschehen jedoch einen ganz eigenen Zwiespalt auf. Nur einen Steinwurf von Israels nördlicher Grenze entfernt, spielt sich ein Teil des anhaltenden Dramas in Syrien ab. Das Land wird nun von IS, Al Kaida und anderen Terror-Organisationen beherrscht. Für die Israelis ist der Krieg dort spürbar: Sie können ihn hören, sie können ihn riechen und bisweilen finden auch ganz reale Geschosse ihren Weg auf israelischen Boden.
Doch damit nicht genug: Die Szenen im Fernsehen von panischen Menschenmassen, die sich aneinander festklammern, in Züge mit ungewissem Ziel gedrängt werden, die nach Wasser und Schutz flehen, erscheinen vielen Israelis schrecklich vertraut. Der Auslöser für diese Assoziationen mag nicht immer der gleiche sein, und dennoch führt er stets zu derselben kollektiven Erinnerung: dem Holocaust.
Für Danny Gutwein, Professor für Geschichte an der Universität Haifa, ist der Auslöser das allgegenwärtige Kopftuch. Das Bild der arabischen Frauen, die Köpfe in Tücher gewickelt, erinnert ihn an die jüdischen Mütter und Großmütter, die – mit ähnlichen Kopftüchern, aber einer anderen Religion – in einer Situation waren, die nahezu der jetzigen gleicht.
Jener Teil der Assoziationen jedoch, der sich grundlegend geändert hat, ist Deutschland. Damals noch der Täter im grausamsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit, ist Deutschland nun der Retter. Die Menschen, die es scharenweise nach Deutschland, dem neuen gelobten Land, zieht, stehen in einem empfindlichen Kontrast zu der Erinnerung an die Juden und anderer Minderheiten, die vor der Schreckensherrschaft des Zweiten Weltkrieges fliehen mussten. Bis zu einem gewissen Grad gelten solche Empfindungen sicherlich auch für Österreich, dem Geburtsland Hitlers, das nun zu einem sicheren Hafen für Flüchtlinge geworden ist.
Wie ein stechender Schmerz durchfährt es einen, wenn man Kanzlerin Angela Merkel sagen hört, die Grenzen Deutschlands seien nun offen für alle Flüchtlinge. Ebenso flammt ein Funken Neid auf, wenn man die Bilder der Österreicher betrachtet, die Flüchtlinge und ihre Kinder mit einem Lächeln und Naschwerk begrüßen. In Israel wird über diese Szenen weitreichend berichtet und viele Israelis betrachten das Geschehen mit Respekt. Doch zugleich fragen sich viele von ihnen: Wo wart ihr vor 75 Jahren?
Diese ureigene, menschliche Resonanz ist nur eine Seite des Zwiespalts, in dem sich viele Israelis befinden. Ein weiterer, nicht minder wichtiger Aspekt bleibt auf der moralischen Ebene zurück und fragt: Wenn Deutschland etwas tut, was sollte dann Israel unter diesen Umständen tun - eine Nation, die vor allem von Flüchtlingen aufgebaut wurde? Einige israelische Gruppen beteiligen sich aktiv an humanitären Hilfsprojekten für syrische Flüchtlinge. Offiziell hat Israel bereits 1.000 schwerverletzte Syrer in israelischen Krankenhäusern untergebracht. Als der Abgeordnete und Oppositionsführer Isaac Herzog jedoch anregte, dass Israel eine begrenzte Zahl an syrischen Flüchtlingen aufnehmen könne, erwiderte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu lediglich: „Israel ist zu klein und verfügt weder über die demografische, noch geografische Tiefe, um Flüchtlinge zu beherbergen“. Ein anderer Minister aus dem israelischen Kabinett schlug vor, Herzog möge doch einfach ein paar Flüchtlinge in seinem eigenen Zuhause aufnehmen. Herzog gab daraufhin zurück, sie (Netanyahu und die anderen) hätten vergessen, was es bedeutet, Jude zu sein. In dem gesamten Schlagabtausch fielen weder die Worte „Deutschland“ noch „Holocaust“. Und dennoch waren sie allgegenwärtig.
Die andere Seite, auf der sich diese beiden Kapitel der Geschichte treffen, ist die düstere Vision der Zukunft. Die meisten Israelis glauben, dass anfängliche Freundlichkeiten und das überschwängliche Willkommen schon bald von einer harschen Realpolitik abgelöst werden. Angst wird über die Menschenliebe triumphieren, die hohen Erwartungen werden dem Gefühl der Bedrohung weichen.
Schon jetzt sind erste Anzeichen dieser Wendung spürbar. Söhne und Töchter jüdischer Flüchtlinge, die vor nur ein paar Jahrzehnten zur Rückkehr in wackligen Booten gezwungen wurden, sind einfach stärker für diese Anzeichen sensibilisiert. Das macht sie sicherlich nicht besser als andere. „Man kann nicht erwarten, dass Juden anders fühlen oder anders handeln wegen ihrer Geschichte. Ihr Verhalten ist menschlich, so wie das aller anderen Menschen auch“, erklärt Professor Gutwein in einem Interview mit I24News. „Es liegt nicht in der Natur des Menschen, ein historisches Gewissen zu entwickeln.“
Er hat recht. Die Lektion, die aus der jüdischen Geschichte gelernt wurde, führt die Israelis nun in zwei entgegensetzte Richtungen. Die eine Seite sagt: „Wir, als Nation der Flüchtlinge, können nicht gleichgültig dabei zusehen, wenn sich eine neue Flüchtlings-Tragödie ereignet.“ Aus der anderen Richtung heißt es: „Wir als Flüchtlinge und Überlebende müssen uns selbst schützen, weil niemand anderes das für uns tun wird.“
Mit Deutschland als moralischem Kompass streben die Israelis nun in zwei verschiedene Richtungen. Nicht unbedingt besser, aber sicherlich erfahrener.
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Lily Galili ist einer der renommiertesten Journalistinnen in Israel. Sie arbeitete viele Jahre für die Zeitung Ha'aretz, war Nieman-Fellow in Harvard und ist heute Autorin für I24News. Schwerpunkt ihrer Reportagen sind die ethnischen Gruppen in Israel, Araber, Drusen und Russen. Sie hat ein vielbeachtetes Buch (Hebräisch) über die russische Immigranten geschrieben. Hier ein sehr interessantes Interview mit ihr auf NPR. Lily Galili, die in Tel Aviv lebt, engagiert sich auch privat für Flüchtlinge. Sie ist Mitglied des Syrian Aid Committee.