Politik

Sehnsucht nach Erneuerung verändert das politische Spanien

Die Spanier haben am Sonntag nicht nur ihr künftiges Parlament gewählt, sondern eine neue Ära eingeläutet. Nach vielen Jahrzehnten zerbricht in Madrid das morsche Zweiparteiensystem.
20.12.2015 23:15
Lesezeit: 2 min

Über die Wahlen in Spanien berichtet der Korrespondent der Deutschen Presseagentur, Emilio Rappold:

Selten stand die 72-jährige Freundschaft von María Pilar und Concepción so sehr auf dem Prüfstand wie dieser Tage. Schuld sind die Parlamentswahlen in Spanien und der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy. Wenige Meter vor der Wahlurne versucht María (85) an diesem sonnigen Sonntag im Madrider Bezirk Chamberí noch, ihre gleichaltrige Freundin umzustimmen. «Wie kannst nur für Rajoy stimmen? Du bist ja senil», schimpft sie. Concepción kontert kurz und entschieden: «Ach, lass mich in Ruhe!»

Die Diskussion der beiden langjährigen Freundinnen spiegelt die Gräben in der Gesellschaft und der Politik des Landes wider - genau wie die Wahlergebnisse vom Sonntag. Rajoys Volkspartei (PP) bleibt zwar stärkste Kraft, erleidet aber im Zuge von Krisen und Korruptionsaffären herbe Verluste. Das stabilitätsfördernde und zuletzt heftig kritisierte Zweiparteiensystem von PP und Sozialisten (PSOE) geht nach Jahrzehnten in die Brüche. Die «neue Ära», die die Zeitung «El País» am Sonntag auf Seite eins ankündigte, wird am späten Abend endgültig eingeläutet.

Nach der breitesten Stimmenstreuung der vergangenen Jahrzehnte herrschte in Spanien unter Analysten großes Rätselraten. Äußerst komplizierte Koalitionsverhandlungen zeichnen sich ab. Fest steht, dass zwei «neue» Parteien, die liberalen Ciudadanos (Bürger) und die linksgerichtete Podemos (Wir Können) des jungen Politikdozenten mit dem Pferdeschwanz, Pablo Iglesias (37), nach ihrem ersten Einzug ins Parlament gleich auf Augenhöhe mit PP und PSOE verhandeln können.

Die «Sehnsucht nach Erneuerung» der krisengebeutelten Spanier, wie die Zeitung «El Mundo» schrieb, setzte sich am Wahltag durch. «Ich wähle Podemos, auch wenn mein Vater sagt, dass ich so für das Chaos mitverantwortlich sein werde. So geht es einfach nicht weiter», sagte die 19-jährige Kunststudentin Ana kurz vor der Stimmabgabe.

In den schon vormittags sehr gut besuchten Wahllokalen in Madrid waren sowohl Aufbruchstimmung als auch Sorge zu spüren. Die Zeitung «El Mundo» hob das «Risiko der Unregierbarkeit» in der viertgrößten Volkswirtschaft der EU hervor, «La Vanguardia» sprach unterdessen von «Ungewissheit». Der frühere sozialistische Ministerpräsident Felipe González (1982-1996) sagte zuletzt mehrfach: «Unser Parlament wird in Zukunft «italienisch» sein, nur ohne Italiener.»

Die sogenannten «partidos emergentes», die aufstrebenden Parteien, wurden auch und vor allem von vielen jungen Erstwählern unter den gut 36 Millionen Stimmberechtigten unterstützt. Die Mehrzahl Podemos-Gründer und Anhänger der Partei kommen von der Bewegung der «Empörten». Aber nicht nur die Jungen, auch ältere Spanier erfinden ihr Land dieser Tage neu. Hinter den hellgrauen Vorhängen der Wahlkabinen sah man am Sonntag sehr viele Gehstöcke, sehr viele Rollstühle. «Viel mehr als früher», meinten Beobachter.

«Ich habe oft PP gewählt, aber man lernt ja nie aus. Ich will die Korrupten aus dem Moncloa-Palast (dem Regierungssitz) weg haben und wähle daher Podemos - und ich bin nicht die einzige meiner Generation», sagte María Pilar. Die Hoffnungen der forschen Rentnerin bekamen am Abend weiteren Auftrieb. Mehrere Kommentatoren sprachen von einem «Debakel» Rajoys. Der 60-Jährige wird weiterregieren wollen, aber mit welchen politischen Partnern?

Nach der konstituierenden Sitzung des neuen Congreso de los Diputados am 13. Januar haben die Abgeordneten 60 Tage Zeit, um den Regierungschef zu bestimmen. Andernfalls drohen Neuwahlen. Bei der Zusammenführung der zerstrittenen Parteien - eine «große Koalition» schlossen die Sozialisten kategorisch aus - könnte König Felipe VI. in den nächsten Tagen und Wochen eine wichtige Rolle zukommen.

Im Nachbarland Portugal löste jüngst eine relativ schwache linke Regierung in einer ähnlichen Situation die Konservativen ab. Anders als dort ist in Spanien immerhin der Staatshaushalt für 2016 bereits verabschiedet.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Finanzen
Finanzen Ölpreis: OPEC-Konflikt eskaliert – Saudi-Arabien warnt vor Marktchaos
11.05.2025

Ein gefährlicher Riss geht durch die mächtige Allianz der OPEC-Plus-Staaten. Statt mit geschlossener Strategie die Preise zu...

DWN
Politik
Politik Kann Deutschland Europa retten? Der neue Koalitionsvertrag offenbart alte Schwächen
11.05.2025

Zum Europatag 2025 richtet sich der Blick erneut nach Berlin. Die Erwartungen an Deutschland sind hoch – nicht nur innerhalb der Union,...

DWN
Finanzen
Finanzen Börsenkrisen: Warum Volatilität kein Risiko ist
11.05.2025

Wenn die Börsen Achterbahn fahren, zittern viele Anleger. Doch Panik ist oft der schlechteste Berater – denn was aussieht wie ein...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Strategien für Krisenzeiten: Wie Sie jetzt Ihre Unternehmensleistung steigern
11.05.2025

Steigende Kosten, Fachkräftemangel, Finanzierungsdruck – viele KMU kämpfen ums Überleben. Doch mit den richtigen Strategien lässt...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft USA vor Energieumbruch: Strom wird zum neuen Öl – und zur nächsten geopolitischen Baustelle
11.05.2025

Ein fundamentaler Wandel zeichnet sich in der US-Wirtschaft ab: Elektrizität verdrängt Öl als Rückgrat der nationalen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Bill Gates verschenkt Vermögen – Symbol einer neuen Weltordnung oder letzter Akt der alten Eliten?
11.05.2025

Bill Gates verschenkt sein Vermögen – ein historischer Akt der Großzügigkeit oder ein strategischer Schachzug globaler Machtpolitik?...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft „Made in America“ wird zur Hypothek: US-Marken in Europa auf dem Rückzug
11.05.2025

Eine neue Studie der Europäischen Zentralbank legt nahe: Der Handelskrieg zwischen den USA und der EU hat tiefgreifende Spuren im...

DWN
Finanzen
Finanzen Tech-Börsengänge unter Druck: Trumps Handelskrieg lässt Startup-Träume platzen
10.05.2025

Schockwellen aus Washington stürzen IPO-Pläne weltweit ins Chaos – Klarna, StubHub und andere Unternehmen treten den Rückzug an.